JudikaturJustizBsw61198/08

Bsw61198/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Januar 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Agnelet gg. Frankreich, Urteil vom 10.1.2013, Bsw. 61198/08.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Fehlende Begründung eines Geschworenengerichtsurteils.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 13.8.1983 wurde durch das Landesgericht Nizza Anklage gegen den Bf. wegen Mordes an A.R. erhoben. Er wurde in Untersuchungshaft genommen, jedoch am 7.10.1983 wieder entlassen. Auf Antrag des Oberstaatsanwalts wurde das Verfahren am 30.9.1985 eingestellt, was durch den Appellationsgerichtshof Aix-en-Provence am 23.4.1986 bestätigt wurde. Die dagegen von R.R., der Mutter des Mordopfers, eingebrachte Berufung wurde am 1.2.1988 vom Cour de cassation zurückgewiesen.

Am 11.6.1999 erklärte die Ehefrau des Bf., dass sie 1979 bei ihrer polizeilichen Vernehmung falsch ausgesagt und auf Bitte ihres Mannes behauptet habe, sich mit ihm am 27. und 28.10.1977 in der Schweiz aufgehalten zu haben. Durch Entscheidung vom 7.12.2000 ordnete der Appellationsgerichtshof Aix-en-Provence die Wiederaufnahme des Verfahrens an.

Am 20.12.2000 wurde gegen den Bf. ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet und eine richterliche Überprüfung angeordnet. Anträge des Bf. auf Einstellung des Verfahrens in den Jahren 2002, 2003 und 2004 wurden zurückgewiesen. Durch Entscheidung vom 26.10.2005 erhob der Appellationsgerichtshof Aix-en-Provence Anklage und ordnete die Verweisung an das Geschworenengericht Alpes-Maritimes an, da das Verfahren geeignete Hinweise erbracht habe, dass der Bf. A.R. ermordet habe, um sich um drei Mio. Francs zu bereichern. Die Berufung des Bf. gegen diese Entscheidung wurde am 15.2.2006 vom Cour de cassation zurückgewiesen.

Mit Urteil vom 20.12.2006 wurde der Bf. vom Geschworenengericht Alpes-Maritimes freigesprochen, wogegen die Staatsanwaltschaft Berufung einlegte. Das folgende Verfahren fand vor dem Geschworenengericht Bouches-du-Rhône vom 17.9. bis 11.10.2007 statt. Die beiden Hauptfragen, ob der Bf. A.R. absichtlich getötet und die Begehung der Tat zuvor geplant habe, wurden mit einer Mehrheit von mindestens zehn Ja-Stimmen beantwortet, die Zusatzfragen wurden als gegenstandslos betrachtet. Mit Urteil vom 11.10.2007 erklärte das Geschworenengericht den Bf. bezüglich des Mordes an A.R. für schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren. Das Gericht erließ einen Haftbefehl gegen den Bf. und verurteilte ihn außerdem zur Leistung von Schadenersatz an die Zivilparteien.

Der Bf. legte dagegen Berufung ein und brachte insbesondere vor, dass der Urteilsspruch nicht begründet gewesen sei. Am 15.10.2008 wies der Cour de cassation diese mit der Begründung zurück, dass den Anforderungen des Art. 6 EMRK genügt worden sei, da die Gesamtheit der Antworten, die die Richter und Geschworenen in den Urteilen der beiden Geschworeneninstanzen auf die gestellten Fragen gegeben hätten, die Begründung der Entscheidung ersetze.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Geschworenengericht sein Urteil nicht begründet habe.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung bringt vor, der Bf. habe es versäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug zu erschöpfen, da die Art. 315 und 352 der französischen StPO es ihm ermöglichten, die Formulierung der Fragen anzufechten und so einen Rechtsstreit herbeizuführen, über den das Geschworenengericht mit begründetem Urteil entscheiden müsste. Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Cour de cassation auf das vom Bf. bezüglich der fehlenden Begründung eingebrachte Rechtsmittel geantwortet hat, ohne ihm das Fehlen der möglichen Rechtsmittel entgegenzuhalten oder ihn darauf hinzuweisen

