JudikaturVfGH

G66/2025 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
23. September 2025
Leitsatz

Keine Bedenken gegen die – für die Zustellung der Aufforderung zur Entrichtung der Ersatzmaut vorgesehene – Zugangsfiktion gemäß einer Bestimmung des Bundesstraßen-MautG 2002; keine Unsachlichkeit der Anknüpfung an die Ausfertigung der Ersatzmautaufforderung und nicht an das tatsächliche Zugehen oder die nachweisliche Zustellung; Zugangsfiktion betrifft die Möglichkeit der privatrechtlichen Sicherung der Abfuhr des Mautentgelts vor einem Verwaltungsstrafverfahren und liegt im weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Strafaufhebungsgründen

Abweisung eines Antrags des LVwG Steiermark auf Aufhebung einer Wortfolge in § 19 Abs4 zweiter Satz des BStMG idF BGBl I 142/2023.

Die Bedenken im Antrag richten sich gegen die Zugangsfiktion in §19 Abs4 zweiter Satz BStMG und nicht gegen §20 Abs5 BStMG, der bestimmt, unter welchen Voraussetzungen eine begangene Mautprellerei straffrei wird. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb eine Aufhebung (von Teilen) des §20 Abs5 BStMG erforderlich sein könnte, um die behauptete Verfassungswidrigkeit im Fall des Zutreffens der Bedenken zu beseitigen. Vor dem Hintergrund der im Antrag dargelegten Bedenken steht die Zugangsfiktion in §19 Abs4 BStMG somit in keinem untrennbaren Zusammenhang zum Strafaufhebungsgrund des §20 Abs5 BStMG.

Zur Stammfassung:

Der VwGH hat vor dem Hintergrund der Rechtslage der Stammfassung des §19 BStMG die Auffassung vertreten, dass eine unterbliebene Aufforderung zur Entrichtung der Ersatzmaut gemäß §19 BStMG eine Bestrafung zwar nicht hindere, weil das strafbare Verhalten bereits mit der nicht ordnungsgemäßen Entrichtung der Maut verwirklicht werde und §20 Abs3 BStMG einen Strafaufhebungsgrund normiere. Allerdings habe das Unterbleiben einer Aufforderung gemäß §19 BStMG zur Folge, dass die Frist für die Bezahlung der Ersatzmaut nicht in Gang gesetzt werde, womit die Möglichkeit bestehe, die Ersatzmaut noch im Zuge des Strafverfahrens "fristgerecht" zu zahlen, um damit die Straflosigkeit iSd §20 Abs3 BStMG zu bewirken.

Zu den Novellen:

Mit der Novelle BGBl I 26/2006 wurde §19 BStMG geändert, damit weder dem Fahrzeuglenker noch dem Zulassungsbesitzer ein Recht auf Übermittlung einer Aufforderung zur Zahlung einer Ersatzmaut zukomme. Dazu wurde in §19 Abs6 BStMG idF BGBl I 26/2006 normiert, dass subjektive Rechte des Lenkers und des Zulassungsbesitzers auf mündliche oder schriftliche Aufforderungen zur Zahlung einer Ersatzmaut nicht bestehen. Außerdem sollten die Mautaufsichtsorgane und die ASFINAG gemäß §19 BStMG idF BGBl I 26/2006 bei Vorliegen der Voraussetzungen "ermächtigt" (und nicht verpflichtet) sein, zur Zahlung einer Ersatzmaut aufzufordern. Zudem wurde mit der Novelle BGBl I 82/2007 die Frist zur Zahlung der Ersatzmaut in §19 Abs4 BStMG von drei auf vier Wochen verlängert und die höchstmögliche Ersatzmaut von € 300,– auf € 250,– gesenkt. In weiterer Folge wurde mit der Novelle BGBl I 45/2019 der Begriff "ermächtigt" durch den Begriff "befugt" ersetzt, um klarzustellen, dass die Mautaufsichtsorgane und die ASFINAG bei Aufforderungen zur Zahlung der Ersatzmaut nicht hoheitlich tätig werden. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage hielt der VwGH an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach das Unterbleiben der Aufforderung zur Entrichtung der Ersatzmaut zwar nicht zur Straflosigkeit führe, das Unterbleiben einer Aufforderung aber zur Folge habe, dass die Frist für die Bezahlung der Ersatzmaut nicht in Gang gesetzt werde, womit die Möglichkeit bestehe, die Ersatzmaut noch im Zuge des Strafverfahrens "fristgerecht" zu bezahlen, um damit die Straflosigkeit iSd §20 Abs3 BStMG zu bewirken. Darüber hinaus sprach der VwGH aus, dass auch eine nicht rechtswirksame Zustellung einen Fall des Unterbleibens der Aufforderung zur Bezahlung der Ersatzmaut darstelle. Dabei verwies er darauf, dass sich die Wortfolge "binnen vier Wochen ab Ausfertigung der Aufforderung" in §19 Abs4 BStMG nur auf die Zahlungsfrist beziehe und eine unwirksame Zustellung dem Unterbleiben der Aufforderung zur Bezahlung der Ersatzmaut gleichzuhalten sei. Für den Fristenlauf nach §19 Abs4 BStMG sei daher nicht auf die "Ausfertigung" der Aufforderung abzustellen. Somit sei nicht die Ausfertigung, sondern eine rechtswirksame Zustellung maßgeblich (VwGH 12.10.2020, Ra 2018/06/0167). Nach dieser Rsp des VwGH stellte eine nicht rechtswirksame Zustellung eines Aufforderungsschreibens nach §19 Abs4 BStMG somit ein Unterbleiben der Aufforderung zur Bezahlung der Ersatzmaut dar, sodass die Frist für die Bezahlung der Ersatzmaut nicht in Gang gesetzt wurde und die Möglichkeit bestand, diese noch im Zuge des Strafverfahrens "fristgerecht" zu bezahlen, um damit die Straflosigkeit iSd §20 Abs5 BStMG zu bewirken.

