E3857/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Justiz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerde liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
1.1. Der Beschwerdeführer wurde am 30. Juni 2005 in die Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragen. Mit Dekret vom 23. September 2016 wurde er mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2017 zum Richter des Bundesverwaltungsgerichtes bestellt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2016 gab der Beschwerdeführer der Rechtsanwaltskammer Wien bekannt, dass er ab 1. Jänner 2017 zum Richter des Bundesverwaltungsgerichtes ernannt worden sei und seine Berechtigung zur Ausübung des Rechts der Rechtsanwaltschaft daher mit Jahresanfang ex lege ruhen werde. Die Rechtsanwaltskammer Wien verfügte die Aufnahme einer entsprechenden Anmerkung in die Liste der Rechtsanwälte und bestellte unter einem einen Stellvertreter. Am 6. Dezember 2016 teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit, dass die Aufrechterhaltung der Haftpflichtversicherung nicht notwendig sei. Mit Mandatsbescheid vom 17. Jänner 2017 wurden dem Beschwerdeführer die dort näher genannten Beiträge vorgeschrieben.
1.2. Die dagegen erhobene Vorstellung wurde mit dem nun angefochtenen Bescheid abgewiesen.
1.3. In der Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien wurde die Vorschreibung der Beträge dem Grunde nach bestritten. Die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt sei ruhend gestellt, weshalb keine Beiträge entrichtet werden müssten.
1.4. Am 4. Dezember 2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien statt, in dessen Anschluss die Entscheidung durch den Richter der Geschäftsabteilung 041 mündlich verkündet wurde. Die Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen und die ordentliche Revision für unzulässig erklärt. Mit Schreiben desselben Tages beantragte der Beschwerdeführer die Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs5 VwGVG.
1.5. Auf Grund der Pensionierung des Richters der Geschäftsabteilung 041 wurde der Akt mit Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Wien vom 2. Jänner 2023 der Geschäftsabteilung 034 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen.
1.6. Auf Grund der Pensionierung des Richters der Geschäftsstelle 034 wurde der Akt mit Verfügung der Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts Wien vom 1. August 2023 der Geschäftsabteilung 017 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen.
1.7. Seitens der Richterin der Geschäftsabteilung 017 wurde die Ausfertigung des bereits ergangenen Erkenntnisses mit Datum vom 25. Oktober 2023 vorgenommen. Begründend führte das Verwaltungsgericht Wien aus, das Ruhen der Berechtigung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft führe nicht zur Streichung aus der Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Wien. Die Leistung der Beiträge werde allen in die Liste der Rechtsanwälte eingetragenen Personen entsprechend der Satzung der Versorgungseinrichtung Teil A vorgeschrieben. Ebenso schreibe die Umlagenordnung 2017 Umlagen für jeden in die Liste der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragenen Rechtsanwalt vor. Ein Streichen von der Rechtsanwaltsliste müsste vom Beschwerdeführer beantragt werden. Weiters werde auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hingewiesen, wonach der Begriff der Eintragung in die Rechtsanwaltsliste mit dem Begriff Kammermitglied gleichgesetzt werde. Es stehe dem Beschwerdeführer offen, sich von der Rechtsanwaltsliste streichen zu lassen.
1.8. Auf Grund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer in dem für die Vorschreibung relevanten Zeitraum in die Rechtsanwaltsliste eingetragen und damit Kammermitglied gewesen sei, sei er zur Beitragsleistung verpflichtet. Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Beschwerdeführers gegen die zur Anwendung gelangenden generellen Normen würden vom Verwaltungsgericht Wien nicht geteilt.
1.9. Gegen dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, mit der mit näherer Begründung die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B VG, Art2 StGG) und auf Unverletzlichkeit des Eigentums (Art5 StGG) sowie die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses begehrt wird. Weiters regt der Beschwerdeführer die Einleitung eines Verordnungsprüfungsverfahrens und die Aufhebung näher bestimmter Regelungen der Satzung der Versorgungseinrichtung der Rechtsanwaltskammer Wien Teil A in der Fassung des Beschlusses der Plenarversammlung vom 27. November 2013, der Beitragsordnung 2017 und der Umlageordnung 2017 an.
