JudikaturJustizBsw56665/09

Bsw56665/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. September 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Karoly Nagy gg. Ungarn, Urteil vom 14.9.2017, Bsw. 56665/09.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Unzuständigkeit der staatlichen Gerichte für Streitigkeit aus kirchlichem Arbeitsverhältnis.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (10:7 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. trat 1991 eine Stelle als Pastor der Reformierten Kirche Ungarns an. Seine Rechte und Pflichten sowie seine Bezahlung wurden in einer von der Pfarre von Gödöllö ausgestellten Ernennungsurkunde festgehalten.

Im Juni 2005 wurde wegen Äußerungen in einer lokalen Zeitung ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Gleichzeitig wurde er vom Kirchengericht erster Instanz vorläufig vom Dienst suspendiert, was mit einer Herabsetzung seiner Bezüge auf die Hälfte verbunden war. Im September 2005 erfolgte seine Entlassung durch das Kirchengericht wegen der Begehung von Disziplinarvergehen. Das Kirchengericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung im März 2006.

Im Juni 2006 brachte der Bf. beim Arbeitsgericht Pest eine Klage ein, mit der er die Zahlung der ihm vorenthaltenen Bezüge begehrte. Er machte geltend, seine Tätigkeit für die Kirche sei mit einem Dienstverhältnis vergleichbar. Das Arbeitsgericht stellte das Verfahren am 22.12.2006 wegen Unzuständigkeit ein. Da das Dienstverhältnis eines Pastors vom Kirchenrecht geregelt sei und sich die Klage auf dieses beziehe, sei das Arbeitsrecht nicht anwendbar und die staatliche Gerichtsbarkeit nicht zuständig.

Daraufhin machte der Bf. seine Ansprüche vor dem Zentralen Amtsgericht Pest mit einer gegen die Reformierte Kirche Ungarns gerichteten Klage geltend. Er stützte seine Forderungen auf das Vertragsverhältnis, das zwischen ihm und der Kirche bestanden hätte. Die Klage wurde vom Amtsgericht mit der Begründung abgewiesen, es hätte kein zivilrechtlicher Vertrag bestanden. Die dagegen vom Bf. erhobene Berufung wurde vom Landgericht Budapest abgewiesen. Dieses war im Gegensatz zum Amtsgericht der Ansicht, die beklagte Partei sei nicht passiv legitimiert, weil die Pfarre von Gödöllö über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfüge. Der daraufhin angerufene Oberste Gerichtshof stellte das Verfahren am 28.5.2009 ein, weil die Tätigkeit als Pastor dem Kirchenrecht unterliege und daher keine staatliche Jurisdiktion für die Durchsetzung daraus resultierender Ansprüche bestünde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(34) Der Bf. brachte vor, die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, über einen aus seiner Tätigkeit als Pastor erwachsenden Anspruch zu entscheiden, hätte gegen sein Recht auf Zugang zu einem Gericht verstoßen [...].

Umfang der Rechtssache vor der Großen Kammer

(35) In der öffentlichen Verhandlung vor der GK brachte der Bf. vor, er habe einen separaten Vertrag mit der Reformierten Kirche Ungarns über das Unterrichten von Kirchengeschichte abgeschlossen. [...] Diese Aktivität wäre nicht Teil seiner Tätigkeit als Pastor gewesen. [...]

(39) Aus den vorliegenden Dokumenten geht hervor, dass der Bf. die separate Vereinbarung über das Unterrichten von Kirchengeschichte erst in seinem Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof erwähnt hat. Der Oberste Gerichtshof entgegnete, dass es der Bf. verabsäumt hätte, seinen im Zusammenhang mit dem separaten Unterrichtsvertrag stehenden Anspruch vor dem Gericht erster Instanz geltend zu machen. [...]

(42) Der GH erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach alle Beschwerdepunkte, die auf der internationalen Ebene geltend gemacht werden sollen, zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den im nationalen Recht vorgesehenen formalen Anforderungen und Fristen vorgebracht worden sein müssen. Angesichts der Schlussfolgerung des Obersten Gerichtshofs, wonach der Bf. die Frage eines zweiten Vertrags nicht den prozeduralen Anforderungen des ungarischen Rechts entsprechend vor dem Gericht erster Instanz vorgebracht hat, ist der GH davon überzeugt, dass es der Bf. in diesem Zusammenhang verabsäumt hat, verfügbare innerstaatliche Rechtsbehelfe zu erschöpfen.

(43) Angesichts dieser Überlegungen sowie der Tatsache, dass die Rechtssache vor der GK dadurch bestimmt wird, wie die Beschwerde von der Kammer für zulässig erklärt wurde, wird der GH das Vorbringen des Bf. nur hinsichtlich seiner Tätigkeit als Pastor gemäß der Ernennungsurkunde prüfen.

