JudikaturJustizBsw57671/00

Bsw57671/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
27. Juli 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Slimani gegen Frankreich, Urteil vom 27.7.2004, Bsw. 57671/00.

Spruch

Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 13 EMRK - Keine Möglichkeit der Teilnahme von Angehörigen an behördlicher Untersuchung betreffend den Tod eines Häftlings.

Keine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 2 oder Art. 3 EMRK

(einstimmig).

Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

Keine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 20.000,- für immateriellen Schaden, EUR 15.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist französische Staatsangehörige. Ihr 1999 verstorbener Lebensgefährte Mohsen Sliti, von dem sie zwei Kinder hat, besaß die tunesische Staatsbürgerschaft.

Herr Sliti war sowohl in Tunesien als auch in Frankreich mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung. Am 2.10.1990 wurde er zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, gleichzeitig wurde ein unbedingtes Aufenthaltsverbot gegen ihn erlassen, welches jedoch nicht sofort vollzogen wurde. 1998 legte der genannte Feuer an der Wohnstätte der Bf. und drohte, sich mit seinem Sohn aus dem Fenster zu stürzen. Das Gericht verurteilte ihn zu einer einjährigen Haftstrafe mit der Auflage, sich vor dem Haftantritt einer stationären Behandlung in der psychiatrischen Abteilung des örtlichen Krankenhauses zu unterziehen. Mehreren psychiatrischen Gutachten zufolge litt Herr Sliti an depressiven Angstzuständen mit Suizidtendenzen, die eine psychiatrische Betreuung auf lange Sicht erforderlich machten. Er wurde mit einer Kombination von Antidepressiva, Beruhigungsmitteln und Angst lösenden Medikamenten behandelt, auf die er gut ansprach. Im Mai desselben Jahres entschied der Präfekt von Bouches-du-Rhône, das seinerzeitig ausgesprochene Aufenthaltsverbot zu vollstrecken, worauf Herr Sliti in das Anhaltezentrum von Marseille-Arenc überstellt wurde. Am 24.5.1999 ordnete der Präsident des Marseiller Tribunal de grande instance die fortgesetzte Anhaltung von Herrn Sliti bis 26.5.1999 in Erwartung der Ausstellung eines Heimreisezertifikates an. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel blieb erfolglos. Am Morgen des 26.5.1999 verweigerte der genannte wiederholt die Einnahme seiner Medikamente. Ein Arzt wurde nicht zu Rate gezogen, obwohl sich Herr Sliti augenscheinlich in einem Zustand der Gereiztheit befand. Gegen 10.30 Uhr wurde ihm unwohl, kurze Zeit später brach er zusammen und fiel ins Koma. Er wurde in ein Marseiller Krankenhaus gebracht, wo er kurz darauf verstarb.

Noch am selben Tag wurde eine Untersuchung zur Ermittlung der Todesursache eingeleitet. In der Folge versuchte die Bf. vergeblich, Zugang zum Autopsiebericht und dem Ergebnis der toxikologischen Untersuchungen zu bekommen. Sie wandte sich darauf an den Vorsitzenden der Anklagekammer, der ihr Begehren mit der Begründung für unzulässig erklärte, dass sie nicht berechtigt sei, von sich aus Untersuchungshandlungen zu begehren.

Laut einem medizinischen Gutachten war Herr Sliti an Herzstillstand infolge eines Lungenödems nach einem – zuvor noch nie aufgetretenen – Epilepsieanfall gestorben, der möglicherweise durch die Weigerung, die vorgeschriebenen Medikamente zu nehmen, ausgelöst worden war. Die Gutachter kamen ferner zu dem Ergebnis, dass die medizinische Erstversorgung im Anhaltezentrum und die nachfolgende Behandlung im Krankenhaus dem gegenwärtigen Stand der Medizin entsprochen hätten. Die Untersuchung wurde am 26.6.2001 eingestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), da der Tod von Herrn Sliti auf gravierende Unzulänglichkeiten im Bereich der medizinischen Versorgung im Anhaltezentrum von Marseille-Arenc zurückzuführen sei. Sie rügt ferner eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) aufgrund der unzumutbaren Haftbedingungen, denen ihr Lebensgefährte ausgesetzt gewesen sei. In diesem Zusammenhang behauptet die Bf. auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK:

1.) Zum Tod von Herrn Sliti und den Haftbedingungen:

Die Reg. wendet ein, die Bf. habe es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug gemäß Art. 35 (1) EMRK auszuschöpfen, da sie weder einen Strafantrag wegen fahrlässiger Tötung noch eine Amtshaftungsklage (action en responsabilité de l'Etat) bei den Verwaltungsgerichten einbrachte.

