JudikaturJustizBsw76943/11

Bsw76943/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
29. November 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Lupeni Greek Catholic Parish u.a. gg. Rumänien, Urteil vom 29.11.2016, Bsw. 76943/11.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 14 EMRK - Inkonsistente Rechtsprechung zur Restitution religöser Gebäude.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Rechts auf Zugang zu einem Gericht (12:5 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (12:5 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.700,– an die Bf. gemeinsam für immateriellen Schaden; € 8.567,– bzw. € 3.858,– an die beiden Rechtsvertreter der Bf. sowie € 693,33 an die Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen). Im Übrigen wird der Antrag der Bf. auf gerechte Entschädigung abgewiesen (13:4 Stimmen).

Text

:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde wurde von der griechisch-katholischen Kirchengemeinde Lupeni (ErstBf.), der griechisch-katholischen Diözese Lugoj (ZweitBf.) und der griechisch-katholischen Erzdiözese Lupeni (DrittBf.) erhoben. Sie gehören zur rumänischen griechisch-katholischen Kirche, die mit der römisch-katholischen Kirche uniert ist.

1948 kam es zur Auflösung der griechisch-katholischen Kirche und zur Verstaatlichung ihres Vermögens. 1967 wurde das Eigentum an dem Kirchengebäude, das der ErstBf. gehört hatte, an die rumänische orthodoxe Kirchengemeinde Lupeni übertragen. Nach Ende des kommunistischen Regimes wurde die unierte Kirche durch das Gesetzesdekret Nr. 126/1990 anerkannt. Art. 3 des Dekrets sah vor, dass der eigentumsrechtliche Status des Vermögens, das unierten Gemeinden gehört hatte und sich nun im Besitz der orthodoxen Kirche befand, von gemeinsamen Ausschüssen bestimmt werden sollte, die sich aus Vertretern des unierten und des orthodoxen Klerus zusammensetzten. Bei der Entscheidungsfindung hatten die Ausschüsse »die Wünsche der Gläubigen der Gemeinschaften, in deren Besitz sich das Vermögen befindet« zu berücksichtigen. Art. 3 des Dekrets Nr. 126/1990 wurde durch die Regierungsverordnung Nr. 64/2004 und das Gesetz Nr. 182/2005 geändert. Nach der neuen Fassung konnte im Fall einer Uneinigkeit zwischen den Mitgliedern eines Ausschusses die Partei, die ein rechtliches Interesse an der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens hatte, dies nach dem »allgemeinen Recht« tun.

Die ErstBf. wurde am 12.8.1996 rechtlich wieder errichtet und die Bf. strengten erfolglos ein Verfahren vor dem gemeinsamen Ausschuss an, um ihre Immobilie zurückzuerhalten.

Am 23.5.2001 brachte die ZweitBf. eine Klage gegen die orthodoxe Erzdiözese Arad und die orthodoxe Kirchengemeinde ein. Sie begehrte die Rückgabe des Kirchengebäudes in Lupeni. Die ErstBf. und die DrittBf. wurden in der Klagsschrift als Vertreterinnen der ZweitBf. genannt. Das Landgericht Hunedoara wies die Klage am 10.10.2001 als unzulässig zurück, weil die Streitigkeit vor dem gemeinsamen Ausschuss beigelegt werden müsse. Das Berufungsgericht Alba Iulia wies die dagegen erhobene Berufung am 25.3.2003 ab. Der Oberste Gerichts- und Kassationshof behob dieses Urteil aufgrund eines Rekurses der ErstBf. und der ZweitBf. und verwies die Sache an das Berufungsgericht zur Entscheidung in der Sache zurück. Das Berufungsgericht gab der Berufung am 12.5.2006 statt und verwies die Sache zurück an das Landgericht. Im Juli 2006 wurde die Klage dahingehend geändert, dass auch die ErstBf. und die DrittBf. als Kläger genannt wurden. Im November 2006 ergänzten die Bf. ihre Klage um einen auf das allgemeine Recht gestützten Anspruch auf Rückerstattung des fraglichen Vermögens.

