G346/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung der Wortfolge "§37 Abs1 MRG," in §62a Abs1 Z4 VfGG idF BGBl I 92/2014 wegen Verstoßes gegen Art140 Abs1a erster Satz B-VG.
Art140 Abs1a B-VG bildet (ebenso wie Art139 Abs1a B-VG) eine nicht nach der Qualität des Anfechtungsobjekts, sondern nach den Verfahren differenzierende Beschränkung der Zuständigkeit des VfGH. Sie wurde gleichzeitig mit der Erweiterung der Zuständigkeit des VfGH im Bereich der Normenkontrolle durch die B-VG-Novelle BGBl I 114/2013 in das B-VG aufgenommen. Die Schaffung des Art140 Abs1 Z1 litd B-VG und die Ausweitung des Kreises der antragsbefugten ordentlichen Gerichte ergänzt das System der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle im Interesse des Rechtsschutzes. Die Verpflichtung der (ordentlichen) Gerichte, bei Bedenken betreffend die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes einen Antrag an den VfGH zu stellen und die den Parteien eines Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten zustehende Befugnis, diese Bedenken allenfalls von sich aus an den VfGH heranzutragen, stehen in engem historischen und systematischen Zusammenhang.
Die Erweiterung der Zuständigkeit des VfGH umfasste zum einen die Ausweitung des Kreises der anfechtungsbefugten (ordentlichen) Gerichte auf alle (auch die erstinstanzlichen) Gerichte, zum anderen eine Erstreckung der Befugnis von anfechtungsberechtigten Personen auf Parteien eines Gerichtsverfahrens. Die Zuständigkeit des VfGH zur Normenkontrolle ist zentrales Element des rechtsstaatlichen Prinzips der österreichischen Bundesverfassung. Mit dieser Befugnis wurde eine Lücke im Rechtsschutzsystem geschlossen.
Gleichzeitig war der Verfassungsgesetzgeber, wie sich aus den Materialien ergibt, davon bestimmt, Verfahrensverzögerungen durch Parteianträge auf Gesetzesprüfung möglichst hintanzuhalten (vgl die Befugnis zur Ablehnung von Parteianträgen gem Art140 Abs1b B-VG; vgl weiters die Entschließung vom 13.06.2013, 310/E 24. GP).
Vor diesem Hintergrund ist die Bestimmung des Art140 Abs1a B-VG als eine eng begrenzte Ausnahme von der grundsätzlich gegen alle Bundes- und Landesgesetze offen stehenden Anfechtungsberechtigung anzusehen, die durch die Erforderlichkeit des Ausschlusses des Rechtsbehelfs im Hinblick auf den Zweck des (gerichtlichen) Verfahrens bestimmt wird, wobei den mit dem zeitlichen Aspekt zusammenhängenden Elementen der Sicherung des Verfahrenszwecks wenigstens auch durch andere verfahrensrechtliche Vorkehrungen Rechnung getragen werden sollte (vgl Art140 Abs1b B-VG, Art140 Abs8 B-VG, §62a Abs6 VfGG, §80a Abs2 AußStrG).
Der VfGH ging in seinem Prüfungsbeschluss unter Hinweis auf den Wortlaut des Art140 Abs1a erster Satz B-VG und die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des Bundesgesetzes BGBl I 92/2014 (263 BlgNR 25. GP) davon aus, dass die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG durch Bundesgesetz nur in jenen Fällen für unzulässig erklärt werden dürfte, in denen dies "unerlässlich" für die Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht ist.
Zur Auslegung des Erfordernisses der "Unerlässlichkeit" verweisen die Gesetzesmaterialien ausdrücklich auf die Judikatur des VfGH zu Art11 Abs2 B-VG und auf Art136 Abs2 B-VG idF der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012.
Die Kriterien der Erforderlichkeit in Art11 Abs2 B-VG und in Art136 Abs2 B-VG verfolgen im Hinblick auf die Begrenzung der Ermächtigungen das Ziel der Wahrung einer Einheitlichkeit im Verfahrensrecht vor Verwaltungsbehörden bzw Verwaltungsgerichten. Damit sind sie gleich dem Art140 B-VG, der eine möglichst umfassende Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Bundesverfassung bezweckt, auf die Verwirklichung der durch das Siebente Hauptstück maßgeblich ausgeformten Rechtsstaatlichkeit gerichtet.