Im vorliegenden Fall wäre es der Bf. offen gestanden, gemäß Art. 85 der französischen StPO einen Strafantrag beim Untersuchungsrichter wegen fahrlässiger Tötung zu stellen und sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anzuschließen. Dies hätte die Einleitung eines Strafverfahrens zur Folge gehabt, wodurch der Untersuchungsrichter gehalten gewesen wäre, eine Prüfung des Falles vorzunehmen und ihn gegebenenfalls vor die Strafgerichte zu bringen. Für den Fall, dass dieser zur Ansicht gekommen wäre, dass der Tod von Herrn Sliti seine Ursache nicht in einer strafbaren Handlung oder Unterlassung gehabt hätte und die Einstellung des Verfahrens verfügt hätte, wäre die Bf. in ihrer Eigenschaft als Angehörige des Opfers berechtigt gewesen, eine Amtshaftungsklage vor die Verwaltungsgerichte zu bringen und Ersatz für den erlittenen Schaden zu erlangen.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Bf. nach nationalem Recht über einen wirksamen Zugang zu einem Rechtsbehelf verfügte, der ihr – unter durchaus reellen Erfolgschancen – Abhilfe für die in Frage stehende Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK verschafft hätte. Die Einrede der Reg. erfolgte somit zu Recht. Dieser Beschwerdepunkt ist somit wegen fehlender Zuständigkeit des GH infolge Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges für unzulässig zu erklären (5:2 Stimmen, Sondervotum von Richter Loucaides, gefolgt von Richterin Mularoni). Angesichts des Naheverhältnisses zwischen Art. 13 und Art. 35 (1) EMRK liegt auch keine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 2 oder Art. 3 EMRK vor (einstimmig).

2.) Zur gerichtlichen Untersuchung des Vorfalls:

Im vorliegenden Fall wurde noch am Tag des Ablebens von Herrn Sliti von Amts wegen eine Untersuchung gemäß Art. 74 der französischen StPO zur Ermittlung der Todesursache eingeleitet. Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um eine offizielle Untersuchung mit dem Ziel der Identifikation und der Bestrafung der dafür in Frage kommenden Täter handelte. Ungeachtet dessen wurde die Bf. von jeglicher Information über den Stand bzw. Ablauf der Untersuchungen ausgeschlossen: Sie hatte weder Zugang zu Dokumenten noch konnte sie an der Untersuchung mitwirken, auch der Untersuchungsrichter weigerte sich, sie anzuhören. Über die Einstellung der Untersuchung wurde die Bf. ebenfalls nicht informiert.

Der GH erinnert daran, dass für den Fall, dass ein Häftling unter mysteriösen Umständen stirbt, die nationalen Behörden gemäß Art. 2 EMRK von Amts wegen zur Einleitung einer „wirksamen und offiziellen" Untersuchung zur Ermittlung der Todesumstände und der dafür Verantwortlichen verpflichtet sind. Die Ansicht der Reg., wonach Hinterbliebene in einem derartigen Fall einen Strafantrag mit Privatbeteiligtenanschluss stellen müssen, um in die behördliche Untersuchung miteingebunden zu werden, widerspricht diesem Grundsatz. Im gegenständlichen Fall hätte Art. 2 EMRK verlangt, dass die Bf. an der Untersuchung hinsichtlich der näheren Todesumstände teilnehmen konnte, ohne zuvor Strafanzeige – was hier nicht der Fall war – erstatten zu müssen. Der GH weist darauf hin, dass das französische Recht in diesem Punkt kürzlich geändert wurde. Die Angehörigen einer verstorbenen Person haben nunmehr die Möglichkeit, in die behördliche Untersuchung als Zivilpersonen miteingebunden zu werden, ohne zuvor einen Strafantrag mit Privatbeteiligtenstatus stellen zu müssen. Im vorliegenden Fall war es der Bf. jedoch nicht möglich, einen wirksamen Zugang zu Informationen im Zusammenhang mit der Untersuchung hinsichtlich des Todes ihres früheren Lebensgefährten zu erhalten. Verletzung von Art. 2 EMRK, eine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK ist nicht notwendig (jeweils einstimmig)

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 20.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 15.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Assenov ua./BG v. 28.10.1998 (= NL 1998, 217).

Selmouni/F v. 28.7.1999 (= NL 1999, 135).

Hugh Jordan/GB v. 4.5.2001.

McKerr/GB v. 4.5.2001.

Mouisel/F v. 14.11.2002 (= NL 2002, 262).

McGlinchey ua./GB v. 29.4.2003.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.7.2004, Bsw. 57671/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 196) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_4/Slimani.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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