Keine Bedenken gegen die mit der angefochtene Novelle BGBl I 142/2023 eingeführte Zustellungsfiktion:

Die mit dem Hauptantrag nunmehr angefochtene Wortfolge des §19 Abs4 BStMG wurde durch die Novelle BGBl I 142/2023 eingeführt. Den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zufolge sollte damit – in Reaktion auf die soeben dargestellte Rsp des VwGH – eine Zugangsfiktion eingeführt werden. Die Rsp des VwGH habe die Praxis vor Probleme gestellt, weil die Zahl der einschlägigen Delikte seit Jahren kontinuierlich ansteige. Allein im Jahr 2022 habe die ASFINAG etwa 380.000 Aufforderungen zur Zahlung von Ersatzmaut zu versenden gehabt. Rund ein Zehntel dieser Aufforderungen sei jedoch als unzustellbar an die ASFINAG zurück gelangt. Die ASFINAG habe keine Möglichkeit, diese große Zahl an Retoursendungen zu bearbeiten. Wie bei der Anonymverfügung solle daher die Versendung mit einfachem Brief genügen und eine schriftliche Aufforderung zur Zahlung der Ersatzmaut dem Zulassungsbesitzer als zugegangen gelten, wenn sie von der ASFINAG an die im einschlägigen Register als Zulassungsbesitzer eingetragene Person unter der dort angeführten Adresse versendet werde.

Kommt es bei einer Verwaltungsübertretung gemäß §20 sowie §32 Abs1 zweiter Satz BStMG zu keiner Betretung, ist die ASFINAG gemäß §19 Abs4 BStMG befugt, den Zulassungsbesitzer schriftlich zur Zahlung einer Ersatzmaut aufzufordern, sofern der Verdacht auf automatischer Überwachung oder dienstlicher Wahrnehmung eines Mautaufsichtsorganes beruht. Die Aufforderung "gilt dem Zulassungsbesitzer als zugegangen", wenn sie an die in der zentralen Zulassungsevidenz oder in Fahrzeugzulassungsregistern anderer Staaten als Zulassungsbesitzer des Fahrzeuges eingetragene Person unter ihrer dort angeführten Anschrift "versandt" wurde. Ihr wird entsprochen, wenn die Ersatzmaut binnen vier Wochen ab Ausfertigung der Aufforderung ordnungsgemäß gutgeschrieben wird. Weiterhin stellt die Entrichtung der Ersatzmaut gemäß §20 Abs5 BStMG einen Strafaufhebungsgrund dar. Mit der Entrichtung der Ersatzmaut sind auch die zivilrechtlichen Ansprüche der ASFINAG als Mautgläubigerin erfüllt.

Kein Verstoß des §19 Abs4 BStMG gegen Art11 Abs2 B-VG:

Die Regelungsbereiche, die von Art11 Abs2 B‑VG erfasst sind, umfassen das Verwaltungsverfahren, die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes, das Verwaltungsstrafverfahren und die Verwaltungsvollstreckung. Das ZustG beruht – soweit es von Verwaltungsbehörden zu vollziehen ist – auf der kompetenzrechtlichen Grundlage des Art11 Abs2 B‑VG, und die Bestimmungen des ZustG stellen "einheitliche Vorschriften" iSd Art11 Abs2 B‑VG dar.

Die Regelung der Zusendung einer Aufforderung zur Zahlung der Ersatzmaut im Rahmen der privatrechtsförmigen Tätigkeit der ASFINAG fällt nicht unter Art11 Abs2 B‑VG.

Keine Bedenken im Hinblick auf Art7 Abs1 B‑VG:

Dem Gesetzgeber kommt bei der Ausgestaltung von Strafaufhebungsgründen grundsätzlich ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Nichts anderes ist in Bezug auf die Regelungen des BStMG anzunehmen; insbesondere kommen diese Erwägungen auch für die hier angefochtene Wortfolge des §19 Abs4 BStMG zum Tragen. Die Zugangsfiktion in §19 Abs4 BStMG betrifft die einem allfälligen Verwaltungsstrafverfahren vorgelagerte Möglichkeit der privatrechtlichen Sicherung der Abfuhr des Mautentgeltes. Angesichts vergleichbarer Zugangsregelungen im allgemeinen Rechtsverkehr (§6 Abs1 Z3 KSchG und §10 Abs1 VersVG) überschreitet der Gesetzgeber mit dieser Regelung seinen weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum nicht.

Kein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren:

Die Aufforderung zur Zahlung der Ersatzmaut durch die ASFINAG ist keine behördliche Maßnahme im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens, sondern eine dem Verwaltungsstrafverfahren vorgelagerte Aufforderung eines privaten Rechtsträgers zur Betreibung eines privatrechtlichen Entgeltanspruches. Die Frage, ob eine Aufforderung zur Zahlung der Ersatzmaut zugesandt wird, hat auch keine Auswirkungen auf das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein faires Verfahren. Vielmehr stehen einem Beschuldigten im Verwaltungsstrafverfahren – sofern ein solches überhaupt eingeleitet wird – ohnehin alle Garantien des Art6 EMRK uneingeschränkt zu.