19Ob1/24x – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Brenn als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Weixelbraun Mohr sowie die Anwaltsrichter Dr. Buresch und Dr. Gerlach als weitere Richter in der Rechtssache der Antragstellerin Mag. P* M*, Rechtsanwaltsanwärterin in *, vertreten durch Dr. Alexandra Sedelmayer Pammesberger, Rechtsanwältin in Wien, wegen Anfechtung der in der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien vom 13. November 2024 erfolgten Wahlen der Mitglieder des Ausschusses aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter und der Mitglieder des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter, nach mündlicher Verhandlung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Anfechtung der in der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien vom 13. November 2024 erfolgten Wahlen der Mitglieder des Ausschusses aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter und der Mitglieder des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter wird abgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Die Antragstellerinfocht mit dem am 20. November 2024 beim Obersten Gerichtshof im ERV eingebrachten Schriftsatz die in der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien (im Folgenden: RAK) vom 13. November 2024 erfolgten Wahlen der Mitglieder des Ausschusses aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter und der Mitglieder des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter gemäß § 24b RAO an. Sie begründete diese Anfechtung im Wesentlichen wie folgt:
[2] An der Plenarversammlung hätten insgesamt 720 Mitglieder mittels Briefwahl bzw Präsenzwahl teilgenommen, wobei sich diese Zahl wie folgt aufgegliedert habe:
[3]Am 14. November 2024 habe der Präsident der RAK die Ergebnisse der Wahlen und Abstimmungen kundgemacht und festgehalten, dass die Kandidaten aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter nicht gewählt worden seien, weil das Quorum nicht erreicht worden sei. Diese Feststellung beruhe auf der rechtsirrigen Auffassung des „Skrutiniums“, das für die Rechtsanwaltswärter eine gesonderte Ermittlung des Quorums zugrunde gelegt habe. Dies sei nicht zulässig, weil weder die Rechtsanwaltsordnung noch die Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer Wien 2021 zur Berechnung der Quoren eine Differenzierung der Mitglieder vorsehe. Abgesehen vom aktiven und passiven Wahlrecht und der Stimmengewichtung bei bestimmten Abstimmungen seien Rechtsanwaltsanwärter den Rechtsanwälten vollkommen gleichgestellt. Dies ergebe sich insbesondere auch aus § 24 Abs 1 Z 1 RAO, wonach der Präsident, die Präsidentenstellvertreter, die Prüfungskommissäre sowie die Rechnungsprüfer durch alle Kammermitglieder gewählt werden.
[4] Die Rechtsanwaltskammer Wienbeantragte, der Wahlanfechtung keine Folge zu geben. Für die Wahlen von Mitgliedern des Ausschusses und des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter seien gemäß § 24 Abs 1 Z 3 RAO bzw § 7 Abs 1 Z 3 DSt nur die Rechtsanwaltsanwärter stimmberechtigt. An den angefochtenen Wahlen hätten nach dem Protokoll 77 Rechtsanwaltsanwärter teilgenommen (davon 76 gültig und 1 ungültig). Dies seien 5,41 % der insgesamt stimmberechtigten 1.422 Rechtsanwaltsanwärter. Innerhalb der allein stimmberechtigten Gruppe der Rechtsanwaltsanwärter sei daher das 10%ige Quorum des § 9 Abs 1 GeO 2021 nicht erreicht worden. Aus diesem Grund sei im Protokoll des „Skrutiniums“ auch festgehalten worden, dass die Wahlen von Mitgliedern aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter mangels Erreichung des Quorums nicht zustande gekommen seien. § 9 Abs 1 GeO 2021 könne verfassungskonform nur dahin ausgelegt werden, dass es sich um die bei der betreffenden Wahl stimmberechtigten Kammermitglieder handle. Dass dies die RAO nicht ausdrücklich vorsehe, habe den historischen Grund darin, dass früher nur Rechtsanwälte Kammermitglieder gewesen seien.
Folgender Sachverhalt steht fest:
[5] Auf die Plenarversammlung vom 13. November 2024 war die vom BMJ genehmigte Geschäftsordnung der RAK 2021 (GeO 2021) anzuwenden. Diese hat den Charakter einer von der Plenarversammlung erlassenen Verordnung.
[6] Gemäß dem Protokoll zur Stimmabgabe der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien vom 13. November 2024 betrug die Wahlbeteiligung bei den Rechtsanwälten 17,04 %, bei den Rechtsanwaltsanwärtern 5,41 % und bei Rechtsanwaltsanwärtern und Rechtsanwälten gesamt 13,85 %. Nach dem Protokoll des „Skrutiniums“ (Stimmenzähler gemäß § 12 Abs 5 GeO 2021) zur Stimmabgabe der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien 2024 vom 13./14. November 2024 wurden die Kandidaten für den Ausschuss und den Disziplinarrat jeweils aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter mit dem Hinweis „Quorum nicht erreicht“ als nicht gewählt erklärt. Die Wahlergebnisse der Plenarversammlung wurden am 14. November 2024 im allgemein zugänglichen Bereich der Website der RAK kundgemacht.
