JudikaturVfGH

E2372/2021 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
07. Oktober 2021

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein irakischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Araber angehört und sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben bekennt. Er wurde im Jahr 2000 in Bagdad geboren und zog im Jahr 2007 auf Grund ethnischer Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten mit seiner Familie in die Provinz Diyala, Bezirk Al Meqdadieh Shahraban, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Am 12. Februar 2016 stellte der zu diesem Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte vor, dass er und seine Familie den Irak wegen der schiitischen Milizen, die sie bedroht hätten, verlassen hätten.

2. Mit Bescheid vom 9. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 12. Mai 2021 als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten hält das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der ua die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, dass das Bundesverwaltungsgericht den geschilderten Angriff durch schiitische Milizen zwar festgestellt, dessen Asylrelevanz aber verkannt habe. Das vorgebrachte Bedrohungsszenario decke sich vielmehr mit den einschlägigen Länderberichten, aus denen hervorgehe, dass gerade sunnitischen Arabern aus ehemaligen IS-Gebieten (wie zB Diyala, der Herkunftsregion des Beschwerdeführers) eine Verbindung zum IS unterstellt würde und diese aus diesem Grund verfolgt würden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Nach den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vom Mai 2019 (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen) besteht für "Personen, die fälschlicherweise verdächtigt werden, ISIS zu unterstützen", ein besonderes Risikoprofil. Dazu zählen "Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren", sowie "Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind" (UNHCR-Erwägungen, S 69 ff.). Die Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren, werden "kollektiv verdächtigt, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen" (UNHCR-Erwägungen, S 69). Für diese besteht das Risiko willkürlicher Festnahme, erzwungenen Verschwindens, von Folter und anderen Formen der Misshandlung, außergerichtlicher Hinrichtungen und unfairer Gerichtsverhandlungen, die zu Todesurteilen führen können. Mit solchen Personen verbundene Familienangehörige sind auf Grund ihrer Verwandtschafts- oder Stammesbeziehungen unterschiedlichen Menschenrechtsverletzungen und -missbräuchen durch lokale Behörden, die ISF und damit verbundene Kräfte, lokale Milizen sowie Mitglieder der Stämme und Gemeinschaften, denen diese Familien angehören, ausgesetzt (UNHCR-Erwägungen, S 72).

Angehörige dieser beiden Personengruppen benötigen nach Auffassung von UNHCR "wahrscheinlich" internationalen Flüchtlingsschutz (UNHCR-Erwägungen, S 77), was auf Grund der besonderen Umstände des jeweiligen Falles individuell geprüft werden muss (siehe zur ähnlichen Berichtslage auch die EASO-Country Guidance: Iraq vom Jänner 2021, S 64 ff.).

Hat der Beschwerdeführer ein substantiiertes Vorbringen erstattet, dass er auf Grund dieses besonderen Risikoprofils individuell bei Rückkehr der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sein werde (und nicht bloß auf die Zugehörigkeit zur Personengruppe mit diesem Risikoprofil entsprechend der UNHCR-Erwägungen verwiesen, also auf allgemeine Behauptungen einer Verfolgungssituation, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar ist, vgl VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314 mwN; 21.12.2020, Ra 2020/14/0445), dann hat das Bundesverwaltungsgericht eine Prüfung der besonderen Umstände des Falles durchzuführen, sich also mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in Bezug auf das dargestellte besondere Risikoprofil auseinanderzusetzen.

2.2. Der Beschwerdeführer begründet seinen Antrag auf internationalen Schutz damit, dass er mit seiner Familie den Irak, konkret seine Herkunftsregion Diyala, im Jahr 2015 verlassen habe, weil schiitische Milizen seine Familie und ihn anlässlich eines näher geschilderten Vorfalles beschuldigt hätten, während der zu diesem Zeitpunkt gegen den IS stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen für den IS gekämpft zu haben. Die Milizen hätten sie aufgefordert, sich ihnen im Kampf gegen den IS anzuschließen, andernfalls würden sie den Beschwerdeführer und seine Familie töten.

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt explizit wegen seines Religionsbekenntnisses oder aus politischen Gründen von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung verfolgt worden sei. Er habe nicht glaubhaft machen können, dass er von einer schiitischen Miliz wegen seines Glaubens oder aus anderen Konventionsgründen bedroht worden sei. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die Milizen auf Grund der stattfindenden Kampfhandlungen kaum Zeit gehabt hätten, sich mit der Familie zu befassen, sei ersichtlich, dass eine zielgerichtete Bedrohung des Beschwerdeführers oder seiner Familie zu keiner Zeit erfolgt sei und auch nicht geplant gewesen sein könne. Vielmehr sei die Aufforderung zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Dezember 2015 den zum damaligen Zeitpunkt zwischen dem IS, Milizen und auch irakischen Einheiten stattfindenden Kämpfen geschuldet gewesen.

2.4. Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten also davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geschilderte Bedrohung den damaligen Kämpfen zwischen dem IS, Milizen und irakischen Einheiten geschuldet gewesen sei, sich aber nicht gegen den Beschwerdeführer und seine Familie direkt gerichtet hätte. Es verneint damit eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers, ohne zu berücksichtigen, dass nach den UNHCR-Erwägungen für den aus einem ehemals vom IS besetzten Gebiet stammenden Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter ein besonderes Risikoprofil besteht. Damit unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht auch, sich mit der individuellen Bedrohung, die der Beschwerdeführer ausführlich als Fluchtgrund vorgebracht hat, im Lichte dieses besonderen Risikoprofils des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen (vgl VfGH 8.6.2021, E149/2021 ua). Eine vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Würdigung sonstiger Umstände vermag dabei die Auseinandersetzung in Bezug auf das Risikoprofil nicht zu ersetzen.

Indem das Bundesverwaltungsgericht den Umstand unberücksichtigt lässt, dass der Beschwerdeführer dem in den Länderinformationen beschriebenen besonderen Risikoprofil entspricht und ein substantiiertes Vorbringen erstattet hat, deswegen von schiitischen Milizen bedroht worden zu sein und damit bei einer Rückkehr wiederum der Verfolgung ausgesetzt zu sein, hat es die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und daher sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 6.10.2020, E1728/2020).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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