Nachdem ein weiteres Urteil aufgehoben und die Sache erneut zurückverwiesen worden war, entschied das Landgericht am 13.2.2009 zugunsten der Bf. und ordnete die Rückgabe der Kirche an die ErstBf. an. Das Berufungsgericht behob dieses Urteil aufgrund eines Rechtsmittels der orthodoxen Kirchengemeinde und wies die Klage der Bf. ab. Auch wenn die Klage auf den Bestimmungen des allgemeinen Rechts (§ 480 ZGB, der das Eigentum rechtlich definiert) beruhe, müsse Art. 3 des Dekrets Nr. 126/1990 angewendet werden. Der Oberste Gerichts- und Kassationshof bestätigte mit Urteil vom 15.6.2011 die Urteile der Vorinstanzen. Zum anwendbaren Recht führte er aus, die Änderung von Art. 3 des Dekrets Nr. 126/1990 bedeute nicht, dass von den speziellen Bestimmungen erfasste Klagen auf Rückübereignung in Anträge auf Feststellung des Eigentumstitels nach dem allgemeinen Recht umgewandelt würden. Daher müsse das Gericht auch die Wünsche der Gläubigen beachten. Im vorliegenden Fall hätte sich die orthodoxe Kirche gegen eine Restitution ausgesprochen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(64) Sich auf Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK stützend erhoben die Bf. in der Sache drei Rügen. Erstens behaupteten sie eine Verletzung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht, weil die innerstaatlichen Gerichte ihre Streitigkeit nicht unter Anwendung der Regeln des allgemeinen Rechts gelöst hätten, sondern anhand des im Gesetzesdekret Nr. 126/1990 vorgesehenen, im außergerichtlichen Verfahren anwendbaren Kriteriums, nämlich den Wünschen der Gläubigen der Gemeinde, in deren Besitz sich das Eigentum befand. Zweitens brachten die Bf. vor, [...] die Anwendung dieses Kriteriums wäre nicht vorhersehbar gewesen und hätte ihren Zugang zu einem Gericht illusorisch gemacht. Drittens beschwerten sie sich über die Dauer des Verfahrens.

(65) Vorausschickend ist darauf hinzuweisen, dass die Kammer die Beschwerden nur unter Art. 6 Abs. 1 EMRK geprüft hat, da ihrer Ansicht nach die Garantien des Art. 13 EMRK von den strengeren Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK absorbiert wurden. Der GH stimmt diesem Zugang zu und wird ebenfalls so fortfahren.

Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(71) Damit Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist, muss eine Streitigkeit über ein Recht vorliegen, von dem zumindest vertretbar behauptet werden kann, dass es im innerstaatlichen Recht anerkannt ist [...].

(72) Der GH stellt fest, dass der Anspruch, auf den sich die Bf. stützten, auf dem innerstaatlichen Recht über die Rückgabe von Eigentum beruhte und somit zivilrechtlicher Natur war. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Streitigkeit vorlag, dass sie ausreichend schwerwiegend war und dass der Ausgang des Verfahrens unmittelbar entscheidend für den umstrittenen Anspruch war. Angesichts von § 480 ZGB konnten die Bf. vertretbar behaupten, dass sie nach rumänischem Recht berechtigt waren zu versuchen, ihre Eigentumsrechte an dem umstrittenen Gebäude wiederzuerlangen.

(73) Der GH stimmt daher völlig mit den Überlegungen der Kammer hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK überein und kommt zu dem Schluss, dass die von den Bf. erhobene Klage einen zivilrechtlichen Anspruch betraf und darauf abzielte, durch die Gerichte ein Eigentumsrecht zu begründen, selbst wenn ein religiöses Gebäude Gegenstand der Streitigkeit war.

(76) Dementsprechend ist Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Bei der Überprüfung, ob den Anforderungen dieser Bestimmung entsprochen wurde, wird der GH den Fall aus den folgenden drei Blickwinkeln betrachten: dem Recht auf Zugang zu einem Gericht, der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Recht auf ein faires Verfahren in angemessener Zeit.

Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK

Recht auf Zugang zu einem Gericht

(91) Zunächst stellt der GH fest, dass [...] der spezifische Charakter des umstrittenen Eigentums und der Verfahrensparteien berücksichtigt werden muss, nämlich ein Ort des Gottesdienstes, in Bezug auf den das Eigentum zwischen einer orthodoxen und einer griechisch-katholischen Kirche umstritten ist.

(92) Die Bf. [...] behaupten, dass die Anwendung des Kriteriums der Wünsche der Gläubigen, das im Gesetzesdekret Nr. 126/1990 vorgesehen ist, im Kontext ihrer Klage auf Rückerstattung von Eigentum eine Einschränkung darstellt, die ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht illusorisch machte.

