JudikaturOLG Wien

8Rs45/25h – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
29. April 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Mag. Zacek als Vorsitzende sowie den Richter Mag. Zechmeister und die Richterin Dr. Heissenberger LL.M. und die fachkundigen Laienrichter Thorsten Brandstetter und Mag. Elisabeth Hirt in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, **, vertreten durch Mag. Andrea Futterknecht, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle B*,**, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 29.1.2025, ** 31, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Berufung selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 15.5.2024 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 15.1.2024 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vorliege, kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung oder auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

Der Kläger erhob dagegen fristgerecht Klage. Er leide an Kniebeschwerden beidseits, Hüftbeschwerden beidseits, Schulterbeschwerden, einem Zustand nach dreimaligem Lungeninfarkt, einer Staublunge und COPD. Er sei nicht mehr arbeitsfähig. Er sei seit 1999 als Gerüstbauer tätig gewesen. In Deutschland handle es sich dabei um einen Lehrberuf. 1999 habe der Kläger bei der Firma C* Gesmbh die Erlernung dieses Berufs begonnen. Eine Gerüstbau Partie bestehe aus drei bis vier Mann, und zwar 1. Helfer (Partie-Führer), 2. Helfer (Stellvertreter Partie-Führer) 3. und 4. Person Helfer. Die Ausbildung habe 1999 als Helfer am Boden (Lederer) begonnen. Der Aufgabenbereich des Klägers sei es gewesen, alle Gerüstteile kennenzulernen und zu verstehen, welchen Zweck sie erfüllen. Er habe die Gerüstteile sortiert und für den Partie-Führer vorbereitet. Nach einem Jahr sei er in der Partie als 3. Helfer eingeteilt worden. Sein Aufgabenbereich habe die Unterstützung bei der Gerüstgrund-Herstellung, statische Verankerung der Gerüste und Unterstützung beim Aufbau/Abbau im Gerüstbereich (Statik, Gefahrenqellen erkennen) umfasst. Erst im 3. Jahr sei der Kläger Partie-Führer gewesen und habe Gerüstherstellungen, Einschulungen neuer Helfer und selbständige Arbeiten durchführen können; nach fertiggestelltem Gerüstaufbau sei ein Techniker vorbeigekommen und habe unter Abgehen des Baugerüstes Sicherheit und Statik überprüft, um es dann im Abnahme-Protokoll unter Angabe der Art (Baugerüst, Aufzugsgerüst.…) und des Ausführenden (= Kläger) freizugeben. Aufgrund der notorischen Gefährlichkeit eines Gerüsts sei die Verantwortung des Klägers hoch gewesen. Er habe bei allen Gerüstfirmen in B* gearbeitet, um sein Wissen immer zu verbessern (**, **, **, **...). Der Kläger sei von 1.3.2004 bis 30.4.2007 im Gerüstverleih gewerblich selbständig gewesen, und habe mit allen großen Gerüstbau-Firmen in B* zusammengearbeitet.

Die Beklagtebestritt das Klagebegehren, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, dass Invalidität nicht vorliege. Der Kläger sei im Beobachtungszeitraum gemäß § 255 Abs 2 ASVG nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig gewesen. Er sei in Folge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht außer Stande, durch eine Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflege.

Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Es legte seiner Entscheidung die auf Seiten 2 bis 6 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Feststellungen zugrunde, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass dem Kläger kein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG zukomme. Er habe in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag in mehr als 90 Monaten als Gerüster gearbeitet. Diese Tätigkeit sei nicht lehrberufswertig. Die Invalidität des Klägers sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger weiterhin Berufe ausüben. Die Voraussetzungen des § 255 Abs 3a und 3b ASVG bzw § 255 Abs 4 ASVG seien nicht erfüllt. Da der Kläger in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin berufstätig zu sein, seien Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation derzeit nicht zweckmäßig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, dem Klagebegehren vollinhaltlich stattzugeben. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

1. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit ist zunächst auf die Rechtsrüge einzugehen:

1.1. Der Kläger argumentiert in seiner Berufung mit § 60 Abs 6 Bauarbeiterschutzverordnung und § 2 Bauarbeiterschutzverordnung. Demnach seien Fachkundige im Sinne der genannten Verordnung Personen, die die erforderlichen Fähigkeiten und Berufserfahrungen besitzen und auch die Gewähr für eine gewissenhafte Durchführung der ihnen übertragenen Aufgaben bieten. Fachkundige Personen seien fachkundige Organe von Anstalten des Bundes oder eines Bundeslandes, von staatlich autorisierten Anstalten, sowie Ziviltechniker oder Gewerbetreibende, jeweils im Rahmen ihrer Befugnisse. Als fachkundige Personen könnten auch Betriebsangehörige eingesetzt werden.

