JudikaturOLG Linz

4R12/25z – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
Zivilrecht
02. April 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz als Berufungsgericht hat durch Senatspräsident Mag. Gerhard Hasibeder als Vorsitzenden sowie MMag. Andreas Wiesauer und Mag. Stefan Riegler in der Rechtssache des Klägers A*, geboren am **, Angestellter, **-Straße **, ***, vertreten durch Mag. Gernot Strobl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die Beklagten 1. B*, geboren am **, Taxifahrer, **straße **, **, 2. C* OG, FN **, ** Straße **, **, und 3. D* AG, **platz **, **, alle vertreten durch die Grgic Partneri Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Wien, wegen EUR 37.726,00 s.A. und Feststellung (Berufungsstreitwert EUR 16.800,00), über die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 9. Dezember 2024, Cg*-37, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt der Entscheidung des Erstgerichtes nach rechtskräftiger Erledigung der Streitsache vorbehalten.

Der Wert des Entscheidungsgegenstandes übersteigt EUR 5.000,00, nicht aber EUR 30.000,00.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Entscheidungsgründe:

Am 31. Juli 2023 um ca. 18.15 Uhr kam es in ** auf Höhe der Adresse E*straße ** im Kreuzungsbereich mit der F*straße zu einem Verkehrsunfall zwischen dem vom Kläger gelenkten und gehaltenen Motorrad Ducati und dem vom Erstbeklagten gelenkten, von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten aufrecht haftpflichtversicherten Pkw der Marke Toyota (Taxi).

Der Kläger begehrt zuletzt Schadenersatz in Höhe von EUR 37.726,00 samt Zinsen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zwei Drittel sämtlicher künftiger Schäden aus diesem Verkehrsunfall. Der Erstbeklagte habe eine Vorrangverletzung zu verantworten, weil er beim Linksabbiegen den Vorrang des entgegenkommenden Klägers missachtet habe. Die dem Kläger anzulastende überhöhte Geschwindigkeit rechtfertige eine Reduktion seiner Ansprüche um ein Drittel.

Die Beklagten bestritten und wendeten Alleinverschulden des Klägers aufgrund einer massiven Überschreitung der geltenden Geschwindigkeitsbegrenzung ein. Jedenfalls sei das Mitverschulden des Klägers weitaus höher, da er eine Bremsausgangsgeschwindigkeit von 84 bis 90 km/h eingehalten habe.

Mit dem angefochtenen Urteil erkannte das Erstgericht die Beklagten schuldig, dem Kläger EUR 14.300,00 samt Zinsen zu bezahlen, stellte die Haftung der Beklagten für sämtliche künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 31. Juli 2023 zur Hälfte fest und wies das Leistungsmehrbegehren von EUR 23.426,00 samt Zinsen und das Feststellungsmehrbegehren ab.

Es stellte neben den eingangs wiedergegebenen Außerstreitstellungen den auf den Seiten 2 bis 6 der Urteilsausfertigung angeführten Sachverhalt fest, auf den grundsätzlich verwiesen wird (§ 500a ZPO). Für das Berufungsverfahren sind folgende Feststellungen hervorzuheben:

Die E*straße, welche am Unfallort bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h im Ortsgebiet liegt, verläuft in Fahrtrichtung stadtauswärts mit zwei Fahrstreifen, die durch eine Mittellinie voneinander geteilt sind. Von der der Unfallsörtlichkeit vorausgehenden ampelgeregelten Kreuzung der E*straße mit der F*straße auf Höhe des dort befindlichen Einkaufszentrums „G*“ ist ab der Haltelinie bis zur Unfallsörtlichkeit eine Wegstrecke von ca. 120 m zu bewältigen.

Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad auf der E*straße stadtauswärts am rechten der beiden Fahrstreifen. Er blieb bei der ampelgeregelten Kreuzung auf Höhe des „G*“ stehen. Nach dem Losfahren beschleunigte er bei einer Fahrlinie knapp rechts der Breitenmitte des rechten stadtauswärts führenden Fahrstreifens sehr stark auf 84 bis 90 km/h. Als er das seinen Fahrstreifen kreuzende Beklagtenfahrzeug wahrnahm, bremste er 1,8 bis 2 Sekunden vor der Kollision - bei Einhaltung einer Gefahrerkennungszeit und Wahrnehmungsdauer von 1 bis 1,7 Sekunden - auf die Kollisionsgeschwindigkeit von 68 bis 74 km/h ab.

