G132/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, der Verfassungsgerichtshof möge §35c Staatsanwaltschaftsgesetz (im Folgenden: StAG) als verfassungswidrig aufheben.
II. Rechtslage
1. Das Bundesgesetz vom 5. März 1986 über die staatsanwaltschaftlichen Behörden (Staatsanwaltschaftsgesetz – StAG), BGBl 164/1986, idF BGBl I 71/2014 lautet auszugsweise (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):
" Abschnitt VI
Geschäftsgang der Staatsanwaltschaften
[…]
Absehen von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
§35c. Die Staatsanwaltschaft hat von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen, sofern kein Anfangsverdacht (§1 Abs3 StPO) besteht. Davon ist der Anzeiger zu verständigen, wobei er darauf hinzuweisen ist, dass ein Antrag auf Fortführung gemäß §195 StPO nicht zusteht. Die Bestimmungen des §5 Abs4 und 5 sowie §§8 f und §§25 bis 27 StPO gelten sinngemäß. "
2. Die Strafprozeßordnung 1975 (StPO), BGBl 631/1975, idF BGBl I 223/2022 lautet auszugsweise:
" 1. Hauptstück
Das Strafverfahren und seine Grundsätze
Das Strafverfahren
§1. […]
(2) Das Strafverfahren beginnt, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts (Abs3) nach den Bestimmungen des 2. Teils dieses Bundesgesetzes ermitteln; […]
(3) Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn auf Grund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen worden ist.
Amtswegigkeit
§2. (1) Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft sind im Rahmen ihrer Aufgaben verpflichtet, jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Anfangsverdacht einer Straftat, die nicht bloß auf Verlangen einer hiezu berechtigten Person zu verfolgen ist, in einem Ermittlungsverfahren von Amts wegen aufzuklären.
[…]"
III. Anlassverfahren und Antragsvorbringen
1. Der Antragsteller ist Kläger eines Zivilverfahrens, in dem er von der Republik Österreich € 70.000,– zuzüglich Anhang an Schadenersatz aus dem Titel der Amtshaftung begehrt. Er stützt diesen Anspruch im Wesentlichen darauf, dass "die ÖBB" eine Gesellschaft, deren Alleingesellschafter er sei, zu Unrecht nicht mit der Implementierung eines Ticketing-Systems beauftragt hätten, wodurch ihm der genannte Betrag als Gewinn entgangen sei. Die Organe der ÖBB – und auf Grund eines Organisationsverschuldens auch das "Verkehrsministerium" – hätten damit bewusst höhere Kosten und eine geringere Funktionalität in Kauf genommen, was strafrechtlich aufzuklären sei. Der Antragsteller habe dazu eine Sachverhaltsdarstellung bei der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (im Folgenden: WKStA) eingebracht. Diese habe seine Anzeige jedoch nach §35c StAG "gar nicht erst aufgegriffen" und damit das Vergabe- und Unionsrecht nicht ernstgenommen.
2. Mit Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 20. Juni 2024 wurde das Klagebegehren des Antragstellers, soweit es auf einen Verstoß gegen das Bundesvergabegesetz gestützt wurde, mangels Zulässigkeit des Rechtsweges zurückgewiesen. Im Übrigen wurde das Klagebegehren abgewiesen.
Begründend führt das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien aus, dass der Zweck der Bestimmungen über die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (§2 Abs1 StPO und §35c StAG) nicht darin bestehe, Personen davor zu schützen, allenfalls durch weitere Straftaten in Zukunft einen Vermögensschaden zu erleiden. Dass der behauptete Schaden des Klägers durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§§91 ff. StPO) hätte verhindert werden können, behaupte dieser nicht. Der Kläger könne seinen Anspruch daher nicht auf das Handeln von Organen der WKStA gründen. Auch ein haftungsbegründendes Verhalten von Organen des "Verkehrsministeriums" lasse sich aus der Klage nicht ableiten. Weder ergebe sich dies aus der behaupteten Weigerung, in eine technische Diskussion einzutreten, noch werde konkret aufgezeigt, inwiefern die Fachaufsicht schuldhaft rechtswidrig ausgeübt worden sei. Zudem hätte allenfalls nur die geschädigte Gesellschaft Anspruch auf Schadenersatz, nicht deren Gesellschafter.