(93) Wie der GH feststellt, waren die Bf. nicht daran gehindert, vor den innerstaatlichen Gerichten auf Restitution des Kirchengebäudes zu klagen. [...]

(95) Die innerstaatlichen Gerichte prüften die [...] Klage, indem sie eine Analyse des Sachverhalts und des anwendbaren Rechts vornahmen. Sie nahmen Rücksicht auf die besonderen Merkmale des Streitgegenstands und des speziellen Rechts auf diesem Gebiet. Sie erklärten auch mit überzeugenden Gründen, wie sie das materielle Recht in dem ihnen vorliegenden Fall angewendet hatten, weshalb ihr Zugang nicht als offensichtlich willkürlich betrachtet werden kann.

(96) Wie der GH weiters feststellt, versuchten die innerstaatlichen Gerichte selbst [...], die Faktoren festzustellen, aufgrund welcher die Partei, in deren Besitz sich das Kirchengebäude befand, die Rückgabe verweigerte, und sie ermittelten die Wünsche der Gläubigen. [...] Die innerstaatlichen Gerichte überzeugten sich davon, dass die Wünsche der Gläubigen eine echte Tatsachengrundlage hatten, sie berücksichtigten historische und gesellschaftliche Aspekte und nicht lediglich statistische Faktoren und sie vergewisserten sich, dass das Kriterium der Wünsche der Gläubigen im vorliegenden Fall nicht willkürlich gegen die Bf. verwendet wurde.

(97) [...] Wo die innerstaatlichen Gerichte in anderen Fällen zum Ergebnis gelangt sind, dass die Weigerung einer orthodoxen Kirchengemeinde, ein von ihr nicht genutztes Kirchengebäude zurückzugeben, willkürlich war, gaben sie der Klage der griechisch-katholischen Kirchengemeinde auf Rückgabe des Eigentums trotz des umstrittenen Kriteriums statt.

(98) Die innerstaatlichen Gerichte, die unabhängig und unparteilich im Sinne der Rechtsprechung des GH waren, hatten eindeutig eine Entscheidungsfreiheit bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Kompetenz. Ihre Rolle war nicht darauf beschränkt, ein vorgegebenes Ergebnis zu bestätigen.

(99) Angesichts der obigen Feststellungen ist der GH der Ansicht, dass es im vorliegenden Fall nicht um ein verfahrensrechtliches Hindernis geht, das den Zugang der Bf. zu einem Gericht behindert, sondern um eine materielle Bestimmung, die zwar eine Auswirkung auf den Verfahrensausgang hat, die Gerichte aber nicht daran hindert, die Streitigkeit in der Sache zu prüfen. In Wirklichkeit beschweren sich die Bf. über die Schwierigkeit, die vom materiellen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Restitution des umstrittenen religiösen Gebäudes zu erfüllen.

(100) Es ist jedoch notwendig [...], zwischen prozessualen und materiellen Elementen zu unterscheiden: so fein diese Unterscheidung in einem bestimmten innerstaatlichen Regelwerk auch sein mag, bleibt sie doch entscheidend für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, der grundsätzlich keine Anwendung finden kann auf im innerstaatlichen Recht vorgesehene materielle Einschränkungen eines Anspruchs.

(101) Anders als die Bf. behaupten, schränkt das Kriterium der Wünsche der Gläubigen [...] in keiner Weise die Jurisdiktion der Gerichte ein, über Klagen auf Rückerstattung von Eigentum, die sich auf religiöse Gebäude beziehen, zu entscheiden, sondern es beschränkt ein materielles Recht. [...]

(106) Im Hinblick auf die oben dargelegten Erwägungen ist der GH der Ansicht, dass die Bf. nicht ihres Rechts auf Zugang zu einer Entscheidung in der Sache über ihren Anspruch betreffend ihr Eigentum an einem religiösen Gebäude beraubt wurden. Die Schwierigkeiten, denen die Bf. bei ihren Versuchen begegneten, die Rückgabe der umstrittenen Kirche zu erlangen, resultierten aus dem anwendbaren materiellen Recht und hatten nichts mit irgendeiner Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht zu tun.

(107) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht im vorliegenden Fall geachtet wurde und keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden hat (12:5 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Karakas und der Richter Sajó, Pinto de Albuquerque und Mits; abweichendes Sondervotum von Richter Kuris).

Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit

(116) Der GH verweist zunächst auf sein Urteil im Fall Nedjet Sahin und Perihan Sahin/TR, in dem er die Grundsätze dargelegt hat, die auf Fälle anwendbar sind, die sich widersprechende Entscheidungen in der Rechtsprechung betreffen. Diese Grundsätze können wie folgt zusammengefasst werden: [...] Die Möglichkeit sich widersprechender gerichtlicher Entscheidungen ist ein Wesenszug jedes Justizsystems, das auf einem Netz von Gerichten erster und zweiter Instanz beruht, die jeweils für ein bestimmtes Gebiet zuständig sind. Solche Divergenzen können sich auch innerhalb ein und desselben Gerichts ergeben. Dies ist für sich nicht unvereinbar mit der EMRK. [...] Die Kriterien, die den GH bei seiner Einschätzung der Umstände leiten, unter denen sich widersprechende Entscheidungen unterschiedlicher innerstaatlicher Gerichte, die in letzter Instanz entscheiden, eine Verletzung von [...] Art. 6 Abs. 1 EMRK mit sich bringen, bestehen in der Feststellung, ob erstens »tiefgreifende und anhaltende Differenzen« in der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte bestehen, ob zweitens das innerstaatliche Recht einen Mechanismus zur Überwindung dieser Inkonsistenzen bereithält, und ob drittens dieser Mechanismus angewendet wurde und gegebenenfalls welche Wirkung dies hatte.

(117) Der vorliegende Fall unterscheidet sich insofern von Nedjet Sahin und Perihan Sahin/TR, als er nicht behauptete Diskrepanzen zwischen den Urteilen von zwei unterschiedlichen, unabhängigen und hierarchisch nicht verbundenen Höchstgerichten betrifft, sondern Diskrepanzen, die in erster Linie in der Rechtsprechung des höchsten innerstaatlichen Gerichts bestehen. Der GH muss feststellen, dass sich die sich widersprechende Judikatur im Wesentlichen aus den vom Obersten Gerichts- und Kassationshof getroffenen Entscheidungen ergibt, auch wenn sie sich dann auf der Ebene der unteren Gerichte widerspiegelte.

(118) Die in Nedjet Sahin und Perihan Sahin/TR dargelegten Grundsätze sind dennoch im vorliegenden Fall anwendbar. [...]

Bestehen »tiefgreifender und anhaltender Differenzen«

(119) Der GH hält es für wichtig, zunächst daran zu erinnern, dass er bereits im Fall Sambata Bihor Greek Catholic Parish/RO eine sich widersprechende Judikatur innerhalb des höchsten innerstaatlichen Gerichts, das damals als Oberster Gerichtshof bekannt war, festgestellt hat, die sich in der Rechtsprechung der unteren Gerichte widerspiegelte. Die Diskrepanz betraf damals die Auslegung von Art. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 126/1990 in seiner Fassung vor den 2004 und 2005 erfolgten Änderungen. Sie bezog sich auf die Zuständigkeit der Gerichte, über eine von einer griechisch-katholischen Kirche bezüglich eines religiösen Gebäudes eingebrachte Klage zu entscheiden. [...]

(120) Der rumänische Gesetzgeber erachtete es als notwendig, den Text des Gesetzesdekrets Nr. 126/1990 zu ändern, um jener Partei, die mit dem Ausgang des Verfahrens vor dem gemeinsamen Ausschuss unzufrieden war, die ausdrückliche Möglichkeit zu geben, ein gerichtliches Verfahren anzustrengen. Art. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 126/1990 sieht daher in seiner geänderten Fassung vor, dass dann, wenn die die beiden Glaubensrichtungen vertretenden Mitglieder des Klerus im gemeinsamen Ausschuss zu keiner Einigung gelangen, die Partei, die ein Interesse an der Einleitung eines Gerichtsverfahrens hat, dies nach dem allgemeinen Recht tun kann.

