G9/2017 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Antrag wird in Ansehung der §§14 und 258 Abs2 StPO zurückgewiesen.
II. Hinsichtlich des §84 Abs1 StGB wird die Behandlung des Antrages abgelehnt.
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, die Wortfolge "nach freier Überzeugung" in §14 Strafprozeßordnung 1975 (StPO), das Wort "freien" (in eventu die Wortfolge ", sondern nur nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung") in §258 Abs2 StPO und die Wortfolge "oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer" in §84 Abs1 Strafgesetzbuch (StGB), als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die maßgeblichen Bestimmungen der StPO und des StGB lauten (das angefochtene Wort bzw. die jeweils angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):
1. Der im 1. Teil ("Allgemeines und Grundsätze des Verfahrens"), 1. Hauptstück ("Das Strafverfahren und seine Grundsätze") enthaltene §14 StPO, BGBl 631/1975 idF BGBl I 19/2004, lautet:
"Freie Beweiswürdigung
§14. Ob Tatsachen als erwiesen festzustellen sind, hat das Gericht auf Grund der Beweise nach freier Überzeugung zu entscheiden; im Zweifel stets zu Gunsten des Angeklagten oder sonst in seinen Rechten Betroffenen."
2. Im (mit "Haupt- und Rechtsmittelverfahren" überschriebenen) 4. Teil, 14. Hauptstück ("Hauptverhandlung vor dem Landesgericht als Schöffengericht und Rechtsmittel gegen dessen Urteile") findet sich unter 7. ("Urteil des Gerichtshofes") §258 StPO, BGBl 631/1975 idF BGBl I 93/2007:
"§258. (1) Das Gericht hat bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Aktenstücke können nur insoweit als Beweismittel dienen, als sie bei der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§252 Abs2a) worden sind.
(2) Das Gericht hat die Beweismittel auf ihre Glaubwürdigkeit und Beweiskraft sowohl einzeln als auch in ihrem inneren Zusammenhange sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen. Über die Frage, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen sei, entscheiden die Richter nicht nach gesetzlichen Beweisregeln, sondern nur nach ihrer freien , aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Überzeugung.
(3) Bei der Beurteilung der Aussage eines Zeugen, dem nach §162 gestattet worden ist, bestimmte Fragen nicht zu beantworten, ist insbesondere zu prüfen, ob dem Gericht und den Beteiligten ausreichend Gelegenheit geboten war, sich mit der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Beweiskraft seiner Aussage auseinanderzusetzen."
3. Die zum Tatzeitpunkt (10. Oktober 2014) in Geltung gestandenen, im Ersten Abschnitt ("Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben") des Besonderen Teils enthaltenen §§84 StGB, BGBl 60/1974 idF BGBl 605/1987, und 87 StGB, BGBl 60/1974, lauteten:
"Schwere Körperverletzung
§84. (1) Hat die Tat eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit zur Folge oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer , so ist der Täter mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(2) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn die Tat begangen worden ist
1. mit einem solchen Mittel und auf solche Weise, womit in der Regel Lebensgefahr verbunden ist,
2. von mindestens drei Personen in verabredeter Verbindung,
3. unter Zufügung besonderer Qualen oder
4. an einem Beamten, Zeugen oder Sachverständigen während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten.
(3) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn er mindestens drei selbständige Taten ohne begreiflichen Anlaß und unter Anwendung erheblicher Gewalt begangen hat."
"
Absichtliche schwere Körperverletzung
§87. (1) Wer einem anderen eine schwere Körperverletzung (§84 Abs1) absichtlich zufügt, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
(2) Zieht die Tat eine schwere Dauerfolge (§85) nach sich, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, hat die Tat den Tod des Geschädigten zur Folge, mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu zehn Jahren zu bestrafen."
III. Sachverhalt und Antragsvorbringen
1. Der Antragsteller wurde mit Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Einzelrichter vom 10. Juni 2016, Z 58 Hv 2/16i, wegen des in mehrfachen Angriffen begangenen Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach §87 Abs1 StGB idF vor BGBl I 112/2015 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
2. Nach Anmeldung der Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe brachte der Antragsteller deren schriftliche Ausfertigung am 12. Jänner 2017 innerhalb der vom Gericht gemäß §489 Abs1 zweiter Satz StPO iVm §285 Abs2 StPO um acht Wochen verlängerten Frist ein. Mit Schriftsatz vom selben Tag stellte er den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd. B VG gestützten Antrag.