Der Erstbeklagte fuhr mit seinem Taxi auf der E*straße stadteinwärts und reihte sich auf den vorhandenen Linksabbiegestreifen ein, um nach links in die F*straße einzubiegen. Er blieb stehen und begann sodann das Linksabbiegemanöver, wobei er das herannahende Motorrad des Klägers übersah.

Der Erstbeklagte hätte den Unfall vermieden können, wenn er sich unmittelbar vor seinem Linksabbiegevorgang durch Beobachtung des Gegenverkehrs vergewissert hätte, ob er gefahrlos abbiegen kann. Dann hätte er das entgegenkommende, bereits seit mehr als vier Sekunden stark beschleunigende und mit bereits 60 bis 65 km/h in den gefahrenbehafteten Nahbereich eintretende Klagsfahrzeug in einer Entfernung von bis zu 75 Meter erkennen können und dann durch vorläufiges Zuwarten mit dem Linksabbiegemanöver die Kollision vermeiden können.

Auch der Kläger hätte den Unfall durch Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h vermeiden können. Hätte er nicht auf eine Geschwindigkeit von über 50 km/h beschleunigt, wäre das Abbiegemanöver des Erstbeklagten bei Erreichen der Kollisionsstelle durch den Kläger bereits beendet gewesen und die Fahrzeuge wären nicht kollidiert.

In rechtlicher Hinsicht warf das Erstgericht dem Erstbeklagten eine Vorrangverletzung (§ 19 Abs 6 StPO; richtig und gemeint wohl § 19 Abs 5 StVO) infolge eines Aufmerksamkeitsfehlers vor. Den Kläger treffe allerdings ein Mitverschulden, da er mit einer Geschwindigkeit von 84 bis 90 km/h gefahren sei, obwohl nur 50 km/h erlaubt gewesen seien. Wenngleich die Missachtung des Vorrangs regelmäßig schwerer wiege als andere Verkehrswidrigkeiten (RS0026775), sei in Anbetracht der beiden Schutznormverletzungen und insbesondere der krassen Geschwindigkeitsübertretung des Klägers im vorliegenden Fall eine Verschuldensteilung von 1:1 angemessen (vgl 8 Ob 114/83).

Gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die rechtzeitige Berufung der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag dahin, das Klagebegehren im Umfang der Anfechtung abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger erstattete eine Berufungsbeantwortung mit dem Antrag, der Berufung keine Folge zu geben.

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufungswerber vertreten in ihrer Rechtsrüge zusammengefasst die Ansicht, dass die krass fahrlässige und rücksichtslose Raserei des Klägers im Ortsgebiet eine Verschuldensteilung von mindestens 2:1 zu Lasten des Klägers rechtfertigen würde, wenn nicht sogar vom Alleinverschulden des Klägers am Zustandekommen des Verkehrsunfalles auszugehen sei. Das Erstgericht habe die völlig maßlose und eklatante Geschwindigkeitsüberschreitung des Klägers, der gleichsam wie ein Rennfahrer sein Motorrad auf nicht ganz 100 km/h beschleunigt habe, nicht in ausreichender Weise berücksichtigt. Der Erstbeklagte habe zu Recht davon ausgehen können, sein Linksabbiegemaönver noch vor einer allfälligen Kollision mit dem Kläger durchführen zu können. Aufgrund der rücksichtslosen Raserei des Klägers mit nicht ganz 100 km/h im Ortsgebiet wiege dessen Fehlverhalten bedeutend schwerer als die Vorrangverletzung des Erstbeklagten. Bei besonderen Umständen des Einzelfalles könne auch der (vorrangberechtigte) Unfallgegner allenfalls mit dem überwiegenden Verschulden belastet werden.