(121) Dieser Text, der dazu gedacht war, eine Divergenz in der Rechtsprechung zu beenden, gab allerdings Anlass für eine andere. Diesmal war der Begriff des »allgemeinen Rechts« die Quelle unterschiedlicher Interpretationen: manche Gerichte gaben ihm die Bedeutung, die er gewöhnlich im Bereich des Schutzes des Eigentumsrechts hat und behandelten Klagen auf Rückerstattung von Eigentum auf die traditionelle Art anhand der Bestimmungen des ZGB; andere waren der Ansicht, dass er im Licht des Texts von Art. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 126/1990 auszulegen sei und sie die Wünsche der Gläubigen berücksichtigen müssten. Abhängig von der Auslegung des Begriffs des »allgemeinen Rechts« durch die Gerichte konnte sich daher das auf eine Streitigkeit anwendbare materielle Recht unterscheiden: im ersten Szenario verglichen die innerstaatlichen Gerichte die Eigentumsrechte, während die Gerichte im zweiten Szenario versuchten, bei der Prüfung der rechtlichen Situation des religiösen Gebäudes die Wünsche der Gläubigen der religiösen Gemeinschaft, in deren Besitz sich das Eigentum befand, zu eruieren.

(122) [...] Die widersprüchliche Auslegung des Begriffs des »allgemeinen Rechts« bestand innerhalb des Obersten Gerichts- und Kassationshofs selbst, der dazu berufen war, solche Streitigkeiten in letzter Instanz zu entscheiden. [...] Der Gerichtshof erließ Urteile, die abweichende Auslegungen enthielten.

(123) Wie der GH bereits bei vielen Gelegenheiten betont hat, ist es gerade Aufgabe eines Höchstgerichts, solche Konflikte beizulegen. Wenn sich eine widersprüchliche Praxis innerhalb einer der höchsten gerichtlichen Autoritäten eines Landes entwickelt, wird dieses Gericht selbst zu einer Quelle rechtlicher Unsicherheit, womit es das Prinzip der Rechtssicherheit untergräbt und das öffentliche Vertrauen in die Gerichtsbarkeit schwächt.

(124) Im vorliegenden Fall wurde die innerhalb des Obersten Gerichts- und Kassationshofs bestehende widersprüchliche Rechtsprechung in den Entscheidungen der unteren Gerichte widergespiegelt, die ebenfalls sich widersprechende Urteile erließen. Daher war eine große Zahl griechisch-katholischer Gemeinden von diesen unterschiedlichen Zugängen der innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Auslegung des anwendbaren Rechts betroffen, womit diese erhebliche Auswirkungen hatte. Diese widersprüchliche Judikatur schuf einen Zustand der rechtlichen Unsicherheit, der das öffentliche Vertrauen in das System der Gerichtsbarkeit minderte. [...]

(128) Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall im Sinne der zitierten Rechtsprechung des GH »tiefgreifende und anhaltende Differenzen« in der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte bestanden.

Bestehen und Anwendung innerstaatlicher Mechanismen zur Überwindung von Inkonsistenzen in der Rechtsprechung

(129) Es liegt in der Verantwortung der Vertragsstaaten, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass der Erlass von sich widersprechenden Urteilen vermieden wird. Dieses Erfordernis ist umso stärker, wenn es sich bei der widersprüchlichen Judikatur nicht um einen vereinzelten Vorfall handelt, sondern um eine Uneinheitlichkeit, die eine große Zahl von Personen betrifft, die gerichtliche Verfahren anstrengen.

(130) Der GH erinnert daran, dass er schon früher einschätzen musste, ob das rumänische Rechtssystem einen Mechanismus enthält, um einen Konflikt in der Rechtsprechung wie jenen, um den es im vorliegenden Fall geht, beizulegen. Im Urteil Albu u.a./RO nahm er das Bestehen einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zur Kenntnis [...]. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die vorsitzenden Räte der Berufungsgerichte konnten beim Obersten Gerichts- und Kassationshof eine Vorgabe betreffend die Auslegung der relevanten Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts beantragen und der Oberste Gerichts- und Kassationshof konnte die Rechtsprechung durch den Erlass einer bindenden Entscheidung über die Interpretation der rechtlichen Bestimmungen vereinheitlichen. [...]

(131) Im vorliegenden Fall bestätigte die Regierung allerdings, dass die zuständigen Instanzen keine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erhoben haben, um der Uneinheitlichkeit in der Judikatur [...] rasch ein Ende zu setzen, obwohl sie dies hätten tun können.

