9Ob68/25b – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und Hofräte Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Stiefsohn und Mag. Böhm in der Pflegschaftssache des minderjährigen N*, geboren am * 2020, wegen Obsorge, infolge des außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter J*, vertreten durch Braunsberger-Lechner - Loos Rechtsanwälte in Steyr, gegen den Beschluss des Landesgerichts Steyr als Rekursgericht vom 24. April 2025, GZ 2 R 14/25x 141, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Das Revisionsrekursverfahren wird bis zur Erledigung des von der Mutter erhobenen Parteienantrags auf Normenkontrolle (VfGH G 208–209/2024-2) unterbrochen.
Text
Begründung:
[1] Mit Beschluss vom 30. 9. 2024 entzog das Erstgerichtder Mutter die Obsorge über ihren minderjährigen Sohn N* in den Teilbereichen Pflege und Erziehung und übertrug diese dem Kinder- und Jugendhilfeträger Land * (Spruchpunkt 1.). Der Eventualantrag der Mutter auf Übertragung der Obsorge auf die mütterliche Großmutter wurde abgewiesen (Spruchpunkt 2.). Die Entscheidung wurde gemäß § 44 AußStrG für sofort vorläufig verbindlich und vollstreckbar erklärt (Spruchpunkt 3.).
[2]Gegen diesen Beschluss erhob die Mutter Rekurs und brachte beim Verfassungsgerichtshof einen Parteienantrag auf Normenkontrolle ein, mit dem sie die Aufhebung der Bestimmungen der § 181 ABGB, §§ 13 und 14 Oö KJHG in der geltenden Fassung begehrte. Mit Verständigung vom 30. 12. 2024 teilte der Verfassungsgerichtshof den Vorinstanzen mit, dass die Mutter im zugrunde liegenden Verfahren einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B VG gestützten Antrag gestellt hat.
[3] Mit Beschluss vom 24. 4. 2025 gab das Rekursgerichtdem Rekurs der Mutter, mit dem sie die Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger bekämpfte, nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Eine Innehaltung des Rekursverfahrens bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über den von der Mutter eingeleiteten Parteienantrag auf Normenkontrolle erachtete es nicht für notwendig. Gemäß § 80a AußStrG iVm § 528b ZPO könnten Handlungen, Anordnungen oder Entscheidungen, die die vorläufige Verbindlichkeit, Rechtsgestaltungswirkung oder Vollstreckbarkeit einer Entscheidung betreffen, daher auch Entscheidungen nach § 44 Abs 1 AußStrG, ungeachtet der Antragstellung auf Normenkontrolle getroffen werden. Voraussetzung für die vorläufige Zuerkennung von Beschlusswirkungen nach § 44 Abs 1 AußStrG sei, dass ohne diese Zuerkennung ein erheblicher Nachteil für die Partei oder die Allgemeinheit entstehen würde, welche auch für den Fall einer Normenkontrolle beim Verfassungsgerichtshof zu vermeiden sei. Die Zuerkennung vorläufiger Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit sei insbesondere dort geboten, wo sofortiger Handlungsbedarf bestehe, wie dies im konkreten Fall bei Entziehung der Obsorge wegen Gefährdung des Kindes der Fall sei, weil ein Abwarten bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs dem Fürsorgezweck entgegenstehen würde. Die vom Erstgericht angeordnete Obsorgeübertragung sei im Sinne des Kindeswohls (§ 181 Abs 1 ABGB) erforderlich.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dagegen erhob die Mutter einen außerordentlichen Revisionsrekurs, in welchem sie die Aufhebung in eventu die Abweisung des Antrags auf Obsorgeentziehung, in eventu die Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Beschlusses bzw der Beschlüsse der Vorinstanzen und Rückverweisung der Pflegschaftssache an das Rekursgericht bzw das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung beantragt. Zusammengefasst rügt die Mutter darin, dass das Rekursgericht gegen die Wartepflicht des § 62a VfGG verstoßen habe.
