8Bs78/25i – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richterin Mag. Reinberg als Vorsitzende, die Richterin Mag. Haidvogl und den Richter Mag. Grosser in der Übergabesache des A* zur Strafverfolgung an das Vereinigte Königreich über die Beschwerde des Betroffenen gegen den Übergabebeschluss des Landesgerichts Salzburg vom 3. April 2025, HR*-50, in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:
Spruch
Der Beschwerde wird dahin teilweise Folge gegeben, dass der angefochtene Übergabebeschluss aufgehoben und die Übergabesache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen wird (§§ 1 ff INÜG iVm § 21 Abs 1 EU-JZG iVm § 31 Abs 6 ARHG iVm § 89 Abs 2a Z 3 StPO).
Text
Begründung:
Aufgrund des Haftbefehls des Guildford Magistrates Court vom 15. Jänner 2025 behängt bei der Staatsanwaltschaft Salzburg zu HSt*seit 19. Februar 2025 ein Übergabeverfahren an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung gegen den irischen Staatsangehörigen A*.
Danach steht A* in Verdacht, im Zeitraum von 2012 bis 2017 schwere Sexualstraftaten an zwei Kindern, „B*“ und „C*“, begangen zu haben. Konkret wird A* zur Last gelegt, er habe
1./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 versucht, „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, in der D* zu vergewaltigen;
2./ zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren“, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Anus einführte;
3./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 in der D* „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, sexuell durch Berühren ihrer Vagina genötigt;
4./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, sexuell durch Eindringen in ihre Vagina mit seinen Fingern in der D* genötigt;
5./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 in der D* die Vagina von „B*“, einem Kind unter 13 Jahren, vorsätzlich mit seiner Zunge penetriert;
6./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, in der D* dazu angestiftet, seinen Penis zu berühren;
7./ zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, veranlasst, ihn in der D* per Videoanruf bei der Masturbation seines erigierten Penis zu beobachten;
8./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, während sie auf seinem Schoß saß;
9./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er ihr erstmalig seinen Penis in den Mund steckte;
10./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er – abgesehen des Pkt I) – seinen Penis bei mindestens zwei Gelegenheiten in ihren Mund steckte;
11./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E*D* veranlasst, pornographisches Material anzusehen und ihr seinen Penis gezeigt;
12./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* zu sexuellen Handlungen veranlasst, indem er ihre Vagina leckte;
13./ zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, angegriffen, indem er mit seinen Fingern in ihre Vagina eindrang;
14./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Anus einführte;
15./ zwischen dem 31. Jänner 2017 und dem 13. Februar 2017 als Person über 18 Jahren versucht, „C“, ein Kind im Alter von 15 Jahren, vorsätzlich zu sexuellen Handlungen anzustiften, nämlich unsittliche Bilder bereitzustellen;
16./ zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, zu einer sexuellen Handlung veranlasst, indem er sie veranlasste, seinen Penis in der E* zu berühren;
17./ zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 sexuelle Handlungen mit „B*“, einem 14-jährigen Kind, vorgenommen, indem er ihre Brüste berührte;
18./ zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Mund steckte;
19./ zwischen dem 29. Jänner 2017 und dem 4. April 2017 vorsätzlich eine Handlung mit der 15-jährigen „C*“ organisiert, welche die Begehung einer Straftat nach einem der mit §§ 9 bis 13 des Sexual Offences Act 2003 (= britisches Sexualstraftatengesetz) zur Folge haben würde, nämlich die Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind;
20./ zwischen dem 29. Jänner 2017 und dem 4. April 2017 acht unsittliche Bilder von Kindern der Kategorie C angefertigt sowie
21./ zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihre Vagina einführte.