Darüber hinaus stellt der GH fest, dass das geltend gemachte Rechtsmittel nicht geeignet ist, den Beschwerdegrund zu beseitigen. Der Bf. beschwert sich über die fehlende Begründung des Strafurteils, indem er vorbringt, dass aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens die Notwendigkeit der Begründung jeder strafrechtlichen Entscheidung, die Ausdruck von Strafgerichtsbarkeit ist, folgt. Der Beschwerdegrund des Bf. betrifft somit nicht die Formulierung der Fragen, die dem Gericht und den Geschworenen gestellt wurden, oder den Ablauf der Verhandlung, sondern die Tatsache, dass das Urteil des Geschworenengerichts weder bei der Lesung der genannten Fragen durch den Präsidenten noch bei der Beratung, in der über die Schuld des Angeklagten und die verhängte Strafe entschieden wurde, begründet gewesen sei. Folglich stellt die Formulierung der Fragen in dieser Sache nicht den Kern des Beschwerdegrundes dar: sie bildet nur eines von mehreren Kriterien bei der Beurteilung des GH, ob Art. 6 EMRK im Falle einer fehlenden Begründung eines Urteils beachtet wurde.

Die Einrede der Regierung ist somit zurückzuweisen.

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Der GH stellt fest, dass allen Angeklagten, wie auch dem Bf., ein gewisses Maß an Informationen und Schutzmechanismen während eines französischen Strafprozesses zugute kommt: die Anklageschrift oder die Entscheidung des Appellationsgerichtshofs im Falle einer Berufung werden vollständig durch den Protokollführer während der mündlichen Verhandlung des Geschworenengerichts verlesen; die Anklagepunkte werden mündlich dargelegt und kontradiktorisch verhandelt; jedes Beweismittel wird erörtert und dem Angeklagten ein Anwalt beigestellt; Richter und Geschworene ziehen sich unmittelbar nach dem Ende der Verhandlung und der Verlesung der Fragen, ohne über die Akte der Verhandlung zu verfügen, zurück; sie entscheiden somit nur aufgrund der in der Verhandlung kontradiktorisch ausgeführten Tatsachen. Darüber hinaus können die Entscheidungen des Geschworenengerichts durch ein Geschworenengericht überprüft werden, das im Falle einer Berufung unter einer erweiterten Zusammensetzung entscheidet.

Bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Anklageerhebung und den den Geschworenen gestellten Fragen stellt der GH fest, dass der Bf. der einzige Angeklagte und der Sachverhalt sehr komplex war. Darüber hinaus hatte der Eröffnungsbeschluss begrenzte Bedeutung, da er vor den mündlichen Verhandlungen erging, die den Kern des Prozesses darstellen. Der GH stellt dennoch fest, dass aus diesem Beschluss ausdrücklich hervorgeht, dass der Mord nicht eindeutig geklärt wurde und dass Ort, Zeit und Umstände des vermuteten Verbrechens unbekannt blieben, da der Bf. die Tat stets bestritten hat. Im Hinblick auf die in der Entscheidung gemachten Feststellungen und deren Nutzen zum Verständnis des gegen den Bf. ergangenen Urteilsspruchs konnte der GH nicht feststellen, ob diese die Beratung und das Urteil des Geschworenengerichts letztendlich beeinflusst haben oder nicht. Fest steht, dass sie notwendigerweise zahlreiche Unklarheiten bestehen lassen, da die Klärung des Verschwindens von A.R. ausschließlich auf Vermutungen basieren kann.

Bezüglich der Fragen ist von größerer Bedeutung, dass die Richter und Geschworenen während der Beratung zwar über den Eröffnungsbeschluss, nicht aber über die Verhandlungsakte verfügten, und ihre Entscheidung nur aufgrund der in der Verhandlung ausgeführten Tatsachen fällten.