3. Im Anschluss an Kritik am Vorgehen des Einzelrichters bei Stoffsammlung bzw. Abweisung in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge legt der Antragsteller seine Bedenken, die ihn zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar (ohne die Hervorhebungen im Original):
"4.1 Verfassungswidriger Grundsatz der freien Beweiswürdigung
[…]
Nach ständiger Rechtsprechung der Strafgerichte können Richter nach freier Beweiswürdigung entscheiden. […]
Tatsächlich wäre vor allem bei Haftverhängung zu verlangen, dass im Rahmen des amtswegig zu führenden Strafprozesses alle Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen sind und erst nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten der unbestreitbar manchmal unvermeidliche Restzweifel zur Anwendung kommen soll – zugunsten des Angeklagten.
Die freie Beweiswürdigung als schrankenlose richterliche Entscheidungsbefugnis ist unvereinbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren und mit der Unschuldsvermutung ebenso wie mit dem Sachlichkeitsgebot und dem Willkürverbot.
Erschwerend hinzu kommt die immer noch weiter und weiter ausufernde mit der Waffengleichheit vollkommen unvereinbare Rechtsprechung zum Erkundungsbeweis, die der weit überwiegenden Mehrzahl der Beweisanträge jeder Verteidigung in der Hauptverhandlung entgegengehalten wird.
Dieses Problem der ausufernden Rechtsprechung zum Erkundungsbeweis hat eine zutiefst strukturelle Ursache. Die Staatsanwaltschaft kann jedem noch so aussichtslosen Beweisversuch im Ermittlungsverfahren nachgehen, ohne dass die Verteidigung dagegen eine Einspruchsmöglichkeit hat. […]
Die Staatsanwaltschaft kann also jeden noch so scheinbar sinnlosen Beweisversuch im Ermittlungsverfahren durchführen, ohne dass die Verteidigung etwas dagegen unternehmen könnte. Der Antragsteller verwendet bewusst das Wort scheinbar, weil viele aussichtslos scheinende Beweise der Verteidigung ebenfalls oft unerwartete Ergebnisse bringen würden.
Meistens bekommt die Verteidigung den Strafantrag auch erst gleichzeitig mit der Einladung zur Hauptverhandlung zugestellt, und Beweise der Verteidigung werden vor der Verhandlung prinzipiell nicht eingeholt, mit dem Verweis auf die Möglichkeit der Antragstellung in der mündlichen Hauptverhandlung. Bei der Hauptverhandlung fährt der Zug aber bereits, und ein Einsteigen ist nicht mehr möglich, ohne dass der Zug wieder stehen bleibt, sprich die Verhandlung vertagt wird. Es ist aber nicht charakteristisch für Züge, dass der Lokführer sie gerne auf offener Strecke anhält.
[…]
Selbstverständlich verlangt auch der Antragsteller nicht feste Beweisregeln, wie 'Zweier Zeugen Mund, tun die Wahrheit kund' oder ähnlichen groben Unfug. Das ist aber auch keineswegs die einzige Alternative zur sogenannten 'freien Beweiswürdigung'.
Was bei der Verhängung von vieljähriger Haft über unbescholtene Bürger aber Mindeststandard sein müsste, ist die Ausschöpfung aller denkbaren Erkenntnisquellen, also die gewissenhafte Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel, wie es §258 Abs2 StPO ohnehin bereits hinreichend definieren würde.
Wenn sich beide Bestimmungen ohne die inkriminierten Wortfolgen perfekt lesen lassen, also komplett vollständig sind, und wenn beide Paragraphen im Fall ihrer Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof keinerlei gesetzgeberischer Korrekturen bedürften, dann stellt sich zwingend die berechtigte Frage, was die inkriminierten Wortfolgen überhaupt sollen, wozu sie überhaupt im Gesetz stehen.
Da sie keinen Mehrwert in Richtung Verpflichtung des Gerichts zum genaueren Umgang mit der Rechtsposition der Verteidigung beinhalten, kann ihre vom Gesetzgeber intendierte Wirkung nur die gegenteilige sein. Die 'freie Beweiswürdigung' stellt demnach eine vom Gesetzgeber dem Gericht gewährte Einschränkung der Verpflichtung zur Beweiserhebung dar, die aus der Sicht einer fairen Verteidigung offenkundig willkürlich ist und durch nichts gerechtfertigt werden kann.
Dass die freie Beweiswürdigung vor einigen Jahrhunderten einen Fortschritt gegenüber den festen Beweisregeln gebracht hat, entbindet den Gesetzgeber der Jetztzeit nicht von der Verpflichtung, von diesem spätmittelalterlichen Rechtsfortschritt endlich weiterzugehen.
