JudikaturJustizBsw67545/09

Bsw67545/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Ternovszky gegen Ungarn, Urteil vom 14.12.2010, Bsw. 67545/09.

Spruch

Art. 8 EMRK - Willkürliche Gesetzeslage bezüglich Hausgeburten.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.250,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Zur Zeit der Beschwerdeerhebung war die Bf. schwanger und plante eine Hausgeburt. § 101 (2) der Regierungsverordnung Nr. 218/1999 (XII.28.) bedroht jedoch medizinisches Fachpersonal, das bei Hausgeburten assistiert, mit Verwaltungsstrafen. In den letzten Jahren erfolgte mindestens eine derartige Verfolgung. Der Bf. zufolge gebe es zwar keine gesetzliche Regelung von Hausgeburten in Ungarn, die Regierungsverordnung halte jedoch medizinisches Fachpersonal davon ab, Mütter, die eine Hausgeburt wünschen, zu unterstützen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen unzulässig. Sie wird daher für zulässig erklärt (mehrheitlich).

Die Regierung bezweifelt den Opferstatus der Bf., da ihr gegenüber keinerlei nachteilige Maßnahme ergriffen wurde, und bezeichnet den Fall daher als actio popularis. Der GH ist der Meinung, dass die Bf. schon allein aufgrund des Bestehens der strittigen Regelung, ihrer Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung und ihrem Wunsch, eine Hausgeburt durchzuführen, behaupten kann, Opfer einer Verletzung von Art. 8 EMRK zu sein.

Es gilt zu klären, ob die gesetzliche Regelung in das Recht der Bf. auf Achtung des Privatlebens eingriff. »Privatleben« ist ein breiter Begriff, der die physische und soziale Identität einer Person und somit das Recht auf Achtung der Entscheidung, ein Kind zu bekommen oder nicht, umfasst. Letzteres umfasst auch das Recht, die Umstände einer Geburt zu wählen. Die Bf. wurde zwar nicht davon abgehalten, ihr Kind zu Hause zur Welt zu bringen, eine Hausgeburt wird allerdings normalerweise mit Hilfe von medizinischem Fachpersonal durchgeführt. Eine Regelung, die ansonsten hilfsbereites Fachpersonal davon abhält, die nötige Hilfe anzubieten, ist ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens werdender Mütter.

Ein Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er unter anderem »gesetzlich vorgesehen« ist, wobei auch qualitative Anforderungen an das entsprechende Gesetz bezüglich fehlender Willkür gestellt werden. Der GH stellt zwar fest, dass vorliegend das Gesetz selbst den Eingriff darstellt, dies schließt jedoch eine Prüfung bezüglich dessen Qualität nicht aus. Wo Personen Entscheidungen in Zusammenhang mit der Ausübung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens in einem gesetzlich geregelten Bereich treffen, hat der Staat dieses Recht durch adäquate Gesetze zu schützen. Er genießt hier zwar einen weiten Ermessensspielraum, es ist jedoch ein Ausgleich zwischen sozialen Interessen und dem strittigen Recht zu treffen. Eine Mutter muss ihr Recht, über die Umstände der Geburt zu entscheiden, in der rechtlichen Sicherheit treffen können, dass ihre Entscheidung gesetzmäßig ist und ihr keine Sanktionen drohen. Gleichzeitig ist sich der GH über die medizinische Diskussion bezüglich der erhöhten Risiken von Hausgeburten bewusst.

Vorliegend wird verfassungsrechtlich geregelt, dass öffentliche Gesundheit und soziale Sicherheit – Geburten fallen unter beide Bereiche – durch spezielle Institutionen zu gewährleisten sind. Eine darartige verfassungsrechtliche Verpflichtung verlangt eine Regelung, die das Recht der Mutter, sich frei zu entscheiden, beachtet.

§§ 15 und 20 Gesundheitsfürsorgegesetz regeln das Recht der Patienten auf Selbstbestimmung bezüglich medizinischer Behandlungen, einschließlich des Rechts, gewisse Einmischungen zurückzuweisen. Gleichzeitig sanktioniert die zuvor erwähnte Regierungsverordnung medizinische Fachleute, die in ihrer beruflichen Qualifikation auf eine Weise tätig werden, die gesetzlich oder durch ihre Lizenzen nicht gedeckt ist. Der GH bezeichnet diese Bestimmungen in Bezug auf Hausgeburten als widersprüchlich. Zu beachten ist auch, dass die Regierung zumindest einen Fall eingestand, in dem es zu einem Verfahren gegen einen Angehörigen der Gesundheitsberufe kam. Des Weiteren weist der GH auf das Gesetz Nr. CLIV von 2009 hin, dass der Regierung aufträgt, die Hausgeburten durch Verordnung zu regeln. Dies ist jedoch bislang nicht erfolgt.

Der GH schließt daraus, dass die Frage der Assistenz von medizinischem Fachpersonal bei Hausgeburten von Rechtsunsicherheiten begleitet wird, die den Grad von Willkür erreichen. Werdende Mütter können aufgrund der Regierungsverordnung Nr. 218/1999 und der Ermangelung einer spezifischen gesetzlichen Regelung von Hausgeburten nicht frei die Hilfe solchen Fachpersonals in Anspruch nehmen. Die Wahl der Bf., sich für eine Hausgeburt zu entscheiden oder nicht, wurde dadurch beschränkt. Die Situation ist daher mit dem Begriff der »Vorhersehbarkeit« und somit mit jenem der »Gesetzmäßigkeit« nicht vereinbar.

Es ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK festzustellen (6:1 Stimmen; gemeinsames, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sajó und Richterin Tulkens; Sondervotum von Richter Popovic).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.250,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Popovic).

Vom GH zitierte Judikatur:

Open Door und Dublin Well Woman/IRL v. 29.10.1992, NL 1992/6, 32; EuGRZ 1992, 484; ÖJZ 1993, 280.

Evans/GB v. 10.4.2007 (GK), NL 2007, 90.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2010, Bsw. 67545/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 366) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_6/Ternovszky.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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