JudikaturVfGH

V121/2015 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
12. Oktober 2016

Spruch

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Begründung

1. Die antragstellende Gesellschaft betreibt das Einkaufszentrum "Murpark" in Graz. Die beteiligten Parteien in den zu den Zahlen V121/2015, V123/2015 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof (beklagte Parteien im Anlassverfahren 10 Cg 122/14y) betreiben als Eigentümerinnen der Grundstücke Nr 317/4 der EZ 2718 bzw. 317/3 der EZ 2719 der KG 63281 Seiersberg die dortigen Häuser 5 bzw. 7 der "Shopping City Seiersberg". Die beteiligte Partei in dem zur Zahl V122/2015 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof (beklagte Partei im Anlassverfahren 10 Cg 20/13x) ist Eigentümerin der Grundstücke Nr 337/1 und 317/6 der EZ 1165 der KG 63281 Seiersberg und betreibt dort das zur SCS gehörige Haus 9. Die antragstellende Gesellschaft und die beteiligten Parteien richten sich als Betreiber von Einkaufszentren gleichermaßen an Kunden im Großraum Graz.

1.1. Als klagende Partei im Verfahren vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz (zur Zahl 10 Cg 122/14y) begehrte die antragstellende Gesellschaft mit Klage vom 24. Juli 2014 das Urteil, die beklagten Parteien seien schuldig,

"a.) es ab sofort im geschäftlichen Verkehr im Rahmen des Betriebs des Einkaufzentrums mit der Bezeichnung Shopping City Seiersberg ('SCS') zu unterlassen, einen Verkehr von Personen und/oder Fahrzeugen zwischen den auf GStNr 317/3, EZ 2719 und Nr 317/4, EZ 2718, jeweils KG 63281 Seiersberg, gelegenen und von den beklagten Parteien als 'Häuser 7 und 5' bezeichneten Bauteilen über jenen Teil des zwischen diesen Bauwerken errichteten Verbindungsbauwerks, der zum nordseitigen Eingang des 'Hauses 5' in der oberen Verkaufsebene führt und der in den der Klage beiliegenden Plänen Beilagen ./M und ./N blau gekennzeichnet ist, zuzulassen und/oder zu dulden, außerdem den Verbindungsbau zu nutzen und/oder ihn durch Besucher, insbesondere Kunden nutzen zu lassen und b.) dem Unterlassungsbegehren zu Punkt 1 widerstreitenden Zustand durch Abbruch – in eventu eine Sperre, die die Nutzung dauerhaft und nachhaltig unterbindet, etwa durch die Errichtung von Trennwänden – des unter Punkt 1 näher bezeichneten Verbindungsbauwerks zu beseitigen."

1.2. Mit Urteil vom 27. Juli 2015 wies das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz die Klage ab. Gegen dieses Urteil erhob die antragstellende Gesellschaft Berufung an das Oberlandesgericht Graz. Am selben Tag stellte sie einen Antrag gemäß Art139 Abs1 Z4 B VG auf Aufhebung der Verordnungen der Gemeinde Seiersberg jeweils vom 13. Juni 2002, Z 1/616-0/SCS/14168/2002/26/Bgmstr/St und Z 1/612-5/ErschließungFFKZ/14181/2002/16/Bgmstr/St (jeweils samt Eventualantrag). Diese Verordnungen erklärten den verfahrensgegenständlichen Geh- und Fahrweg zu einem öffentlichen Interessentenweg nach §8 Abs3 Steiermärkisches Landes-Straßenverwaltungsgesetz 1964 – LStVG. 1964, LGBl 154 idgF.

1.3. In ihrem zu den Zahlen V121/2015 und V123/2015 protokollierten Antrag behauptet die antragstellende Gesellschaft, wegen Anwendung gesetzwidriger Verordnungen in ihren Rechten verletzt zu sein. Die angefochtenen Verordnungen würden dem LStVG. 1964, dem StROG, dem verfassungsgesetzlichen Bestimmtheitsgebot und dem Gleichheitssatz widersprechen bzw. in die Erwerbsfreiheit der antragstellenden Gesellschaft eingreifen. Zur Zulässigkeit des Antrages bringt die antragstellende Gesellschaft insbesondere vor, das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz habe in seinem Urteil auf beide angefochtenen Verordnungen ausdrücklich Bezug genommen, weswegen diese präjudiziell seien.