2. Die Rechtsanwaltskammer Wien hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der den Bedenken gegen die genannten generellen Normen entgegengetreten wird.
3. Das Verwaltungsgericht Wien hat die Gerichtsakten vorgelegt, jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:
1.1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998, 16.488/2002 und 20.299/2018) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Ein willkürliches Verhalten kann dem Verwaltungsgericht unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn es den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn die angefochtene Entscheidung wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001 und 19.518/2011).
2. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist dem Verwaltungsgericht Wien ein willkürliches Vorgehen anzulasten:
2.1. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist bezüglich der Erlassung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Zustellung einer Entscheidung ihre mündliche Verkündung gleichzuhalten (vgl VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082; siehe auch VfSlg 19.965/2015, 20.451/2021). Mit der mündlichen Verkündung wird die Entscheidung unabhängig von der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung (§29 Abs4 VwGVG) rechtlich existent (VwGH 27.6.2016, Ra 2016/11/0059; 14.9.2016, Fr 2016/18/0015; 4.4.2017, Ra 2017/02/0050), wenn sowohl der Inhalt einer Entscheidung als auch die Tatsache ihrer Verkündung in der Niederschrift festgehalten werden (VwGH 13.10.2015, Fr 2015/03/0007; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082). Bereits an die Verkündung einer Entscheidung knüpfen sich daher deren Rechtswirkungen (vgl VfSlg 20.451/2021; VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558). Aus diesem Grund kann die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung mit Beschwerde gemäß Art144 B VG angefochten werden, sofern mindestens ein hiezu Berechtigter einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs4 VwGVG gestellt hat (§82 Abs3b letzter Satz VfGG; siehe VfSlg 20.451/2021; VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082).
2.2. Unabhängig von der Möglichkeit, die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung anzufechten, ist der Rechtsschutzsuchende in der Regel auf die – nähere und ausführliche – Begründung der Entscheidung in der schriftlichen Ausfertigung gemäß §29 Abs4 VwGVG angewiesen, um die Entscheidung auf Grund der maßgebenden Erwägungen gegebenenfalls mit einer Beschwerde gemäß Art144 B VG bekämpfen zu können. Aus der rechtsstaatlich gebotenen Pflicht zur Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen folgt daher im Zusammenhang mit der Regelungssystematik des §29 VwGVG auch die Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden effektiver Rechtsschutz verwehrt sein könnte (zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes siehe zB VfSlg 11.196/1986, 15.218/1998, 17.340/2004, 20.107/2016), was rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung gerichtlicher Entscheidungen widerspricht (VfSlg 20.451/2021; VfGH 23.6.2021, E720/2021; 29.6.2022, E1641/2022; 22.9.2021, E2443/2021; 28.11.2022, E2588/2022, zuletzt VfGH 9.3.2023, E3309/2022).
2.3. Die schriftliche Ausfertigung der am 4. Dezember 2019 mündlich verkündeten Entscheidung erfolgte vorliegend am 25. Oktober 2023 und somit mehr als drei Jahre und 10 Monate nach der mündlichen Verkündung. Eine derart lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung, für die im Beschwerdeverfahren auch keine besonderen Umstände hervorgekommen sind, welche diese Verzögerung rechtfertigen könnten, widerspricht jedenfalls der Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung und somit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen (VfSlg 20.451/2021; VfGH 23.6.2021, E720/2021; 29.6.2022, E1641/2022; zuletzt VfGH 28.11.2022, E2588/2022). Dadurch hat das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.
2.4. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob der Beschwerdeführer durch das Erkenntnis auch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden ist (VfGH 28.11.2022, E2588/2022).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.