Eine an diesem Regelungszweck ausgerichtete historisch-systematische Auslegung des Art140 Abs1a B-VG führt daher zum Ergebnis, dass die in dieser Bestimmung mit dem Kriterium der Erforderlichkeit beschränkte Ermächtigung an den Gesetzgeber, den Zugang zum VfGH zu begrenzen, eng im Sinne einer "Unerlässlichkeit" zu verstehen ist. Unerlässlich ist die Ausnahme der Möglichkeit, eine Gesetzesbeschwerde zu erheben, in Verfahren, in denen die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG und die nachfolgende Durchführung eines Verfahrens vor dem VfGH den Zweck des Verfahrens vereiteln würde (zB in Provisorialverfahren). Im Hinblick auf Rechtssachen, für die der Ausschluss der Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG nicht unerlässlich ist, ist gegebenenfalls nach Art140 Abs8 B-VG durch Bundesgesetz zu bestimmen, dass das Erkenntnis des VfGH, mit dem das Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, eine neuerliche Entscheidung der Rechtssache vor dem ordentlichen Gericht ermöglicht.
Die im Prüfungsbeschluss vorläufig getroffene Annahme, dass es jedenfalls nicht für alle Fälle des §37 Abs1 MRG zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens im beschriebenen Sinn unerlässlich sein dürfte, die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG durch Bundesgesetz für unzulässig zu erklären, hat sich im Gesetzesprüfungsverfahren bestätigt.
§62a Abs1 Z4 VfGG sieht unter anderem vor, dass in Verfahren gemäß §37 Abs1 MRG (MietrechtsG) die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG unzulässig ist. Die Bestimmung regelt in Abs1 die örtliche, sachliche und funktionelle Zuständigkeit in einer Reihe von wohnrechtlichen Angelegenheiten, nämlich im Wesentlichen bei mietrechtlichen Leistungs-, Feststellungs- und Rechtsgestaltungsbegehren.
Für die Bestimmung des Inhalts des §62a Abs1 Z4 VfGG ist sohin unter anderem §37 Abs1 MRG maßgeblich. Durch die Verweisung in §62a Abs1 Z4 VfGG wird der Kreis der durch die Aufzählung umschriebenen Verfahren vom Anwendungsbereich des Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ausgenommen.
Die Materialien zur B-VG Novelle BGBl I 114/2013 enthalten keinen Hinweis darauf, dass der Verfassungsgesetzgeber die Verfahren nach §37 Abs1 MRG schlechthin als solche ansieht, anlässlich derer die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG jedenfalls unzulässig sein soll.
Alleine der zeitliche Aspekt der "Verfahrensverzögerung" durch die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ist für sich genommen kein Grund, der den Bundesgesetzgeber berechtigt, von der ihm durch Art140 Abs1a erster Satz B-VG eingeräumten Ermächtigung in der Weise Gebrauch zu machen, dass er pauschal alle in §37 Abs1 MRG genannten Verfahren ausnimmt. Im Hinblick auf besonders dringliche Angelegenheiten werden gegebenenfalls andere Maßnahmen erforderlich sein bzw wird das Gericht im Einklang mit §62 Abs6 VfGG Handlungen vorzunehmen und Anordnungen zu treffen haben, die im Sinne dieser Bestimmung keinen Aufschub dulden. Im Übrigen liegt es nämlich ohnehin im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Bundesgesetzgebers, entsprechende Vorkehrungen auf Grundlage des Art140 Abs1a zweiter Satz B-VG zu treffen.
Der Zweck der Verfahren nach §37 Abs1 MRG weist somit keine Besonderheiten auf, die es erforderlich (im Sinne von "unerlässlich") machten, zu seiner Sicherung die Stellung eines Antrages nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG durch Bundesgesetz für unzulässig zu erklären.
Die Prüfung der generellen Ausnahme aller Verfahren gemäß §37 Abs1 MRG erbringt daher das Ergebnis, dass diese nicht erforderlich zur Sicherung des Verfahrenszwecks ist. Die entsprechende Wortfolge in §62a Abs1 Z4 VfGG verstößt daher gegen Art140 Abs1a erster Satz B-VG.
(Anlassfall G206/2015, B v 01.10.2015, Zurückweisung des Parteiantrags mangels Angabe der Fassung des angefochtenen §16 MRG).