Der GH stellt fest, dass die Tatsache erheblich ist, dass der Bf. zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt wurde, nachdem zuvor ein Einstellungsbeschluss und ein Freispruch ergangen waren.

Im vorliegenden Fall wurden den Geschworenen nur zwei Fragen gestellt, nachdem die Zusatzfragen als gegenstandslos bezeichnet worden waren: die erste bezüglich der Tatsache, ob die Tötung von A.R. absichtlich begangen wurde, und die zweite bezüglich einer möglichen Planung. Der GH konnte unter den komplizierten Umständen des vorliegenden Falles nur feststellen, dass diese beiden Fragen unspezifisch und knapp waren. Er nimmt zur Kenntnis, dass der Bf. einerseits in der ersten Instanz freigesprochen worden war und andererseits die Gründe und Umstände des Verschwindens von A.R. – einschließlich der Behauptung eines Mordes – nur auf Vermutungen basieren, da keine eindeutigen Beweise, die beispielsweise das Verschwinden der Leiche oder Ort, Zeit und Begehung des Mordes betreffen, vorliegen. Folglich beinhalten die Fragen keinen Hinweis auf einen konkreten oder bestimmten Umstand, der es dem Bf. ermöglicht hätte, den Urteilsspruch zu verstehen.

Zwar legte der Staatsanwalt Berufung ein, was eine Überprüfung des Urteils der ersten Instanz bewirkte. Neben der Tatsache, dass Letzteres ebenfalls nicht begründet war, bewirkte die Berufung die Einsetzung eines neuen Geschworenengerichts, das anders zusammengesetzt und dafür verantwortlich war, die Akte erneut zu prüfen und im Rahmen einer neuen Verhandlung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut zu beurteilen. Daraus ergibt sich, dass der Bf. aus dem Verfahren der ersten Instanz keinerlei Information bezüglich der Gründe seiner Verurteilung im Berufungsverfahren durch andere Geschworene und Richter herleiten konnte, vor allem nachdem er zuvor freigesprochen worden war.

Zusammenfassend ist der GH der Ansicht, dass dem Bf. im vorliegenden Fall keine hinreichenden Garantien zur Verfügung standen, die es ihm ermöglicht hätten, das gegen ihn ergangene Strafurteil zu verstehen.

Schließlich nimmt der GH eine inzwischen eingetretene Reform zur Kenntnis, durch die mit der Annahme des Gesetzes Nr. 2011-939 vom 10.8.2011 ein neuer Art. 365-1 in die französische StPO eingefügt wurde. Dieser fordert künftig die Begründung eines Geschworenengerichtsurteils in einem sog. Begründungsformular, das dem Fragenformular hinzuzufügen ist. Im Falle einer Verurteilung verlangt das Gesetz, dass die Begründung die Einzelheiten aufgreift, die während der Beratung ausgeführt wurden und die das Geschworenengericht von jedem einzelnen dem Angeklagten vorgeworfenen Tatbestand überzeugt haben. Nach Ansicht des GH ist eine solche Reform dazu geeignet, die Schutzmechanismen gegen Willkür maßgeblich zu stärken und das Verständnis des Angeklagten für seine Verurteilung den Erfordernissen von Art. 6 EMRK entsprechend zu fördern.

Im vorliegenden Fall liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Der Bf. hat keine Entschädigung beantragt.

Anmerkung

Siehe auch die Urteile Oulahcene/F und Fraumens/F bzw. Legillon/F und Voica/F, jeweils vom 10.1.2013 (Bsw. Nr. 44.446/10 und 30.010/10 bzw. 53.406/10 und 60.995/09), wo der GH in vergleichbaren Konstellationen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in den beiden erstgenannten Fällen bzw. keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in den beiden übrigen Fällen feststellte.

Vom GH zitierte Judikatur:

Saric/DK v. 2.2.1999 (ZE)

Papon/F v. 15.11.2001 (ZE)

Taxquet/B v. 16.11.2010 (GK) = NL 2010, 350

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.1.2013, Bsw. 61198/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 20) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Agnelet.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.