Mit anderen Worten stellen die inkriminierten Wortfolgen in Wahrheit Einschränkungen der gerichtlichen Sorgfaltspflicht dar und sind deshalb verfassungsrechtlich unhaltbar.
[…]
4.2 Unklare Strafnorm im §84 StGB
Obwohl die Stichopfer nach drei Tagen wieder aus der Behandlung entlassen werden konnten und beide Verletzungen folgenlos verheilt sind, soll die Verletzung an sich schwer sein.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs muss eine gesetzliche Bestimmung umso präziser sein, je maßgeblicher sie ein Grundrecht betrifft und je regelmäßiger sie von entscheidender Bedeutung für das Verfahren ist. […]
Je klassischer 'eingriffsnahe' eine Bestimmung ist, umso präziser müsste sie formuliert sein.
Bei einem Tatbestand, der zu einer dreijährigen Haftverhängung führen kann, und dies durch einen Einzelrichter und in freier Beweiswürdigung, müssten Tatbestände besonders exakt umschrieben sein.
Für die Wortfolge 'oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer' trifft dies offenkundig nicht zu.
[…]
Es müsste einen Katalog im Gesetz geben, der definiert, was 'an sich schwer' ist. Einen solchen Katalog (dort an Untauglichkeitsgründen) gibt es beispielsweise seit Jahrzehnten bei der Musterung."
IV. Erwägungen
1. Hinsichtlich der §§14 und 258 Abs2 StPO ist der Antrag unzulässig.
1.1. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Dabei hat der Antrag den Vorgaben der §§15, 62 und 62a Abs3 und 4 VfGG zu entsprechen.
1.2. Gemäß §62 Abs1 Satz 2 VfGG hat der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, die gegen das Gesetz sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, mithin dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Rechtsvorschrift die zur Aufhebung beantragte Norm in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl. zB VfSlg 14.802/1997, 17.752/2006; spezifisch zum Parteiantrag VfGH 2.7.2015, G16/2015; 2.7.2015, G145/2015; 18.2.2016, G642/2015). Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und – gleichsam stellvertretend – das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (VfSlg 17.099/2003, 17.102/2003, 19.825/2013, 19.832/2013, 19.870/2014, 19.938/2014).
1.3. Diesem Erfordernis entspricht der vorliegende Antrag nicht:
1.3.1. Der Antragsteller behauptet, dass "die freie Beweiswürdigung als schrankenlose richterliche Entscheidungsbefugnis" in Kombination mit der Rechtsprechung zum Erkundungsbeweis mit dem Recht auf ein faires Verfahren und mit der Unschuldsvermutung unvereinbar sei und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ohne Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten dem Fairnessgebot widerspreche.
1.3.2. Insoweit verabsäumt es der Antragsteller aber, im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen das (von ihm zudem fehlinterpretierte) Prinzip der freien Beweiswürdigung (demzufolge die richterliche Überzeugungsbildung ohne feste Beweisregeln auf Grundlage aller für und wider den Angeklagten sprechenden Beweismittel zu erfolgen hat) gegen das Recht auf ein faires Verfahren und gegen die Unschuldsvermutung verstoße (vgl. VfGH 23.2.2017, G274/2016).
1.4. Im Fehlen einer geeigneten Darlegung iSd §62 Abs1 zweiter Satz VfGG liegt kein behebbares Formgebrechen, sondern ein Prozesshindernis (vgl. VfSlg 15.342/1998 mwN).
2. Zu §84 Abs1 StGB
2.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung eines Antrages gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG ablehnen, wenn er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art140 Abs1b B VG; vgl. VfGH 24.2.2015, G13/2015).
2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.3. Vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Bestimmtheitsgebot (vgl. zu Strafvorschriften zB VfGH 22.2.2016, G531/2015, mwN) lässt das Vorbringen des Antrages die behaupteten Verfassungswidrigkeiten als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass es keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Wortfolge "oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer" in §84 Abs1 StGB idF BGBl 605/1987 ist mit den herkömmlichen Interpretationsmethoden einer Auslegung zugänglich (vgl. zB die in Burgstaller/Fabrizy , WK-StGB 2 , 2016, §84 Rz 18 ff., wiedergegebene Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes) und daher hinreichend determiniert.
V. Ergebnis
1. In Ansehung der §§14, 258 Abs2 StPO ist der vorliegende, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützte Antrag als unzulässig zurückzuweisen.
Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
2. Hinsichtlich des §84 Abs1 StGB wurde – ohne das Vorliegen sämtlicher Prozessvoraussetzungen geprüft zu haben – beschlossen, von einer Behandlung des Antrages abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).