3. Anlässlich der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung stellt der Antragsteller den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützten Antrag auf Aufhebung des §35c StAG. Er begründet diesen – soweit im vorliegenden Zusammenhang maßgeblich – wie folgt:
3.1. Der Antragsteller habe zur behaupteten Korruption in den "ÖBB" und im "Verkehrsministerium" eine Anzeige bei der WKStA eingebracht, die binnen zweier Tage ohne Begründung nach §35c StAG nicht aufgegriffen worden sei. Wenn die Staatsanwaltschaft keinen Verdacht sehen wolle, brauche sie das nicht zu begründen, und sei es daher gewohnt, völlige Willkür üben zu können. Einen effektiven, effizienten und ordentlichen Rechtsweg gebe es nicht. Die Staatshaftung als letzter verbleibender Weg entspreche nicht den rechtsstaatlichen Effektivitätserfordernissen. Es könne in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden, dass die Institutionen des Staates ("WKStA, Finanzprokuratur etc.") einander einen "Persilschein" ausstellten. Es müsse einen effektiven Rechtsweg gegen diese Art von "Amtsmissbrauch" geben.
3.2. Das Offizialprinzip der StPO sehe vor, dass die Staatsanwaltschaften jedem Verdacht nachgehen müssten. Dies sei aber eine legale Fiktion, denn in der Praxis seien die Ressourcen dafür nicht vorhanden. Darum spielten in der Praxis Opportunitäts- und Erfolgserwägungen ebenso wie rechtspolitische Vorgaben eine große Rolle. §35c StAG könne dazu missbraucht werden, unbequeme, arbeitsaufwendige oder politisch ungelegene Fälle, die quer zur ideologischen Linie der jeweiligen Staatsanwaltschaft stünden, auf einfachem Wege loszuwerden. In Korruptions- und Wettbewerbsfällen würden durch eine Anwendung des §35c StAG die Rechte des Anzeigers missachtet. Zumindest in diesen Fällen müsse durch die Staatsanwaltschaften eine sachliche Begründung gegeben und ein Rechtsweg zu einem ordentlichen Gericht eröffnet werden.
3.3. Es wäre die Aufgabe des Gesetzgebers, speziell der WKStA eine Rechenschaftspflicht aufzuerlegen, sodass die Öffentlichkeit und der Einbringer einer Anzeige nachprüfen könnten, inwieweit eine Anzeige Chancen habe. Die WKStA sollte einen Kriterienkatalog erstellen, publizieren und regelmäßig aktualisieren, aus dem hervorgehe, nach welchen Gesichtspunkten die Verfolgung oder Einstellung von Fällen beurteilt werde. Die Kombination aus der "Fiktion des Legalitätsprinzips" und dem völlig willkürlichen Entlastungsventil des §35c StAG ermögliche der WKStA einen zu großen Ermessensspielraum. Dieser Ermessensspielraum entspreche auch nicht dem Rechtsstaatlichkeitsgebot.
3.4. Des Weiteren verstoße die österreichische Rechtslage gegen das Wettbewerbs- und Transparenzgebot des Unionsrechts und den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz. Der Effektivitätsgrundsatz verlange einen ordentlichen und praktikablen Rechtsweg zur Aufklärung von Vergabekorruption. Schließlich verletze das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien den Antragsteller auch in seinen Rechten auf Eigentums- und Erwerbsfreiheit.