1.4. Als klagende Partei im Verfahren vor dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz (zur Zahl 10 Cg 20/13x) begehrte die antragstellende Gesellschaft mit Klage vom 18. Juni 2013 das Urteil,

"1. die beklagte Partei sei schuldig, es ab sofort im geschäftlichen Verkehr im Rahmen des Betriebs des Einkaufszentrums mit der Bezeichnung Shopping City Seiersberg (SCS) zu unterlassen, einen Verkehr von Personen und/oder Fahrzeugen zwischen den auf Grundstück Nr 317/3, EZ 2719, und dem Grundstück Nr 337/1, EZ 1165, je KG 63281 Seiersberg, errichteten Bauwerken, den von der Beklagten so bezeichneten Häusern 7 und 9, über das zwischen diesen Bauwerken (Häuser 7 und 9 der SCS) errichtete Verbindungsbauwerk, das die unteren und oberen Verkaufsebenen dieser Bauwerke verbindet und/oder über die zwischen den Dächern dieser Bauwerke (Häuser 7 und 9 der SCS) befindlichen zweispurigen Rampe zu eröffnen, zuzulassen und/oder zu dulden, außerdem die Verbindungsbauten und Dachrampe zu nützen und/oder sie durch Besucher, insbesondere Kunden, nützen zu lassen, sowie 2. die beklagte Partei sei schuldig, den dem Unterlassungsbegehren zu Punkt 1 widerstreitenden Zustand durch einen Abbruch – in eventu eine Sperre, die die Nutzung dauerhaft und nachhaltig unterbindet, etwa durch die Errichtung von Trennwänden – der unter Punkt 1 näher bezeichneten Verbindungsbauten und der Dachrampe zu beseitigen."

1.5. Mit Urteil vom 17. Juni 2015 wies das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz die Klage ab. Gegen dieses Urteil erhob die antragstellende Gesellschaft Berufung an das Oberlandesgericht Graz. Am selben Tag stellte sie einen Antrag gemäß Art139 Abs1 Z4 B VG auf Aufhebung der Verordnung der Gemeinde Seiersberg vom 4. Juli 2007, Z 612-5/ErschließungFFKZ/30 (samt Eventualantrag). Diese Verordnung erklärte die fraglichen Brücken- und Straßenbauwerke zu öffentlichen Interessentenwegen nach §8 Abs3 LStVG. 1964.

1.6. In ihrem zur Zahl V122/2015 protokollierten Antrag behauptet die antragstellende Gesellschaft, wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt zu sein. Die angefochtene Verordnung widerspreche dem LStVG. 1964, dem StROG, dem geltenden Bebauungsplan, dem verfassungsgesetzlichen Bestimmtheitsgebot und dem Gleichheitssatz bzw. greife in die Erwerbsfreiheit der antragstellenden Gesellschaft ein. Zur Zulässigkeit des Antrages bringt die antragstellende Gesellschaft insbesondere vor, dass die Geltung der Verordnung der Grund dafür gewesen sei, dass das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz einen Rechtsbruch verneint und die Klage im Anlassverfahren abgewiesen habe.

2. Mit Schreiben jeweils vom 17. November 2015, beim Verfassungsgerichtshof eingelangt am 19. November 2015, teilte das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz mit, dass die am 14. September 2015 eingebrachten Berufungen der klagenden Partei 1. gegen das Urteil vom 27. Juli 2015 (zur Zahl 10 Cg 122/14y) und 2. gegen das Urteil vom 17. Juni 2015 (zur Zahl 10 Cg 20/13x) vom Berufungsgericht als zulässig und rechtzeitig behandelt worden seien und legte unter einem die Gerichtsakten vor.

3. Der Gemeinderat der Gemeinde Seiersberg-Pirka legte die bezughabenden Verordnungsakten vor und erstattete jeweils Äußerungen, in denen er den Bedenken der antragstellenden Gesellschaft entgegentritt.

4. Die Steiermärkische Landesregierung legte die bezughabenden Akten vor und verwies inhaltlich auf eine im vorgelegten Aktenkonvolut befindliche Stellungnahme vom 1. Oktober 2014, welche damals im Zuge eines Prüfverfahrens an die Volksanwaltschaft übermittelt worden sei.

5. Die beteiligten Parteien in den zu den Zahlen V121/2015, V122/2015 und V123/2015 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof (beklagte Parteien in den beiden Anlassverfahren) erstatteten ebenfalls Äußerungen, in denen sie den Bedenken der antragstellenden Gesellschaft entgegentreten und insbesondere auch die Zulässigkeit der Parteianträge in Zweifel ziehen.

6. Mit Schreiben vom 23. Mai 2016, beim Verfassungsgerichtshof eingelangt am 27. Mai 2016, teilte die Gemeinde Seiersberg-Pirka mit, dass mit Verordnung der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 17. Mai 2016, Z 612-5/Interessentenwege/4, unter anderem auch die von der antragstellenden Gesellschaft angefochtenen Verordnungen aufgehoben würden. Besagte Verordnung sei am 20. Mai 2016 durch Anschlag an der Amtstafel kundgemacht worden und werde sohin "voraussichtlich am 06.06.2016 in Kraft treten". Ein Vergleich der einen integrierenden Bestandteil der Verordnung bildenden Planbeilage mit jenen Plänen, die den bisherigen Verordnungen zugrunde liegen, zeigt, dass in der neuen Verordnung einerseits bereits in den bisherigen Verordnungen als öffentliche Interessentenwege eingereihte Verkehrsflächen neuerlich zu solchen erklärt werden, andererseits aber auch zusätzliche Verkehrsflächen als öffentliche Interessentenwege eingereiht bzw. bisher als öffentliche Interessentenwege eingereihte Flächen aufgelassen werden.