Dazu ist auszuführen:
[5] 1.Nach § 62a Abs 6 VfGG darf das Rechtsmittelgericht bis zur Verkündung bzw Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs – über die aus Anlass des rechtzeitigen und zulässigen Rechtsmittels erhobene Gesetzesbeschwerde (Art 140 Abs 1 Z 1 lit d BVG iVm § 62a Abs 5 VfGG und § 80a Abs 1 AußStrG iVm § 528b Abs 2 ZPO) – nur solche Handlungen oder Anordnungen und Entscheidungen treffen, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten (8 ObA 76/16h vom 27. 1. 2017).
[6] 2.Sind die Voraussetzungen nach § 62a Abs 6 VfGG gegeben, so hat das Rechtsmittelgericht mit dem Verfahren inne zu halten, sobald es durch eine entsprechende Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs (§ 62a Abs 5 VfGG) Kenntnis davon hat, dass beim Verfassungsgerichtshof ein Parteienantrag auf Normenkontrolle eingebracht wurde. Dies bedeutet, dass in einem solchen Fall das Berufungs- oder Rekursgericht – funktionell als Erstgericht – das Rechtsmittelverfahren zu unterbrechen hat (8 ObA 76/16h vom 27. 1. 2017 Pkt 1.2 mwN).
[7] 3.1.Gemäß § 80a Abs 1 AußStrG ist § 528b ZPO sinngemäß anwendbar. Nach § 528b Abs 2 Satz 3 ZPO können Handlungen, Anordnungen oder Entscheidungen, die die vorläufige Verbindlichkeit, Rechtsgestaltungswirkung oder Vollstreckbarkeit einer Entscheidung betreffen, ungeachtet der Antragstellung vorgenommen oder getroffen werden.
[8] 3.2.Eine weitere Ausnahme von der grundsätzlich nach § 62a Abs 6 VfGG vorgesehenen Wartepflicht sieht auch § 80a Abs 1 AußStrG vor. Danach hat das Gericht zweiter Instanz in dem bei ihm anhängigen Verfahren über pflegschaftsgerichtliche Entscheidungen nach § 254 ABGB sowie nach den §§ 28, 29 und 38 UbG und nach den §§ 16 und 17 HeimAufG auch im Fall der Einbringung des Parteiantrags zu entscheiden.
[9] 3.3.Hat aber das Erstgericht – wie hier – eine Obsorgeentscheidung getroffen und seinem Beschluss nach § 44 AußStrG die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt, besteht keine Grundlage und auch keine Notwendigkeit, wegen einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls von der gebotenen Innehaltung nach § 62a Abs 6 VfGG abzusehen. Schließlich soll eine allenfalls normaufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im gerichtlichen Ausgangsverfahren nach Tunlichkeit Berücksichtigung finden (8 ObA 76/16h vom 27. 1. 2017 Pkt 3.2).
[10] 4.Der Verstoß des Rekursgerichts gegen die Innehaltungsverpflichtung des § 62a Abs 6 VfGG begründet nach der Rechtsprechung aber weder eine Nichtigkeit des Rekursverfahrens noch einen Verfahrensmangel, der zur Aufhebung der Entscheidung des Rekursgerichts führt, weil eine (allenfalls) normaufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im gerichtlichen Verfahren vor dessen rechtskräftigem Abschluss noch (vom Obersten Gerichtshof) berücksichtigt werden kann (8 ObA 76/16h vom 27. 1. 2017 Pkt 2.2; RS0130647; vgl Grabenwarter/Musger , Praxisfragen der Gesetzesbeschwerde im Zivilverfahren, ÖJZ 2015/75, 551 [562]).
[11] 5. Aus diesen Gründen hat der Oberste Gerichtshof derzeit über den außerordentlichen Revisionsrekurs noch nicht zu entscheiden, sondern das Revisionsrekursverfahren bis zur Erledigung des von der Mutter erhobenen Parteienantrags auf Normenkontrolle zu unterbrechen.