(132) Der GH ist im vorliegenden Fall [...] jedoch mit einer Situation allgemeiner rechtlicher Unsicherheit konfrontiert, die sich aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichts- und Kassationshofs ergab, aber auch in der Judikatur der unteren Gerichte bemerkbar wurde und sich nacheinander auf die Frage des Zugangs zu einem Gericht und des anwendbaren materiellen Rechts bezog. Zudem hat diese widersprüchliche Rechtsprechung eine große Zahl von Personen betroffen, die gerichtliche Verfahren anstrengten, und die innerstaatlichen Gerichte konnten damit rechnen, mit einer großen Zahl von Klagen konfrontiert zu werden. Unter diesen Umständen kann der GH nicht zu dem Schluss kommen, dass der angemessenste Mechanismus zur Gewährleistung einer Harmonisierung der Rechtsprechung rasch in die Wege geleitet wurde, um der fraglichen widersprüchlichen Judikatur ein Ende zu setzen.

Schlussfolgerung

(134) Der GH zieht den Schluss, dass der Kontext, in dem die von den Bf. erhobene Klage geprüft wurde, nämlich einer der Unsicherheit in der Rechtsprechung, die im vorliegenden Fall mit dem Versäumnis verbunden war, den im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Mechanismus zur Sicherstellung einer einheitlichen Praxis auch innerhalb des höchsten Gerichts des Landes anzuwenden, den Grundsatz der Rechtssicherheit untergraben und dadurch bewirkt hat, dass die Bf. eines fairen Verfahrens beraubt wurden.

(135) Folglich hat eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch den Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit stattgefunden (einstimmig).

Recht auf ein faires Verfahren in angemessener Zeit

(144) Was die ZweitBf. betrifft ist unumstritten, dass die zu berücksichtigende Zeit rund zehn Jahre und drei Wochen für drei Ebenen der Gerichtsbarkeit betrug.

(145) Was die ErstBf. und die DrittBf. betrifft [...] geht aus [...] den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte nicht klar hervor, dass die ErstBf. vor 2006 als Verfahrenspartei angesehen wurde [...]. Die für diese beiden Bf. zu berücksichtigende Zeitspanne beträgt daher rund fünf Jahre [...].

(146) Wie der GH zunächst feststellt, kann den Bf. [...] keine Verzögerung des Verfahrens vorgeworfen werden [...]. Überdies haben die Bf. die Bedeutung dessen, was für sie auf dem Spiel stand, eingehend erklärt.

(147) Zur etwas mehr als zehn Jahre betragenden Dauer bemerkt der GH, dass das Verfahren mehrmals unterbrochen wurde, damit die Parteien das Verfahren vor dem gemeinsamen Ausschuss einleiten konnten, obwohl der Standpunkt der Beklagten (die in einer Verweigerung der Rückgabe des Kirchengebäudes bestand) seit Beginn des Verfahrens bekannt war und diese Partei kein Anzeichen für eine Änderung ihrer Haltung erkennen ließ. Die Dauer des Verfahrens wird auch durch die wiederholten Urteile erklärt, mit denen frühere Entscheidungen aufgehoben wurden und die Sache an die unteren Gerichte zurückverwiesen wurde. [...] Urteile, die frühere Entscheidungen aufheben und die Sache zurückverweisen, sind gewöhnlich auf Fehler der unteren Gerichte zurückzuführen und die Wiederholung solcher Urteile kann auf Mängel im Gerichtssystem hinweisen.

(150) Obwohl der Fall als solcher nicht besonders komplex war, machte der Mangel an Klarheit und Vorhersehbarkeit des innerstaatlichen Rechts seine Prüfung schwierig. Diese Mängel sind zur Gänze den nationalen Instanzen zurechenbar und sie trugen nach Ansicht des GH entscheidend dazu bei, die Dauer des Verfahrens zu verlängern.

(151) Angesichts aller ihm vorgelegter Elemente kommt der GH zu dem Schluss, dass der Fall der Bf. nicht in angemessener Zeit entschieden wurde.

(152) Folglich hat eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Dauer des Verfahrens stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK

(153) Die Bf. brachten vor, sie wären bei der Ausübung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht diskriminiert worden, weil sie zu einer religiösen Minderheit gehörten. [...]

(165) Die Streitigkeit der Bf. [...] betrifft die Entscheidung über einen zivilrechtlichen Anspruch. Die Tatsachen, über die sich die Bf. beschweren, fallen daher in den Regelungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dies reicht aus, um Art. 14 EMRK anwendbar zu machen [...].