Rechtliche Beurteilung
[7] Zur Beweiswürdigung ist auszuführen, dass die getroffenen Feststellungen auf dem dazu von den Parteien übereinstimmend erstatteten Vorbringen sowie den vorgelegten unbedenklichen Urkunden beruhen und im Übrigen unstrittig sind.
In rechtlicher Beurteilung wird erwogen:
1. Zur Zulässigkeit der Wahlanfechtung:
[8]Die Zulässigkeit der Wahlanfechtung wurde von der RAK nicht bestritten. Der Oberste Gerichtshof hat schon in der Entscheidung zu 19 Ob 2/19m (AnwBl 2020, 318 [ Buresch ; Murko]) ausgesprochen, dass auch der in § 24b Abs 1 RAO nicht erwähnte Fall, dass ein Kandidat zu Unrecht als nicht gewählt erklärt wurde, per analogiam als Anfechtungsgrund geltend gemacht werden kann (so auch Rohregger in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO 11 § 24b Rz 3; offenbar aA Enzinger in Murko/Nunner Krautgasser[Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht § 24b RAO Rz 10). Der Senat sieht sich nicht veranlasst, von seiner in der Entscheidung zu 19 Ob 2/19m vertretenen Auffassung abzugehen. Da in der Wahlanfechtung behauptet wird, dass zwei Kandidaten zu Unrecht als nicht gewählt erklärt wurden, ist diese zulässig.
2. Zur Berechnung des Teilnahmequorums:
[9]2.1. Gemäß § 27 Abs 4 RAO ist die Plenarversammlung beschlussfähig, wenn mindestens ein Zehntel der Kammermitglieder an der Abstimmung teilnimmt. Zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnungen ist ein Teilnahmequorum von einem Fünftel der Kammermitglieder erforderlich. Die Plenarversammlung ist befugt, ihre Geschäftsordnung und die Geschäftsordnung des Ausschusses festzusetzen (§ 27 Abs 1 lit a RAO). Demgemäß enthält die GeO 2021 Bestimmungen über die Plenarversammlung der RAK (§§ 3 ff) und den Ausschuss (§§ 13 ff).
[10] Nach § 9 Abs 1 GeO 2021 ist die Plenarversammlung, soweit diese Geschäftsordnung nichts anderes bestimmt, bei Anwesenheit von mindestens einem Zehntel der Kammermitglieder beschlussfähig. In diese Zahl ist im Falle einer Briefwahl auch die Anzahl der eingelangten Briefwahlstücke einzurechnen. Diese Mindestzahl gilt auch für die Gültigkeit einer Wahl.
[11]2.2. Bis 2009 waren nur Rechtsanwälte Kammermitglieder und daher in der Plenarversammlung stimmberechtigt. Mit dem BRÄG 2010, BGBl I Nr 141/2009, wurden auch die in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter eingetragenen Rechtsanwaltsanwärter zu Kammermitgliedern. § 24 Abs 1 RAO, der bis dahin vorsah, dass der Präsident, der Präsidenten-Stellvertreter und die Mitglieder des Ausschusses aus der Mitte der Kammermitglieder gewählt werden, erhielt ab 1. Jänner 2010 folgende differenzierende Regelung:
[12]Eine im Wesentlichen gleichlautende Regelung wurde für die Wahl des Präsidenten, des Kammeranwalts und dessen Stellvertreter sowie der Mitglieder des Disziplinarrats geschaffen (§ 7 Abs 1 DSt). Unverändert blieb hingegen die Bestimmung des § 27 Abs 4 RAO über das erforderliche Teilnahmequorum (ein Zehntel der an der Abstimmung teilnehmenden Kammermitglieder bzw bei Beschlussfassungen über die Geschäftsordnung sowie über die Satzung der Versorgungseinrichtung ein Fünftel der Kammermitglieder).
[13]2.3. Nach § 24 Abs 3 RAO waren ab 1. Jänner 2010 bei Wahlen nach Abs 1 Z 1 leg cit die Stimmen der Rechtsanwaltsanwärter so zu gewichten, dass jeweils zwei Stimmen von Rechtsanwaltsanwärtern der Stimme eines Rechtsanwalts entsprachen; Gleiches galt bei einer im Rahmen einer Plenarversammlung vorgenommenen Abstimmung. Dieser letzte Halbsatz wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 11. Juni 2013, G 31/2013 ua, V 20/2013 ua (VfSlg 19751) als verfassungswidrig aufgehoben. Nach dessen Auffassung sei zwar eine unterschiedliche Stimmgewichtung grundsätzlich sachlich gerechtfertigt, dies treffe aber nicht bei den unmittelbar die Rechtsanwaltsanwärter betreffenden Regelungen der Umlagenordnung und der Beitragsordnung zu. Seit 1. Juli 2014 haben daher auch Rechtsanwaltsanwärter bei Abstimmungen über Angelegenheiten nach § 27 Abs 1 lit d RAO ein vollwertiges Stimmrecht ( Rohregger in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO 11 § 24 Rz 10 f).