Nach der Rspr komme im Baugewerbe Polieren, deren Stellung über die der Hauptgerüster und Vizepoliere hinausgehe, Angestelltenfunktion zu, wenn sie vorwiegend als Hilfsorgan des Dienstgebers höhere nichtkaufmännische Dienste leisten und mit einer gewissen Selbständigkeit sowie einer Anordnungs- und Aufsichtsbefugnis ausgestattet seien.

Das Erstgericht habe diese Rechtslage nicht berücksichtigt und keine Feststellungen zur Frage der Angestelltentätigkeit des Klägers getroffen. Der Kläger verweist auf sein Vorbringen im Schriftsatz ON 15, er sei nach zweijähriger Einschulungsphase im 3. Jahr Partie-Führer geworden und habe ab diesem Zeitpunkt die verantwortliche Leitung für Gerüstarbeiten inne gehabt. Es sei ihm daher Anordnungsbefugnis im Sinne der Bauarbeiterschutzverordnung zugekommen.

Der Kläger moniert in diesem Zusammenhang mehrere sekundäre Feststellungsmängel. Es wäre festzustellen gewesen, dass er das Aufstellen, Ändern und Abtragen der Gerüste zu leiten gehabt habe und fachkundige Person im Sinne der genannten Bauarbeiterschutzverordnung gewesen sei; über theoretische Kenntnisse der Schutzverordnung und Normen betreffend die Gerüste verfüge, deren Aufbau und Belastbarkeit sowie die notwendige Überprüfung und fachliche Ausbildung in seinen Aufgabenbereich als fachkundige Person gefallen seien; er mit Aufgaben der organisatorischen Tätigkeit als Hilfsorgan des Dienstgebers betraut gewesen sei; er mit einer gewissen Selbständigkeit, Anordnungs- und Aufsichtsbefugnis ausgestattet gewesen sei. Auch die erforderliche Ausbildungszeit und die Ausbildungserfordernisse bis zur leitenden Tätigkeit des Klägers wären festzustellen gewesen.

1.2.Der Kläger macht im Rahmen seiner Rechtsrüge daher (auch) das Fehlen entscheidungswesentlicher Feststellungen iS § 496 Abs 1 Z 3 ZPO geltend. Die Feststellungsgrundlage ist nur dann mangelhaft, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und dies Umstände betrifft, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RS0053317).

1.3.Richtig ist, dass nach der Rechtsprechung des OGH für die Beurteilung des Berufsschutzes die tatsächlich verrichtete Tätigkeit maßgeblich ist (RS0083723 [T1]). Zu 10 ObS 372/98y hat der OGH ausgesprochen, dass die manuelle Tätigkeit des Gerüsters als solche nicht qualifiziert genug sei, um Berufsschutz nach § 255 Abs 1 oder 2 ASVG zu begründen, weil diese Tätigkeit nur geringe Elemente der Bauberufe Zimmerer, Maurer, Schlosser und Schalungsarbeiter beinhalte. Andererseits habe die Rechtsprechung im Baugewerbe den Polieren, deren Stellung über die der Hauptgerüster und Vizepoliere hinausgeht, grundsätzlich Angestelltenqualifikation zuerkannt, wenn sie vorwiegend als Hilfsorgan des Dienstgebers höhere nichtkaufmännische Dienste leisten, weil sie mit einer gewissen Selbständigkeit sowie mit einer Anordnungs- und Aufsichtsbefugnis ausgestattet sind. Die Berufsbezeichnung, die selbst über die Art und Qualifikation der Dienste nichts aussagt, sei daher nicht ausschlaggebend. Entscheidend könnten aber die Art und der Inhalt der geleisteten Dienste sein, die in ihrer Gesamtheit beurteilt werden müssen, um die Frage zu lösen, ob der Kläger, wenn er schon nicht als Arbeiter Berufsschutz genießt, höhere Dienstleistungen nichtkaufmännischer Art verrichtet habe, die seine Qualifikation allenfalls als Angestellter nach sich ziehen könnten. Ob die Aufsichtsfunktion als Partieführer und fachkundige Person oder die manuelle Arbeit als Gerüster mit den entsprechenden Berufserfahrungen und Fachkenntnissen zeitlich überwogen oder ob sie der Bedeutung nach für den Dienstgeber im Vordergrund stand, ließ sich den dortigen Feststellungen nicht entnehmen, weshalb mit einer Aufhebung vorzugehen war.