Aufgrund des genannten Sachverhalts wird in Großbritannien ein Ermittlungsverfahren gegen A* wegen
a./ der Straftaten der Vergewaltigung nach § 1 des Sexual Offences Act 2003 (britisches Sexualstraftatengesetz von 2003) (zu 2./, 8./, 9./, 10./, 14./, 18./ und 21./),
b./ der Straftat der versuchten Vergewaltigung nach dem britischen Criminal Attempts Act 1981 (britisches Gesetz gegen versuchte Straftaten von 1981) (zu 1./),
c./ der Straftat des Übergriffes durch Penetration nach § 2 des Sexual Offences Act 2003 (zu 13./),
d./ den Straftaten des Übergriffes auf ein Kind unter 13 Jahren durch Penetration nach § 6 des Sexual Offences Act 2003 (zu 4./ und 5./),
e./ der Straftat des sexuellen Übergriffes auf ein Kind unter 13 Jahren durch Berühren nach § 7 des Sexual Offences Act 2003 (3./),
f./ der Straftat der Anstiftung eines Kindes unter 13 Jahren zu sexuellen Handlungen nach § 8 des Sexual Offences Act 2003 (zu 6./),
g./ der Straftaten der Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind nach § 9 des Sexual Offences Act 2003 (zu 12./ und 17./),
h./ der Straftaten der Anstiftung eines Kindes zu sexuellen Handlungen nach § 10 des Sexual Offences Act 2003 (zu 15./ und16./),
i./ der Straftaten der Veranlassung eines Kindes zum Zusehen bei einer sexuellen Handlung nach § 12 des Sexual Offences Act 2003 (zu 7./ und 11./),
j./ der Straftat der Veranlassung einer sexuellen Handlung an einem Kind mit Penetration nach § 14 des Sexual Offences Act 2003 (zu 19./) sowie
k./ der Straftat der Anfertigung von unsittlichen Fotos von Kindern der Kategorie C nach § 1 (1) (a) und § 6 des Protection of Children Act 1978 (britisches Kinderschutzgesetz von 1978) (zu 20./)
geführt.
Die Höchststrafe beträgt zu a./ bis e./ (je) lebenslängliche Freiheitsstrafe, die Obergrenzen der angedrohten (zeitlichen) Freiheitsstrafen betragen hinsichtlich f./ bis h./ sowie j./ (je) vierzehn Jahre und bezüglich i./ bis k./ (je) zehn Jahre.
Mit dem angefochtenen Beschluss (ON 50) wurde die Übergabe des A* an das Vereinigte Königreich in Vollstreckung des genannten Haftbefehls zur Strafverfolgung unter Vorbehalt der Spezialität für zulässig erklärt.
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Beschwerde des Betroffenen, die primär auf die Unzulässigerklärung der Übergabe, hilfsweise auf die Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung gerichtet ist. In eventu wird weiters beantragt, eine allfällige Auslieferung von in der Beschwerde näher bezeichneten Bedingungen abhängig zu machen.
Die Oberstaatsanwaltschaft äußerte sich ablehnend zu diesem Rechtsmittel.
Rechtliche Beurteilung
Auf den Auslieferungsverkehr mit dem Vereinigten Königreich ist das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, ABI L 444/14 vom 31. Dezember 2020, mit neuer Artikelzählung veröffentlicht in ABI L 149/10 vom 30. April 2021 (hier „EU-UK Abkommen“) unmittelbar anwendbar. Subsidiär kommen – aufgrund analoger Anwendung des Island-Norwegen Übereinkommens (INÜG) – Bestimmungen des EU-JZG und gegebenenfalls des ARHG zum Tragen.
Nach Art 599 Abs 1 EU-UK Abkommen findet die Übergabe zum Zwecke der Strafverfolgung (unter anderem) bei Handlungen statt, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens 12 Monaten bedroht sind. Die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit (vgl Art 599 Abs 2 EU-UK Abkommen) entfällt bei Notifikation einer Straftat als Katalogstraftat und entsprechender Zuordnung durch den Ausstellungsstaat (Art 599 Abs 4 EU-UK Abkommen). Eine solche Zuordnung in die Kategorien „sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie“ und „Vergewaltigung“ wurde im Haftbefehl (als unbedenkliche Prüfungsgrundlage für die Übergabevoraussetzungen; vgl § 19 EU-JZG) vorgenommen, sodass die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit gegenständlich entfallen konnte. Entsprechend den Ausführungen des Erstgerichts, die mit der Beschwerde auch nicht kritisiert werden, bestehen fallkonkret auch keine erheblichen Bedenken gegen die im Haftbefehl geschilderten Vorwürfe, die eine Übergabe unzulässig machen würden.
Der Beschwerdeführer zielt mit seinem Rechtsmittel vielmehr auf die Ablehnung einer Auslieferung aus grundrechtlichen Erwägungen, konkret wegen Verletzung der nach Art 3, 6 und 8 EMRK eingeräumten Garantien ab.
Zum Fehlen von Auslieferungshindernissen nach Art 3 und Art 8 EMRK kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführlichen und zutreffenden Darstellungen im angefochtenen Beschluss (ON 50, S 6 ff) verwiesen werden (vgl RIS-Justiz RS0124017 [T2, T3, T4, T6]), denen auch die Beschwerde keine relevanten Argumente entgegenzuhalten vermag.