(166) Der GH wird die beiden behaupteten Formen einer Diskriminierung getrennt behandeln: erstens die Diskriminierung gegenüber anderen griechisch-katholischen Gemeinden und zweitens die Diskriminierung gegenüber der orthodoxen Kirche.

Ungleichbehandlung gegenüber anderen griechisch-katholischen Gemeinden

(167) Falls die Art, wie die innerstaatlichen Gerichte über die von verschiedenen griechisch-katholischen Gemeinden erhobenen Klagen auf Rückgabe von Eigentum entschieden (anhand des allgemeinen Rechts mit oder ohne Berücksichtigung der Wünsche der Gläubigen), eine unterschiedliche Behandlung darstellt, beruhte diese nicht auf der Religion.

(168) Diese unterschiedliche Behandlung wird außerdem in Bezug auf das Recht auf Zugang zu einem Gericht und das auf eine Klage auf Rückerstattung von Eigentum anwendbare Recht behauptet. Diese Rüge betrifft im Wesentlichen die bereits erfolgte Beurteilung der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit.

(169) Selbst unter der Annahme, dass die behauptete Ungleichbehandlung vom Standpunkt des Art. 14 EMRK aus untersucht werden könnte, und unter Berücksichtigung seiner Begründung, die ihn zur Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit geführt hat, findet der GH folglich, dass keine Faktoren vorliegen, die eine gesonderte Prüfung derselben Fakten unter Art. 14 EMRK erfordern würden (16:1 Stimmen).

Ungleichbehandlung gegenüber der orthodoxen Kirche

(170) [...] Der Text von Art. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 126/1990 besagte, dass die rechtliche Situation der religiösen Gebäude unter Berücksichtigung »der Wünsche der Gläubigen der Gemeinden, in deren Besitz sich dieses Eigentum befindet« zu entscheiden sei. Dieses Kriterium muss vor dem historischen und gesellschaftlichen Kontext in Rumänien gesehen werden, wo Kirchengebäude, deren Rückgabe von den griechisch-katholischen Gemeinden verlangt wurde, nach der Auflösung der griechisch-katholischen Kirche 1948 an die orthodoxe Kirche übertragen worden waren. [...]

(171) [...] Der GH hat bereits festgestellt, dass [...] es im vorliegenden Fall keine Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht gab, da beide Parteien der Streitigkeit dasselbe Recht genossen, ein Gericht anzurufen und eine Entscheidung in der Sache zu erlangen.

(172) In Ermangelung einer solchen Einschränkung wurde nach Ansicht des GH nicht gezeigt, dass das Kriterium der Wünsche der Gläubigen eine unterschiedliche Behandlung zwischen griechisch-katholischen Gemeinden und den Gemeinden der orthodoxen Kirche bei der Ausübung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht schuf. [...]

(173) Aus Sicht des Art. 14 EMRK sieht der GH daher keine unterschiedliche Behandlung zwischen den Bf. und der beklagten Partei hinsichtlich der Möglichkeit, die Gerichte anzurufen und eine Entscheidung über die Klage auf Rückübereignung des religiösen Gebäudes zu erlangen.

(174) Diese Tatsache reicht für den GH aus um festzustellen, dass es zu keiner Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK gekommen ist (12:5 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Karakas und der Richter Sajó, Pinto de Albuquerque und Mits; abweichendes Sondervotum von Richter Kuris).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.700,– an die Bf. gemeinsam für immateriellen Schaden; € 8.567,– bzw. € 3.858,– an die beiden Rechtsvertreter der Bf. sowie € 693,33 an die Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Karakas). Im Übrigen wird der Antrag der Bf. auf gerechte Entschädigung abgewiesen (13:4 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Sajó, Pinto de Albuquerque und Mits; abweichendes Sondervotum von Richter Kuris; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Karakas).

Vom GH zitierte Judikatur:

Z. u.a./GB v. 10.5.2001 (GK)

Roche/GB v. 19.10.2005 (GK) = NL 2005, 242

Markovic u.a./I v. 14.12.2006 (GK) = NL 2007, 5

Sâmbata Bihor Greek Catholic Parish/RO v. 12.1.2010

Nejdet Sahin und Perihan Sahin/TR v. 20.10.2011 (GK) = NLMR 2011, 311

Albu u.a./RO v. 10.5.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.11.2016, Bsw. 76943/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 522) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_6/Lupeni.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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