JudikaturJustizBsw68939/12

Bsw68939/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. März 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Cerovsek und Bozicnik gg. Slowenien, Urteil vom 7.3.2017, Bsw. 68939/12.

Spruch

Art. 6 EMRK - Schriftliche Begründung eines Strafurteils durch nicht am Verfahren beteiligten Richter.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Je € 5.000,– für immateriellen Schaden an jeden Bf., je € 2.500,– für Kosten und Auslagen an jeden Bf. (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. wurden 2005 und 2006 des Diebstahls angeklagt, weil sie in einem fremden Wald Bäume gefällt und mitgenommen hätten. Das Verfahren wurde vor der Einzelrichterin A. K. geführt. In beiden Fällen wurden während der Hauptverhandlung Zeugen gehört, ein Lokalaugenschein durchgeführt und eine Reihe anderer Dokumente untersucht, einschließlich einer Skizze und eines Grundbuchsauszugs.

Am 21.6. bzw. 2.7.2007 befand die Richterin den Erst- bzw. den ZweitBf. für schuldig und verurteilte sie zu sechs bzw. sieben Monaten Haft, die jeweils auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. Beide Urteile ergingen mündlich.

Nach der Urteilsverkündung taten die Bf. ihre Absicht kund, gegen das Urteil zu berufen. Dies bewirkte eine Pflicht der Richterin, ihr Urteil mit einer schriftlichen Begründung auszufertigen. Die Regierung brachte vor, dass Richterin A. K. bei der mündlichen Urteilsverkündung die Hauptgründe zusammengefasst habe, aber diese in den Aufzeichnungen nicht zu finden wären.

A. K. wurde an einem unbestimmten Datum pensioniert. Nachdem die Akten verloren gegangen waren, wurden sie 2010 rekonstruiert. Auf Basis der Dokumente verfassten die Richter D. K. M. bzw. M. B. daraufhin schriftliche Urteilsbegründungen für die von A. K. gegen den Erst- bzw. ZweitBf. erlassenen Urteile.

Beide Bf. legten gegen die Urteile Berufung ein und rügten insbesondere die Urteilsbegründung durch andere Richter als die Richterin, die das Urteil ursprünglich verkündet hatte. Sie forderten daher eine Neuverhandlung des Falles vor dem erstinstanzlichen Gericht. Am 26.8. und 25.11.2010 wies das OLG Ljubljana die Berufungen der beiden Bf. mit der Begründung ab, dass die schriftliche Urteilsbegründung einige Jahre nach der mündlichen Urteilsverkündung die Urteile nicht rechtswidrig machen würde. Am 13.10.2010 und am 20.1.2011 brachten die Bf. Nichtigkeitsbeschwerden beim OGH ein, welche am 6.1. und 1.9.2011 abgewiesen wurden.

Der VfGH weigerte sich am 3.4.2012, die Beschwerden zuzulassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da ihre Verurteilung von Richtern begründet worden wäre, welche das Urteil nicht verkündet und nicht an der Verhandlung teilgenommen hätten.

Verbindung der Beschwerden

(29) Der GH ist der Auffassung, dass […] die Beschwerden angesichts ihres ähnlichen faktischen und rechtlichen Hintergrunds miteinander verbunden werden müssen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

(31) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(37) Der GH wiederholt, dass in Fragen der Fairness von Verfahren nach Art. 6 EMRK das Verfahren als Ganzes beurteilt werden muss, einschließlich der Entscheidungen der Berufungsgerichte. Darüber hinaus ist es nicht die Aufgabe des GH, seine eigene Feststellung des Sachverhalts an die Stelle der Beurteilung der innerstaatlichen Gerichte zu setzen, und als allgemeine Regel kommt es diesen Gerichten zu, die ihnen vorliegenden Beweise einzuschätzen. Die Aufgabe des GH ist es festzustellen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war.

(38) Im vorliegenden Fall ist der GH aufgefordert zu entscheiden, ob die Bf. trotz der Tatsache, dass die Begründung ihrer Verurteilung und des Strafmaßes nicht durch die Richterin erfolgte, die sie verkündet hatte, sondern von anderen Richtern, welche nicht an der Verhandlung teilgenommen hatten, ein faires Verfahren hatten.