[14]Im zitierten Erkenntnis unterzog der Verfassungsgerichtshof auch die damals anwendbare Bestimmung des § 9 Abs 1 GeO 2008 einer Überprüfung, wonach die Stimmabgabe durch mindestens zwei Fünftel der Anwesenden notwendig war. Er sah darin einen Verstoß gegen § 27 Abs 4 erster Satz RAO, der für die Beschlussfähigkeit nur die Teilnahme eines Zehntels der Kammermitglieder an der Abstimmung anordnete. Der Verfassungsgerichtshof sprach daher aus, dass § 9 Abs 1 zweiter Satz GeO 2008 gesetzwidrig war. Die Anordnung eines Teilnahmequorums an sich beanstandete der Verfassungsgerichtshof hingegen nicht.
[15]2.4. Nach § 27 Abs 4 RAO ist Voraussetzung für die Beschlussfähigkeit der Plenarversammlung, dass „ein Zehntel der Kammermitglieder an der Abstimmung teilnimmt“. Da eine gemeinsame Abstimmung aller Kammermitglieder nur mehr nach § 24 Abs 1 Z 1 RAO (Präsident, Präsidenten-Stellvertreter, Prüfungskommissäre für die Rechtsanwaltsprüfung, Rechnungsprüfer) vorgesehen ist und hinsichtlich der anderen Beschlussgegenstände unterschiedliche Kreise von Stimmberechtigten bestehen, ist der Begriff „Kammermitglieder“ in § 27 Abs 4 RAO aufgrund der differenzierenden Anordnungen in § 24 Abs 1 RAO dahin zu verstehen, dass er sich auf die „jeweils stimmberechtigten Kammermitglieder“ bezieht.
[16]Der erkennende Senat schließt sich daher dem Rechtsstandpunkt der RAK an, dass § 27 Abs 4 RAO und § 9 Abs 1 GeO 2021 dahin auszulegen sind, dass das Teilnahmequorum gesondert für den Kreis der gemäß § 24 Abs 1 Z 2 bis 4 RAO jeweils stimmberechtigten Kammermitglieder zu berechnen ist. Dies gilt sinngemäß auch für Wahlen nach § 7 DSt.
[17] 2.5. Nach Art 120c Abs 1 B VG sind die Organe der Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden. Daraus folgt, dass nur die jeweils Stimmberechtigten zur Beschlussfassung über die ihnen zugewiesenen Angelegenheiten entscheidungsbefugt sind. Es wäre eine Verletzung dieses demokratischen Grundprinzips, wenn die Ausübung des Stimmrechts an zusätzliche Voraussetzungen wie etwa die Anwesenheit nicht stimmberechtigter Personen gebunden wäre. Die gegenteilige Sichtweise könnte bei geringer Wahlbeteiligung sogar dazu führen, dass durch die Nichtteilnahme (oder nur sehr geringe Teilnahme) eines Kreises von Wahlberechtigten die Wahlbeteiligung insgesamt (für beide Kreise von Stimmberechtigten) unter das erforderliche Quorum sinkt. Damit wäre aber durch die bloße Nichtteilnahme eines Kreises von Stimmberechtigen der andere Kreis von Stimmberechtigten an der Wahrnehmung seines Stimmrechts gehindert, wenn zwar in diesem Kreis, nicht aber in beiden Kreisen gemeinsam das erforderliche Teilnahmequorum erreicht würde.
[18]Wie schon erwähnt, hat der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 11. Juni 2013, G 31/2013 ua, V 20/2013 ua (VfSlg 19751) die in § 27 Abs 4 RAO und in § 9 Abs 1 GeO 2008 enthaltenen Teilnahmequoren nicht grundsätzlich beanstandet. Er hat auch bereits ausgesprochen, dass gesetzliche Regelungen über ein Präsenzquorum, die sich in verschiedenen Rechtsgebieten finden, schon vor der durch das BVG beherrschten Rechtsordnung bestanden, demnach vom Bundesverfassungsgesetzgeber vorgefunden wurden und von ihm als zulässig vorausgesetzt angesehen werden können (VfGH 1. 10. 1991, B 1910/88, VfSlg 12818). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in § 27 Abs 4 RAO und § 9 Abs 1 GeO 2021 angeordneten Teilnahmequoren bestehen daher nicht.
3. Ergebnis:
[19] Bei Wahlen nach § 24 Abs 1 Z 2 bis 4 RAO ist das Teilnahmequorum gesondert für den Kreis der jeweils stimmberechtigten Kammermitglieder zu ermitteln.
[20] Da dieses Quorum in der Plenarversammlung der RAK vom 13. November 2024 für den Kreis der Rechtsanwaltsanwärter nicht erreicht werden konnte, wurden die Kandidaten aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter für den Ausschuss und den Disziplinarrat zu Recht als nicht gewählt erklärt. Die Wahlanfechtung war daher abzuweisen.