Nach ständiger Rechtsprechung wiegt ein Verstoß gegen die gesetzlichen Bestimmungen über den Vorrang schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten (zahlreiche Entscheidungen in RS0026775). Der Grundsatz, dass ein Verstoß gegen die Vorrangregelungen als einer der Grundlagen des Verkehrsrechts schwerer wiegt als eine Geschwindigkeitsüberschreitung, gilt jedoch nur so lange, als diese Geschwindigkeitsüberschreitung nicht als besonders schwerwiegend zu qualifizieren ist. Eine solche erhebliche Verletzung einer Geschwindigkeitsbeschränkung, die zum Ausspruch eines gleichteiligen Verschuldens führt, ist in der Regel bei einer Überschreitung um 50 bis 100 % anzunehmen (ZVR 1983/188; OLG Linz 4 R 37/20v).

Die Beweislast für Tatumstände, aus denen ein Mitverschulden des Geschädigten abgeleitet werden kann, trifft den Haftpflichtigen (RS0022560). Verbleibende Unklarheiten gehen zu seinen Lasten. In diesem Sinn ist nur die geringste der innerhalb eines festgestellten Spielraums angenommenen Geschwindigkeiten der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen (RS0022560 [T8, T13]). Soweit die Berufungswerber von einer Bremsausgangsgeschwindigkeit des klägerischen Motorrads von nicht ganz 100 km/h ausgehen, ist ihnen daher entgegenzuhalten, dass im Sinne der angeführten Rechtssätze zur Beweislast zugunsten des Klägers der rechtlichen Beurteilung eine Geschwindigkeit von 84 km/h zugrunde zu legen ist. Dies entspricht einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 68 %.

Auch wenn zuzugestehen ist, dass bei besonders krasser Verkehrswidrigkeit des Bevorrangten nicht nur - wie hier ohnehin erfolgt - von der Zugrundelegung des überwiegenden Verschuldens des Vorrangverletzers abgegangen, sondern in Ausnahmefällen auch das überwiegende Verschulden des Vorrangberechtigten ausgesprochen werden kann, deckt sich die im vorliegenden Fall für angemessen erachtete Haftungsteilung von 1:1 mit der überwiegenden Judikatur des Obersten Gerichtshofes und ist daher nicht zu beanstanden (RS0026775 [T9, T13, T26, T33, T54]; vgl auch Danzl , EKHG 11 § 11 E42; Schacherreiter in Kletěcka/Schauer, ABGB-ON 1.09 § 1304 Rz 41 und 42).

So hat der Oberste Gerichtshof in vergleichbaren Fällen eine gleichteilige Verschuldensteilung bei Vorrangverletzung versus überhöhte Geschwindigkeit des Bevorrangten im Ortsgebiet etwa bei 91 statt 50 km/h (ZVR 1982/51), bei 90 statt 50 km/h (ZVR 1986/27), bei 84 statt 50 km/h (ZVR 1984/270), bei 92 statt 60 km/h (ZVR 1976/264) und bei 108 - 109 km/h statt 60 km/h (ZVR 1988/14) angenommen.

Soweit die Berufungswerber vermeinen, dass der Erstbeklagte keinesfalls davon ausgehen habe können, dass der Kläger sein Motorrad auf knapp unter 100 km/h beschleunige, sind sie auf die zugrunde zu legende Feststellung zu verweisen, dass der Erstbeklagte bei Beobachtung des Gegenverkehrs unmittelbar vor seinem Linksabbiegevorgang das entgegenkommende, bereits seit mehr als vier Sekunden stark beschleunigende und mit bereits 60 bis 65 km/h in den gefahrenbehafteten Nahbereich eintretende Klagsfahrzeug in einer Entfernung von bis zu 75 Metern erkennen und durch vorläufiges Zuwarten mit dem Linksabbiegemanöver die Kollision vermeiden hätte können (US 3).

Insgesamt musste der Berufung daher ein Erfolg versagt bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.

Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstandes orientiert sich an der Bewertung des Feststellungsbegehrens durch den Kläger.

Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil die Beurteilung des Verschuldensgrads und das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten wegen ihrer Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden können (RS0087606).