(39) Der GH beachtet zuerst, dass es sich im vorliegenden Fall um ein Verfahren handelt, das vor einer Berufsrichterin als Einzelrichterin stattfand, und zweitens, dass die Situation der Bf. von dem in der slowenischen StPO vorgesehenen Verfahren abweicht. In der Tat soll nach diesem Gesetz der Richter, der das Verfahren führt und welcher sich direkt mit den Beweismitteln befasst hat, das Urteil verkünden und eine schriftliche Begründung der wichtigen faktischen und rechtlichen Punkte geben, wenn die Parteien dies wünschen. Die Situation im vorliegenden Fall, die von der Regierung als außergewöhnlich angesehen wurde, entstand, weil die Richterin, welche alle während des Prozesses eingebrachten Beweise geprüft hatte, nach der Urteilsverkündung in den Ruhestand getreten war, ohne eine schriftliche Begründung auszufertigen.

(40) Der GH nimmt die Stellungnahme der Regierung zur Kenntnis [...], wonach das Versäumnis der Richterin, welche die Verhandlung geführt hatte, eine schriftliche Urteilsbegründung zu erlassen, keinen Einfluss auf die Fairness des Verfahrens haben konnte, weil es der vorrangige Zweck solcher Gründe sei, eine Überprüfung des Urteils im Wege einer Berufung zu ermöglichen. Allerdings kann der GH dieser Behauptung nicht zustimmen. Er bekräftigt, dass die Gründe für die Entscheidung zwar in der Tat dahingehend relevant sind, dass sie dem Beschuldigten die sinnvolle Ausübung seines Berufungsrechts ermöglichen, also den vollen und angemessenen Gebrauch dieses Rechts. Diese Gründe sind allerdings auch in einem allgemeineren Sinn wichtig, da sie die ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten und Willkür verhindern. Insbesondere stellt der GH fest, dass das Bewusstsein eines Richters, dass er seine Entscheidung mit objektiven Gründen rechtfertigen muss, einen der Schutzmechanismen gegen Willkür darstellt. Die Begründungspflicht trägt auch zum Vertrauen der Öffentlichkeit und des Beschuldigten in die getroffene Entscheidung bei und erlaubt es, eine mögliche Befangenheit auf Seiten des Richters zu erkennen und z.B. durch eine erneute Verhandlung vor einem anderen Richter oder anderen Richtern zu bereinigen.

(41) Im vorliegenden Fall konnte der vorgenannte Zweck der Begründungspflicht nicht erreicht werden, da die verfahrensführende Richterin A. K. die Gründe, die sie von der Schuld der Bf. überzeugten und zu ihrer Entscheidung über das Strafausmaß führten, nicht niedergelegt hat. Auch gibt es keine Hinweise in den Aufzeichnungen der Verhandlung, dass sie eine mündliche Begründung gegeben hätte. Die schriftlichen Gründe, die von den Richtern D. K. M. und M. B. drei Jahre später post hoc zusammengestellt wurden und die – wie aus den Beweisen vor dem GH hervorgeht – keinen Input von Richterin A. K. aufwiesen, konnten diesen Mangel nicht kompensieren.

(42) Darüber hinaus achtet der GH auf die fehlende Beteiligung der beiden Richter am Beweiserhebungsverfahren. Er stellt fest, dass die Richter D. K. M. und M. B. in keiner Weise am Verfahren beteiligt waren und sie ihre Begründungen nur auf Grundlage der schriftlichen Fallakten verfassten. Im Gegensatz dazu beruhte das Urteil von A. K. nicht nur auf Dokumenten. Insbesondere hörte Richterin A. K. die Bf. während des Verfahrens an, vernahm mehrere Zeugen und muss sich ein Urteil über ihre Glaubwürdigkeit gebildet haben. Sie muss auch eine Beurteilung der Elemente der angeblichen Straftaten, einschließlich des subjektiven Elements (dem Vorsatz der Bf., sie zu begehen), vorgenommen haben, wofür die direkte Anhörung der Bf. besonders relevant war.

(43) Wie es durch den Grundsatz der Unmittelbarkeit im Strafverfahren anerkannt ist, müssen die Wahrnehmung des Verhaltens der Zeugen und der Bf. und die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit durch Richterin A. K. einen wichtigen – wenn nicht entscheidenden – Bestandteil bei der Sachverhaltsfeststellung dargestellt haben, auf welcher die Verurteilung der Bf. beruhte. Nach Ansicht des GH musste sie genau deshalb ihre Beobachtungen in den schriftlichen Gründen zur Rechtfertigung der Urteile anführen. In der Tat mussten solche Beobachtungen nach innerstaatlichem Recht einen der wesentlichen Bestandteile schriftlicher Urteile bilden (Art. 364 Abs. 7 StPO).