Ergänzend zu den bereits übermittelten Äußerungen des Gemeinderates wies die Gemeinde Seiersberg-Pirka in ihrem Schreiben zudem darauf hin, "dass die Weitergeltung der angefochtenen Verordnungen im Gefolge der Fusionierung der Gemeinden Seiersberg und Pirka zur Gemeinde Seiersberg-Pirka […] unter der Überschrift 'Ehem. Gemeinde Seiersberg' der […] Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 02.01.2015, GZ.: 003-3/VOWiederverlautbarung/1, verfügt […] [worden sei], andernfalls gemäß §11 Abs2 Stmk GemO 1967 diese Verordnungen nicht mehr bestehen würden". Es sei daher ungeachtet der Aufhebung auch der letztzitierten Verordnungsstellen mit der Verordnung vom 17. Mai 2016 bezüglich der seitens der von der antragstellenden Gesellschaft angefochtenen Verordnungen von der Unvollständigkeit und somit der Unzulässigkeit der vorliegenden – zu eng gefassten – Aufhebungsanträge auszugehen. Demgemäß beantragt die Gemeinde Seiersberg-Pirka, die (Partei-)Anträge als unzulässig zurückzuweisen bzw. die Verordnungsprüfungsverfahren einzustellen sowie der Gemeinde "den gesetzmäßigen Kostenersatz" zuzuerkennen.

7. Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2016 übermittelte die antragstellende Gesellschaft eine Äußerung, in der sie darauf hinweist, dass auch ein zwischenzeitiges Außerkraftsetzen der von ihr angefochtenen Verordnungen nichts an der Präjudizialität besagter Verordnungen in den Anlassverfahren nach UWG zu ändern vermöge.

8. Aus Anlass dieser beiden Parteianträge leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 litb B VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel erhebt und" sowie des Wortes "gleichzeitig" in §57a Abs1 erster Satz, der Wortfolge ", gegen die die Partei ein Rechtsmittel erhebt," in §57a Abs3 Z1 sowie der Wortfolge ", gegen die die Partei ein Rechtsmittel erhebt," in §57a Abs4 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl 85 in der Fassung BGBl I 92/2014, ein. Mit Erkenntnis vom 3. Oktober 2016, G254 256/2016, hob er die genannten Worte bzw. Wortfolgen in §57a VfGG als verfassungswidrig auf.

9. Gemäß Art139 Abs1 Z4 B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über Gesetzwidrigkeit von Verordnungen auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels.

Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfenden Verordnungsbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Prüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Verordnungsteil nicht einen völlig veränderten Inhalt erhält und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Verordnungsstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.

Dieser Grundposition folgend hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Verordnungsprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg 15.964/2000). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.933/2014).

10. Nach Zusammenlegung der bisherigen Gemeinden Seiersberg und Pirka zur Gemeinde Seiersberg-Pirka wurde vom Regierungskommissär gemäß §11 Abs2 des Gesetzes vom 14. Juni 1967, mit dem für die Gemeinden des Landes Steiermark mit Ausnahme der Städte mit eigenem Statut eine Gemeindeordnung erlassen wird (Steiermärkische Gemeindeordnung 1967 – GemO), LGBl 115 idF LGBl 131/2014, mit Verordnung vom 2. Jänner 2015, Z003-3/VOWiederverlautbarung/1, angeordnet, dass (u.a. auch) die hier angefochtenen Verordnungen der Gemeinde Seiersberg in der Gemeinde Seiersberg-Pirka weiter gelten.

11. In seinem Erkenntnis vom 2. Juli 2016, V157-160/2015 ua. (Rz 42 ff.), hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass diese Anordnung der Weitergeltung von Verordnungen konstitutive Wirkung hat. Folglich wären die Ziffern 85., 86. und 88. der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 2. Jänner 2015, Z 003-3/VOWiederverlautbarung/1, von der antragstellenden Gesellschaft mitanzufechten gewesen.

12. Damit sind die Anträge, weil zu eng gefasst, als unzulässig zurückzuweisen.

13. Der von der Gemeinde Seiersberg-Pirka begehrte Kostenersatz ist nicht zuzusprechen, weil es im Falle eines Antrages nach Art139 Abs1 Z4 B VG Sache des zuständigen ordentlichen Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (vgl. VfGH 2.7.2016, G235/2015).

14. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lita VfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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