JudikaturOGH

10ObS44/25f – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. September 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und die Hofrätin Dr. Wallner Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer und Mag. Arno Sauberer (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Kinberger Schuberth Fischer Rechtsanwälte GmbH in Zell am See, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84 86, vertreten durch Dr. Eva Maria Bachmann und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kostenerstattung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 17. Februar 2025, GZ 12 Rs 9/25t 21, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits und Sozialgericht vom 13. November 2024, GZ 56 Cgs 152/24a 16, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang der Abweisung des Klagebegehrens (Kostenerstattung von 4.603,20 EUR) unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, werden im übrigen Umfang (Kostenerstattung von 1.196,80 EUR) aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird im Umfang der Aufhebung zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Nach Entfernung nicht erhaltungswürdiger Zähne sowie eines Implantats wurden beim Kläger am 14. 5. 2024 vier Implantate in Regio 45, 42, 32 und 35 gesetzt.

[2] Eine Versorgung mit einer schleimhautgetragenen Totalprothese im Unterkiefer wäre prinzipiell möglich, würde allerdings die funktionelle Stilllegung der intakten Implantatversorgung in Regio 47 und die Entfernung des Zahns 37 – der zwar einen deutlichen parodontalen Abbau, aber keine wesentlich erhöhte Beweglichkeit zeigt – bedeuten, was medizinisch nicht indiziert ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn aufgrund medizinischer Indikation keine andere Lösung möglich wäre. Technisch gesehen wäre eine schleimhautgetragene Unterkieferprothese bei Implantatversorgung in Regio 47 und kronenversorgtem Zahn 37 möglich.

[3] Als medizinisch indizierte Minimalvariante ist eine herausnehmbare Teilprothese mit Verankerung auf dem bestehenden Implantat (Regio 47) – dessen Kosten dem Kläger nicht durch die Beklagte erstattet wurden – sowie zwei zusätzlichen Implantaten und einem Aufleger auf Zahn 37 anzusehen. Diese würde den Patienten funktionell und ästhetisch rehabilitieren, ohne vorbestehende noch funktionierende Strukturen zu entfernen. Dabei handelt es sich um ein sicheres Verfahren, das in der Regel über viele Jahre funktioniert.

[4] Die beim Kläger gewählte festsitzende Versorgung auf zusätzlichen vier Implantaten stellt eine funktionell höherwertige Versorgung dar und überschreitet das Maß des Notwendigen.

[5] Mit Bescheid vom 8. 7. 2024 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 26. 6. 2024 auf Kostenübernahme für die von Dr. J* erbrachte zahnärztliche Leistung vom 14. 5. 2024 in Höhe von 5.800 EUR ab.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Übernahme dieser Kosten (Einsatz von vier Implantaten in Regio 44, 42, 32, 34 laut Rechnung) durch die Beklagte. Die Setzung von Implantaten sei für die Erhaltung der Bissfähigkeit aufgrund medizinischer Indikation notwendig. Durch andere Versorgungsmaßnahmen, insbesondere durch eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz sei die Bissfestigkeit nicht zu erhalten.

[7] Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, dass beim Kläger kein medizinischer Sonderfall bestehe, der einen festsitzenden Zahnersatz rechtfertigen würde. Eine Versorgung des Klägers mit einem abnehmbaren Zahnersatz und somit einer schleimhautgetragenen Totalprothese sei medizinisch möglich.

[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Umfang von 1.196,80 EUR für zwei Implantate Folge und wies das Mehrbegehren ab.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen den klagestattgebenden Teil der Entscheidung Folge und wies das Klagebehren zur Gänze ab. Kostenersatz für einen festsitzenden Zahnersatz stehe nur zu, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich sei. Ein solcher Fall liege hier nicht vor, auch wenn dazu das Implantat Regio 47 und der Zahn 37 entfernt werden müssten.

[10] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zur Frage zugelassen, ob ein bereits bestehendes Implantat bei der Beurteilung der „Notwendigkeit“ eines weiteren festsitzenden Zahnersatzes zu berücksichtigen sei.

[11] In seiner dagegen gerichteten Revision beantragt der Kläger die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils.

[12] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[14] 1.Nach § 90 Abs 2 GSVG muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden.

[15]Gemäß § 94 Abs 1 Z 2 GSVG ist Zahnersatz, der notwendig ist, um eine Gesundheitsstörung oder eine wesentliche Störung der Berufsfähigkeit hintanzuhalten, eine Pflichtleistung. Hierfür kann die Krankenordnung eine Gebrauchsdauer vorsehen. Zahnersatz ist nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzungen zu gewähren. § 90 Abs 2 GSVG gilt entsprechend (§ 94n Abs 2 GSVG).

[16] 2. Nach § 14 Abs 1 Satz 2 SVS Satzung 2024, avsv 2023/81, wird als notwendiger bzw unentbehrlicher Zahnersatz im Allgemeinen der abnehmbare Zahnersatz samt medizinisch notwendiger Halteelemente (Klammerzahnkrone) erbracht. Festsitzender Zahnersatz wird nur dann erbracht, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist. Dies ist der Fall

1. bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,

2. bei Tumorpatienten in der postoperativen Rehabilitation,

3. bei Patienten nach polytraumatischen Kieferfrakturen in der posttraumatischen Rehabilitation,

4. bei Patienten mit extremen Kieferrelationen (zB extreme Progenie, Prognathie, totale Atrophie des Kieferkammes),

die eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz nicht zulässt/zulassen. Zum notwendigen Zahnersatz gehört auch die notwendige Reparatur von notwendigen Zahnersatzstücken.