(44) Was die Frage anbelangt, ob der Ruhestand der Richterin A. K., welcher angeblich der Grund für die fehlende schriftliche Begründung war, zu außergewöhnlichen Umständen führte, die eine Abweichung vom üblichen innerstaatlichen Verfahren rechtfertigten, stellt der GH fest, dass A. K. der Zeitpunkt ihrer Pensionierung im Vorfeld bekannt gewesen sein muss. Es sollte daher grundsätzlich möglich gewesen sein, entweder Maßnahmen zu ergreifen, um die Fälle der Bf. alleine zu beenden oder einen anderen Richter in einem früheren Verfahrensstadium einzubeziehen. Darüber hinaus stellt er fest, dass der Fall nicht besonders komplex war und dass die Bf. ihre Absicht, Berufung einzulegen, bekundet hatten, sobald das Urteil ausgesprochen würde. Das bedeutet, dass sich Richterin A. K. sofort bewusst war, dass sie eine schriftliche Begründung vornehmen würde müssen. Daher kann der GH der Regierung nicht zustimmen, dass es gute Gründe gegeben hat, um vom Verfahren abzuweichen, zu welchem die Beschuldigten nach innerstaatlichem Recht berechtigt waren. Darüber hinaus ist es besonders auffällig, dass trotz einer gesetzlichen Frist von dreißig Tagen die schriftliche Begründung erst drei Jahre nach der Urteilsverkündung geliefert wurde, während die Fallakten verloren gingen und rekonstruiert werden mussten. Diese Umstände werfen weitere Bedenken hinsichtlich der Art und Weise auf, wie die Fälle der Bf. von den innerstaatlichen Gerichten behandelt wurden.

(45) Der GH anerkennt, dass es in manchen Fällen zu administrativen oder verfahrensrechtlichen Umständen kommen kann, die die fortdauernde Teilnahme eines Richters an einem Fall unmöglich machen. Allerdings stellt er zunächst fest, dass aus den Erwägungen des vorstehenden Absatzes hervorgeht, dass im vorliegenden Fall keine solchen Umstände entstanden sind. Selbst wenn solche Umstände entstanden wären, hätte zweitens die einzige Chance, um die Unmöglichkeit für Richterin A. K., Gründe zur Rechtfertigung der Verurteilung der Bf. zu liefern, zu kompensieren, in der Anordnung einer Neuverhandlung bestanden, z.B. indem das Gericht zweiter Instanz die Fälle an die erste Instanz zurückverweist, um eine neuerliche Verhandlung durchzuführen. […]

(46) Schließlich ist dem GH bewusst, dass ein höheres oder Höchstgericht unter Umständen Mängel im erstinstanzlichen Verfahren reparieren kann. Allerdings stellt er fest, dass im vorliegenden Fall die Gerichte höherer Instanz dem Gericht erster Instanz folgten, ohne irgendwelche Beweise direkt zu hören. Daher kann im vorliegenden Fall nicht gesagt werden, dass die strittigen Mängel von den Berufungsgerichten behoben wurden.

(47) Im Ergebnis ist der GH der Auffassung, dass das Recht der Bf. auf ein faires Verfahren wegen des Versäumnisses der Richterin, die ihre Verhandlung führte, eine schriftliche Begründung ihres Urteils zu liefern, und wegen des Fehlens geeigneter Maßnahmen, die diesen Mangel behoben hätten, verletzt wurde.

(48) Daher erfolgte eine Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Je € 5.000,– für immateriellen Schaden an jeden Bf., je € 2.500,– für Kosten und Auslagen an jeden Bf. (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

De Cubber/B v. 26.10.1984 = EuGRZ 1985, 407

Kyprianou/CY v. 15.12.2005 (GK)

Taxquet/B v. 16.11.2010 (GK) = NLMR 2010, 350

Cutean/RO v. 5.2.2014

Lhermitte/B v. 29.11.2016 (GK) = NLMR 2016, 519

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 07.3.2017, Bsw. 68939/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 137) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_2/Cerovsek Bozicnik.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.