1.4.Der Kläger übersieht, dass er in erster Instanz nicht vorgebracht hat, dass er die verantwortliche Leitung für Gerüstarbeiten hatte und ihm Anordnungsbefugnis im Sinne der Bauarbeiterschutzverordnung zukam. Sein diesbezügliches Vorbringen in der Berufung ist daher wegen Verstoßes gegen das auch in Sozialrechtssachen ausnahmslos geltende Neuerungsverbot (RS0042049) unbeachtlich. Der Kläger hat in erster Instanz vorgebracht, dass er im 3. Jahr Partie-Führer geworden sei und Gerüstherstellungen, Einschulungen neuer Helfer und selbständige Arbeiten durchführen habe können; nach fertiggestelltem Gerüstaufbau sei ein Techniker vorbeigekommen und habe unter Abgehen des Baugerüstes Sicherheit und Statik kontrolliert, um es dann im Abnahme-Protokoll unter Angabe der Art (Baugerüst, Aufzugsgerüst.…) und des Ausführenden (= Kläger), freizugeben.

Daraus folgt aber gerade nicht, dass der Kläger die verantwortliche Leitung der Gerüstarbeiten über gehabt hätte und eine Anordnungsbefugnis im Sinne der Bauarbeiterschutzverordnung. Vielmehr wurde das Gerüst nach dem Aufbau von einem Techniker kontrolliert auf Sicherheit und Statik. Der Kläger war nach seinem Vorbringen in erster Instanz nur Ausführender, sodass die manuelle Arbeit als Gerüster mit den entsprechenden Berufserfahrungen und Fachkenntnissen im Vordergrund stand. Er hat in erster Instanz auch nicht vorgebracht, dass er über theoretische Kenntnisse der Schutzverordnung und Normen betreffend die Gerüste verfügt sowie deren Aufbau und Belastbarkeit. Dass die notwendige Überprüfung in seinen Aufgabenbereich als fachkundige Person gefallen wäre, hat er gerade nicht vorgebracht, sondern auf die Kontrolle durch einen Techniker Bezug genommen. Er hat in erster Instanz auch nicht vorgebracht, dass er mit Aufgaben der organisatorischen Tätigkeit als Hilfsorgan des Dienstgebers betraut gewesen wäre und mit Anordnungs- und Aufsichtsbefugnis ausgestattet gewesen sei.

Anders als in dem zu 10 ObS 372/98y zu beurteilenden Fall behauptete der Kläger in erster Instanz daher keinen Sachverhalt im Sinne der in der Berufung spezifizierten Ausführungen, nämlich, dass er die fachkundige, anordnungsbefugte Person im Sinne der Bauarbeiterschutzverordnung gewesen sei.

Das Erstgericht war folglich auch nicht gehalten, die vom Kläger gerügten fehlenden Feststellungen zu treffen. Sekundäre Feststellungsmängel liegen nicht vor.

2. Mängelrüge

Ein Verfahrensmangel gemäß § 496 Abs 1 Z 2 ZPO liegt vor, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, welcher eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache verhindert. Die Mangelhaftigkeit des Verfahrens muss auf einem Fehler des Gerichts beruhen ( Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 496 Rz 7).

Auch in der Mängelrüge zitiert der Kläger sein Vorbringen im Schriftsatz ON 15 unrichtig. Tatsächlich hat er dort nicht vorgebracht, dass er ab dem 3. Jahr die verantwortliche Leitung für Gerüstarbeiten hatte.

Es ist zwar zutreffend, dass der Kläger zum Beweis seines Vorbringens in ON 15 seine Einvernahme beantragte und das Erstgericht diese nicht durchführte. Wenn der Kläger aber nunmehr zur Darlegung der Relevanz des Verfahrensmangels vorbringt, dass er im Rahmen seiner Einvernahme seine Anordnungsbefugnis und Tätigkeiten im Sinne der gerügten sekundären Feststellungsmängel darlegen hätte können, ist ihm entgegenzuhalten, dass er eine solche Anordnungsbefugnis und Tätigkeiten in erster Instanz nicht vorgebracht hat.

Damit gelingt ihm nicht, einen wesentlichen Verfahrensmangel darzulegen.

3. Der Berufung kommt somit keine Berechtigung zu.

4.Ein Zuspruch von Kosten des Berufungsverfahrens nach Billigkeit nach § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG hatte nicht zu erfolgen, weil keine Billigkeitsgründe dargelegt wurden und auch aus dem Akt nicht ersichtlich sind.

5.Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil eine Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG geforderten Qualität nicht zu beurteilen war.