3.5. Zusammengefasst zeige sich, dass sowohl die unionsrechtlichen Vorgaben als auch das innerstaatliche Verfassungsrecht die öffentliche Rechtsrüge unabdingbar machten, widrigenfalls von einem effektiven Rechtsschutz nicht gesprochen werden könne, was das Rechtsschutzversprechen sowohl des B VG als auch der europäischen Verträge leerlaufen ließe. Die Effektivität des Schutzes dieser Grundrechte mache insbesondere die Eröffnung einer rechtlichen Möglichkeit für den Einzelnen notwendig, die eigene (bessere) Qualifikation publik zu machen und damit auf die optimale Verfügung über das öffentliche Vermögen hinzuwirken, die den verfassungsgerichtlichen Forderungen nach den Haushaltsprinzipien der Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit zugrunde liege.
IV. Zulässigkeit
1. Der Antrag ist unzulässig.
2. Gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.
2.1. Der vorliegende Antrag wurde aus Anlass der Berufung gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 20. Juni 2024 gestellt. Mit diesem Urteil wurde eine Rechtssache in erster Instanz durch ein ordentliches Gericht entschieden (Art140 Abs1 Z1 litd B VG).
2.2. Als Kläger ist der Antragsteller Partei des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht, womit er zur Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG berechtigt ist.
2.3. Dem Erfordernis der Einbringung aus Anlass eines Rechtsmittels hat der Antragsteller jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er den vorliegenden Antrag und das Rechtsmittel gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien am selben Tag erhoben und eingebracht hat (vgl VfSlg 20.074/2016).
Im Übrigen geht der Verfassungsgerichtshof auf Grund einer entsprechenden Mitteilung des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien davon aus, dass das erhobene Rechtsmittel rechtzeitig und zulässig ist.
3. Ein auf Art140 Abs1 Z1 litd B VG gestützter Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen kann gemäß §62 Abs2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht des Antragstellers wäre. Eine Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B VG setzt daher voraus, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des ordentlichen Gerichtes im Anlassfall bildet (VfSlg 20.029/2015; vgl VfSlg 20.010/2015).
Das Erstgericht hat jene Norm, deren Verfassungswidrigkeit der Antragsteller behauptet (§35c StAG), angewendet. Die angefochtene Bestimmung ist somit präjudiziell.
4. Gemäß §62 Abs1 VfGG muss der Antrag begehren, dass entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Der Antrag hat die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen.
4.1. Dieses Erfordernis ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nur dann erfüllt, wenn die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit – in überprüfbarer Art– präzise ausgebreitet werden, mithin dem Antrag mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll und welche Gründe für diese Annahme sprechen (vgl im Allgemeinen zB VfSlg 11.150/1986, 11.888/1988, 13.851/1994, 14.802/1997, 17.651/2005; spezifisch zum Parteiantrag auf Normenkontrolle VfSlg 20.079/2016, 20.153/2017; VfGH 8.6.2017, G9/2017; 26.2.2018, G27/2018). Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und – gleichsam stellvertretend – das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (VfSlg 17.099/2003, 17.102/2003, 19.825/2013, 19.832/2013, 19.870/2014, 19.938/2014).
4.2. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erweist sich der vorliegende Antrag als unzulässig: Der Antragsteller unterlässt es gänzlich, darzulegen, mit welcher Verfassungsbestimmung die bekämpfte Gesetzesstelle in Widerspruch stehen soll. In überprüfbarer Art präzise ausgebreitete Bedenken sind dem Antrag damit nicht zu entnehmen.
4.3. Das Fehlen einer geeigneten Darlegung iSd §62 Abs1 zweiter Satz VfGG ist kein behebbares Formgebrechen, sondern ein Prozesshindernis (vgl VfSlg 15.342/1998 mwN). Der somit an einem inhaltlichen, keiner Verbesserung zugänglichen Mangel leidende Antrag ist daher – schon aus diesem Grund – als unzulässig zurückzuweisen (vgl VfSlg 17.553/2005).
V. Ergebnis
1. Der Antrag ist zurückzuweisen.
2. Dies konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.