JudikaturVfGH

E2745/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
26. November 2024
Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren mangels ordnungsgemäßer Ladung des Beschwerdeführers zur mündlichen Verhandlung vor dem LVwG Wien

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer wurde am 30. Juni 2005 in die Liste der Rechtsanwälte der Rechtsanwaltskammer Wien (im Folgenden: "RAK Wien") eingetragen. Mit Dekret vom 23. September 2016 wurde er mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2017 zum Richter des Bundesverwaltungsgerichtes bestellt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2016 gab der Beschwerdeführer der RAK Wien bekannt, dass er ab 1. Jänner 2017 zum Richter des Bundesverwaltungsgerichtes ernannt worden sei und seine Berechtigung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft daher mit Jahresanfang ex lege ruhen werde. Die RAK Wien verfügte die Aufnahme einer entsprechenden Anmerkung in die Liste der Rechtsanwälte und bestellte unter einem einen Stellvertreter. Am 6. Dezember 2016 teilte die RAK Wien dem Beschwerdeführer mit, dass die Aufrechterhaltung der Haftpflichtversicherung nicht notwendig sei. Mit Mandatsbescheid vom 17. Jänner 2017 wurden dem Beschwerdeführer Umlagen zur Versorgungseinrichtung Teil A und Kammerbeiträge in näher bezeichneter Höhe vorgeschrieben.

Die dagegen erhobene Vorstellung wurde mit Bescheid vom 16. Jänner 2018 abgewiesen.

In der Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien wurde die Vorschreibung der Beträge dem Grunde nach bestritten. Die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt sei ruhend gestellt, weshalb keine Beiträge entrichtet werden müssten.

Am 4. Dezember 2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien statt, in dessen Anschluss die Entscheidung durch den Richter der Geschäftsabteilung 041 mündlich verkündet wurde. Die Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen. Mit Schreiben desselben Tages beantragte der Beschwerdeführer die Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs5 VwGVG.

Auf Grund der Pensionierung des Richters der Geschäftsabteilung 041 wurde der Akt mit Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Wien vom 2. Jänner 2023 der Geschäftsabteilung 034 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen.

Auf Grund der Pensionierung des zuständigen Richters der Geschäftsstelle 034 wurde der Akt mit Verfügung der Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichtes Wien vom 1. August 2023 der Geschäftsabteilung 017 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen.

Seitens der Richterin der Geschäftsabteilung 017 wurde die Ausfertigung des bereits ergangenen Erkenntnisses mit Datum vom 25. Oktober 2023 vorgenommen.

Gegen dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien erhob der Beschwerdeführer eine auf Art144 B VG gestützte Beschwerde. Der Verfassungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom 26. Februar 2024, E3857/2023, die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz auf, weil die schriftliche Ausfertigung der am 4. Dezember 2019 mündlich verkündeten Entscheidung am 25. Oktober 2023 und somit mehr als drei Jahre und zehn Monate nach der mündlichen Verkündung erfolgte.

Im zweiten Rechtsgang beraumte das Verwaltungsgericht Wien eine mündliche Verhandlung für den 7. Mai 2024 an. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgte laut Gerichtsakt an den Beschwerdeführer "z.H.: Herrn RA Dr. A". Der Beschwerdeführer war vor dem Verwaltungsgericht Wien sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtsgang nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten. Im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof war der Beschwerdeführer durch Rechtsanwalt Dr. A vertreten. Aus dem sich im Gerichtsakt des Verwaltungsgerichtes Wien befindlichen Zustellnachweis der Ladung zur mündlichen Verhandlung geht hervor, dass diese von Dr.A nicht behoben wurde.

Die mündliche Verhandlung fand am 7. Mai 2024 statt. Im Verhandlungsprotokoll wurde durch das Verwaltungsgericht Wien vermerkt, dass der Beschwerdeführer und Dr. A unentschuldigt nicht erschienen seien.

Mit Erkenntnis vom 29. Mai 2024 wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde als unbegründet ab. Begründend führt das Verwaltungsgericht Wien im Wesentlichen aus, das Ruhen der Berechtigung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft führe nicht zur Streichung aus der Liste der Rechtsanwälte der RAK Wien. Die Leistung der Beiträge werde allen in die Liste der Rechtsanwälte eingetragenen Personen entsprechend der Satzung der Versorgungseinrichtung Teil A vorgeschrieben. Ebenso schreibe die Umlagenordnung 2016 Umlagen für jeden in die Liste der RAK Wien eingetragenen Rechtsanwalt vor. Ein Streichen von der Rechtsanwaltsliste müsse vom Beschwerdeführer beantragt werden. Weiters werde auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hingewiesen, wonach der Begriff der Eintragung in die Rechtsanwaltsliste mit dem Begriff Kammermitglied gleichgesetzt werde. Es stehe dem Beschwerdeführer offen, sich von der Rechtsanwaltsliste streichen zu lassen. Auf Grund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer in dem für die Vorschreibung relevanten Zeitraum in die Rechtsanwaltsliste eingetragen und damit Kammermitglied gewesen sei, sei er zur Beitragsleistung verpflichtet.

Das Erkenntnis vom 29. Mai 2024 wurde Rechtsanwalt Dr. A sowie dem Ausschuss der RAK Wien am 6. Juni 2024 zugestellt. Rechtsanwalt Dr. A hat dem Beschwerdeführer – dessen eigenen Angaben zufolge – die Entscheidung per Mail am 6. Juni 2024 weitergeleitet, welcher die Entscheidung am 7. Juni 2024 in seinem E Mail-Postfach vorgefunden hat. Am 4. Juli 2024 nahm der Beschwerdeführer am Verwaltungsgericht Wien Einsicht in den Gerichtsakt. Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 29. Mai 2024 wurde dem Beschwerdeführer am 18. Juli 2024 per Post zugestellt.

2. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung bzw eines verfassungswidrigen Gesetzes geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Begründend wird ua ausgeführt, dass das Verwaltungsgericht Wien für den 7. Mai 2024 eine mündliche Verhandlung anberaumt habe, der Beschwerdeführer dazu allerdings nicht geladen worden sei, weil die Ladung dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, von dem der Beschwerdeführer allerdings vor dem Verwaltungsgericht Wien nicht vertreten worden sei, zugestellt worden sei. Das Schreiben habe vom Rechtsanwalt sowie vom Kanzleipersonal nicht übernommen werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Kenntnis von der mündlichen Verhandlung erlangt. Eine mündliche Verhandlung habe trotz fehlender Ladung stattgefunden.

Das Verwaltungsgericht Wien und die RAK Wien haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt. Das Verwaltungsgericht Wien hat von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen, die RAK Wien hat eine Gegenschrift erstattet, in der ua beantragt wird, mit näherer Begründung die Beschwerde zurück- bzw abzuweisen.

Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit:

Gemäß §82 Abs1 VfGG beträgt die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gemäß Art144 B VG gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes sechs Wochen. Sie beginnt mit dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses.

Wie sich aus dem Verwaltungsakt ergibt, wurde dem Beschwerdeführer die Entscheidung vom Verwaltungsgericht Wien am 18. Juli 2024 postalisch zugestellt. Der Beschwerdeführer hat die Beschwerde gemäß Art144 B VG am 18. Juli 2024 beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Die Beschwerde ist daher rechtzeitig. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2. In der Sache:

Der Beschwerdeführer behauptet ua eine Verletzung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK, weil er nicht ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden sei und daher nicht daran teilnehmen habe können.

Gemäß Art6 Abs1 erster Satz EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat, so nicht besondere Umstände vorliegen, die ein Absehen von einer solchen Verhandlung erlauben (vgl zur strafrechtlichen Anklage zB VfSlg 16.624/2002, 16.790/2003, 18.289/2007, 18.721/2009; VfGH 24.11.2017, E716/2017). Die mündliche Verhandlung dient der Erörterung aller wesentlichen Streitfragen bzw des Prozessstoffes unter Anhörung aller Parteien als Entscheidungsgrundlage. Zudem erfüllt sie insbesondere den Unmittelbarkeitsgrundsatz ( Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, 479; Grabenwarter, Art6 EMRK , in: Korinek/Holoubek et al [Hrsg], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 8. Lfg. 2007, Rz 127).

Im Verwaltungsverfahren über "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" liegt eine Verletzung der durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantien dann vor, wenn ein Verwaltungsgericht eine Entscheidung fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, sofern keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und – ihm folgend – des Verfassungsgerichtshofes kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn die Tatfrage unumstritten und nur eine Rechtsfrage zu entscheiden ist oder wenn die Sache keine besondere Komplexität aufweist (vgl VfSlg 18.994/2010, 19.632/2012).

Dem vorliegenden Fall liegt die Vorschreibung einer Umlage für die Versorgungseinrichtung Teil A sowie eines Kammerbeitrages zugrunde. Dadurch können privatrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen des Beschwerdeführers berührt werden, weshalb Art6 Abs1 EMRK auf das hier zu beurteilende Verfahren anzuwenden ist (vgl zB EGMR, 29.5.1986, 8562/79, Feldbrugge , Z32 ff.; 29.5.1986, 9384/81, Deumeland , Z65 ff.; 26.2.1993, 13.023/87, Salesi , Z19 ff.; 24.6.1993, 14.518/89, Schuler-Zgraggen , Z46, mwN; VfSlg 14.210/1995; VfGH 20.2.2015, B1534/2013; Grabenwarter, Art6 EMRK , in: Korinek/Holoubek et al [Hrsg], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 8. Lfg. 2007, Rz 10, 33, mwN; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention 7 , 2021, 501).

Im Verfahren im ersten Rechtsgang fand am 4. Dezember 2019 eine mündliche Verhandlung statt. Im Anschluss wurde die Entscheidung durch den Richter der Geschäftsabteilung 041 mündlich verkündet. Auf Grund der Pensionierung des Richters der Geschäftsabteilung 041 wurde der Akt mit Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Wien vom 2. Jänner 2023 der Geschäftsabteilung 034 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen. Auf Grund der Pensionierung des Richters der Geschäftsstelle 034 wurde der Akt mit Verfügung der Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichtes Wien vom 1. August 2023 der Geschäftsabteilung 017 zur Erstellung der Ausfertigung zugewiesen. Seitens der Richterin der Geschäftsabteilung 017 wurde die Ausfertigung des bereits ergangenen Erkenntnisses mit Datum vom 25. Oktober 2023 vorgenommen. Eine mündliche Verhandlung wurde von der Richterin der Geschäftsabteilung 017 im ersten Rechtsgang nicht durchgeführt.

Nachdem der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 26. Februar 2024, E3857/2023, die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien aufgehoben hatte, hat das Verwaltungsgericht Wien im zweiten Rechtsgang eine mündliche Verhandlung für den 7. Mai 2024 anberaumt.

Aus dem Gerichtsakt ergibt sich, dass die Ladung zur mündlichen Verhandlung an den rechtlichen Vertreter des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof adressiert war und von diesem nicht behoben wurde. Da der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Wien stets unvertreten war, wurde er nicht ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen.

Das Verwaltungsgericht Wien hat in der Folge dennoch eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der der Beschwerdeführer mangels ordnungsgemäßer Ladung nicht teilnehmen konnte. Dadurch hat es den Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt.

Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Rückverweise