[17] 3. Nach der Rechtsprechung zählt § 14 Abs 1 Satz 3 SVS Satzung 2023 bloß demonstrativ jene medizinischen Fälle auf, in denen die Beklagte für einen festsitzenden Zahnersatz Kostenersatz leistet. Festsitzender Zahnersatz ist somit auch dann zu erbringen, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus anderen als den ausdrücklich genannten medizinischen Gründen nicht möglich ist (10 ObS 96/23z Rz 24 ff).

[18] 4.Zweckmäßigkeit im Sinne des § 90 Abs 2 GSVG liegt vor, wenn die Behandlung in Verfolgung der Ziele der Krankenbehandlung erfolgt, erfolgreich oder zumindest erfolgversprechend war. Darunter ist zu verstehen, dass die Behandlung nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet ist, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen (10 ObS 111/13s ErwGr 3.2 mwN). Auf den Zahnersatz bezogen ist Zweckmäßigkeit gegeben, wenn die gesetzten Maßnahmen nach dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Maßnahme objektiv geeignet waren, die durch das Fehlen von Zähnen oder Zahnstücken bzw durch schadhafte Zähne beeinträchtigten Funktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens wiederherzustellen (RS0083804 [T2]). Dabei setzt die Wiederherstellung der beeinträchtigten Funktionen voraus, dass die Maßnahme hinreichend wirksam sein, dh nach Umfang und Qualität auch den Erfolg auf eine bestimmte Zeit gewährleisten muss, um dem Mindeststandard der ausreichenden Leistung zu entsprechen (10 ObS 174/93).

[19] 5.Das Maß des Notwendigen im Sinne des § 90 Abs 2 GSVG bestimmt sich zwar aus dem Zweck der Leistung; notwendig ist jedoch nur jene Maßnahme, die zur Erreichung des Zwecks unentbehrlich oder unvermeidbar ist. Diese Einschränkung soll unnotwendige und kostenintensive Maßnahmen vermeiden, die finanzielle Belastung in Grenzen halten und so dem Gebot der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung zum Durchbruch verhelfen. Bei mehreren gleichermaßen zweckmäßigen Behandlungsmethoden ist jeweils diejenige zu wählen, welche die geringsten Kosten verursacht, bzw bei der die Relation der Kosten zum Nutzen (Heilerfolg) am Günstigsten ist (10 ObS 38/11b ErwGr 1.; 10 ObS 157/09z ErwGr 2.1. mwN).

[20] 6.Die Zweckmäßigkeit einer Krankenbehandlung darf dennoch nicht allein nach ökonomischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Vielmehr ist auch das Ausmaß der Betroffenheit des Patienten im Einzelfall zu berücksichtigen. Bei im Wesentlichen wirkungsgleichen diagnostischen oder therapeutischen Verfahren ist jedoch das billigere zu wählen (RS0083816). Mit „Betroffenheit“ des Patienten sind die Auswirkungen der konkreten strittigen Behandlung auf den Patienten gemeint (RS0083816 [T7]). Die Höhe der Kosten tritt als Argument umso mehr in den Hintergrund, je höher das tangierte Gut zu bewerten ist (RS0083823 [T1]). Davon, dass das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen überschritten wird, kann daher nur ausgegangen werden, wenn eine überflüssige oder mit den Regeln der ärztlichen Wissenschaft nicht zu vereinbarende Therapie angewendet wurde. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn zwischen den Kosten der unterschiedlichen Behandlungsmethoden ein Missverhältnis besteht, das in der den Versicherten schonenderen Behandlungsweise kein Äquivalent findet (RS0083823 [T4]).

[21] 7. Diesen Grundsätzen wird die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht gerecht. Sie hätte zur Folge, dass sich der Kläger im Unterkiefer einen gesunden Zahn (Regio 37) und ein funktionsfähiges Implantat (Regio 47) entfernen lassen müsste, (nur) um die kostengünstigste Versorgung mit einer schleimhautgetragenen Totalprothese zu gewährleisten. Die Entfernung des gesunden Zahns und des funktionsfähigen Implantats ist medizinisch auch nicht indiziert. Richtig ist zwar, dass diese Vorgangsweise rein medizinisch gesehen möglich wäre, berücksichtigt aber nicht die konkrete Betroffenheit des Klägers.

[22] 8. Eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Kläger für die medizinisch indizierte Minimalvariante einer herausnehmbaren Teilprothese im Unterkiefer Anspruch auf Ersatz der Kosten von zwei Implantaten hat, lässt der bislang festgestellte Sachverhalt aber nicht zu. Aus den Feststellungen ergibt sich nicht, ob sich die nach der „Minimalvariante“ zu setzenden zwei Implantate mit denen, die tatsächlich gesetzt wurden, decken, also ob zwei der tatsächlich gesetzten Implantate dafür verwendbar wären und dafür jedenfalls ein Kostenersatz zustünde.

[23] In Stattgebung der Revision des Klägers waren die Entscheidungen der Vorinstanzen, soweit sie nicht in Rechtskraft erwachsen sind, daher aufzuheben.

[24] 9.Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.