Zutreffend hat das Erstgericht entgegen den Beschwerdeausführungen eine mögliche Verletzung von Art 3 EMRK durch menschenrechtswidrige Haftbedingungen unter Hinweis auf die vorliegende Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (ON 22, S 15), die Berichte des Komitees zur Verhütung von Folter (CPT; ON 47 und 48) und insbesondere eine aktuelle Mitteilung samt Zusicherungen des HM Prison Probation Service vom 27. März 2025 (ON 40.5) verneint und sich insbesondere ausführlich mit der Ausstattung des Einzelhaftraums in der Haftanstalt F*, Möglichkeiten der Beschäftigung und Ausbildung während der Haft (Bewegung, Arbeit), der medizinischen Versorgung (dies auch mit Blick auf die behauptete Suizidgefährdung) und Hygiene sowie Sicherheitsfragen (fehlende Überbelegung in genannter Haftanstalt, ausreichend Wachpersonal, Zuteilung eines Einzelhaftraums) auseinandergesetzt. Mit seinem Verweis auf (teilweise bereits länger zurückliegende) Pressemitteilungen und Berichte samt der pauschalen Behauptung, die britischen Behörden würden (entgegen der Aktenlage; vgl ON 40.5, S 5) weder seine Sicherheit noch menschenrechtskonforme Haftbedingungen für ihn garantieren können, gelingt es dem Beschwerdeführer nicht, die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer konkreten aktuellen ernsthaften Gefahr nachzuweisen, entsprechen doch die Haftbedingungen in der betreffenden Haftanstalt nach den vom Gericht beigeschafften unbedenklichen und aktuellen Informationen internationalen Standards.
Zu Recht verneinte das Erstgericht auch einen Verstoß gegen Art 8 EMRK (bzw § 22 ARHG) unter Hinweis auf die besondere Schwere der dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Taten.
Mit Blick auf die dem Betroffenen vorgeworfenen strafbaren Handlungen ist auch die Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe als mögliche Höchststrafe und die Möglichkeit einer Strafenkumulation per se nicht als Verstoß gegen Art 6 EMRK anzusehen. Dem Beschwerdeführer – und mit ihm der Oberstaatsanwaltschaft – ist jedoch darin beizupflichten, dass – entgegen der Annahme des Erstgerichts – der angefochtene Beschluss den Vorgaben des Art 604 lit a EU-UK Abkommen nicht entspricht. Nach dieser Bestimmung kann die Vollstreckung eines Haftbefehls, dem eine mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Straftat zugrundeliegt, (unter anderem) an die Bedingung geknüpft werden, dass der Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach er die verhängte Strafe auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren prüfen oder für Gnadenakte eintreten wird, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe führen können und auf die die betreffende Person nach dem nationalen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsstaats Anspruch hat.
Den Annahmen des Erstgerichts zuwider lässt sich aus dem Inhalt des Haftbefehls nicht ableiten, dass dem Betroffenen „nach 20 Jahren das Recht zukomme, seine bedingte Entlassung zu beantragen“. Davon abgesehen, dass diese auf einen frühestmöglichen Zeitpunkt einer Antragstellung abstellende Formulierung des Erstgerichts den weitergehenden Vorgaben des Art 604 lit a EU-UK Abkommen nicht gerecht wird, kündigte das Vereinigte Königreich im Haftbefehl – entsprechend dem Beschwerdevorbringen – lediglich an, auf Ersuchen des Vollstreckungsstaats (upon request) zusichern zu werden, die verhängte Strafe auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren zu überprüfen (ON 4.6, S 18). Es mangelt somit nicht nur an der – im bekämpften Beschluss als bereits vorliegend angenommenen – Zusicherung des Ausstellungsstaates iSd Art 604 lit a EU-UK Abkommen, sondern bereits an einem dafür erforderlichen entsprechenden Ersuchen des Vollstreckungsstaats.
Der angefochtene Beschluss war daher gemäß §§ 1 ff INÜG iVm § 21 Abs 1 zweiter Satz EU-JZG iVm § 31 Abs 6 dritter Satz ARHG iVm § 89 Abs 2a Z 3 StPO aufzuheben und das Verfahren an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen.
Gemäß §§ 1 ff INÜG iVm § 21 Abs 1 zweiter Satz EU-JZG iVm § 31 Abs 6 dritter Satz ARHG konnte von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung über die Beschwerde abgesehen werden und war der Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung zu fassen.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§§ 1 ff INÜG iVm § 21 Abs 1 EU-JZG iVm § 31 Abs 6 ARHG iVm § 89 Abs 6 StPO).