Beurteilung durch die Große Kammer

Allgemeine Grundsätze

(60) [...] Damit Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem »zivilrechtlichen« Aspekt anwendbar ist, muss eine Streitigkeit über ein »Recht« vorliegen, von dem zumindest in vertretbarer Weise behauptet werden kann, dass es nach innerstaatlichem Recht anerkannt ist [...].

(61) Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert keinen bestimmten Inhalt zivilrechtlicher »Ansprüche und Verpflichtungen« im materiellen Recht der Vertragsstaaten. Der GH kann nicht im Wege der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ein materielles Recht schaffen, das im betroffenen Staat keine Rechtsgrundlage hat. [...]

(62) Um zu entscheiden, ob das umstrittene Recht wirklich eine Grundlage im innerstaatlichen Recht hat, muss von den Bestimmungen des einschlägigen innerstaatlichen Rechts und ihrer Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte ausgegangen werden. [...] Es ist in erster Linie Sache der innerstaatlichen [...] Gerichte, Probleme der Auslegung des nationalen Rechts zu lösen. [...] Abgesehen von offensichtlicher Willkür ist es nicht Sache des GH, die Auslegung nationalen Rechts durch die innerstaatlichen Gerichte in Frage zu stellen. [...]

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(64) Die erste zu beantwortende Frage ist [...], ob der Bf. ein »Recht« hatte, von dem zumindest in vertretbarer Weise behauptet werden kann, dass es nach innerstaatlichem Recht anerkannt ist.

(65) Bei der Prüfung dieser Frage sind die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und deren Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte als Ausgangspunkt zu nehmen.

(66) Was das innerstaatliche Recht betrifft, ist unbestritten, dass Ansprüche, die sich auf interne Gesetze und Richtlinien einer Kirche beziehen, gemäß § 15 Abs. 2 des Kirchengesetzes von 1990 nicht von staatlichen Organen durchgesetzt werden können (Anm: § 15 Abs. 1 des Kirchengesetzes sieht die Trennung von Kirche und Staat in Ungarn vor. Nach Abs. 2 kann kein staatlicher Zwang für die Durchsetzung interner Gesetze und Regeln der Kirche angewendet werden.). Ebenso steht außer Streit, dass innerstaatliche Gerichte das Verfahren [...] einstellen müssen, wenn sie feststellen, dass eine anhängige Streitigkeit einen kirchlichen Anspruch betrifft, der vor den innerstaatlichen Organen nicht durchsetzbar ist. Die Hauptfrage, vor der die innerstaatlichen Gerichte standen, betraf daher den genauen Charakter der Beziehung des Bf. zur Reformierten Kirche.

(67) Das ungarische Verfassungsgericht stellte 2003 in einer Entscheidung die Stellung des Klerus im Hinblick auf ihre kirchlichen Dienste dahingehend klar, dass auf dem Kirchenrecht beruhende Ansprüche nicht von den innerstaatlichen Gerichten durchgesetzt werden könnten. In dieser Entscheidung hatte das Verfassungsgericht erklärt, dass Beziehungen zwischen Kirchen und ihren Pastoren einerseits vom Kirchenrecht geregelt werden könnten, an dessen Durchsetzung sich keine öffentliche Behörde beteiligen könne. Auf der anderen Seite stellte das Verfassungsgericht [...] fest, dass [...] staatliche Gerichte verpflichtet seien, in der Sache über Rechtsstreitigkeiten betreffend die Rechte und Pflichten von Personen zu entscheiden, die in einem von staatlichem Recht bestimmten Dienstverhältnis zu einer Kirche stehen.

(68) Wie der GH in diesem Zusammenhang feststellt, beruhte der kirchliche Dienst des Bf. auf seiner Ernennungsurkunde [...]. Nach deren Formulierung hatte der Bf. »durch kirchliche Gesetze und Rechtsnormen, insbesondere die in Gesetz Nr. II aus 1994 über Pastoren und Pastoraldienste und die relevanten Verhaltensregeln, bestimmte Aufgaben« zu erfüllen. Dazu bemerkt der GH, dass § 9 des Gesetzes Nr. II aus 1994 über die Verfassung und Regierung der Reformierten Kirche Ungarns die Anwendbarkeit von Kirchenrecht auf die Dienstverhältnisse von Pastoren und anderen Personen, die pastorale Dienste leisten, vorsieht. Außerdem bestimmt § 34 des Gesetzes Nr. I aus 2000 über die Jurisdiktion der Reformierten Kirche Ungarns, dass Rechtsstreitigkeiten unter anderem im Bereich der Anstellung, der Bezahlung und des Ruhestands von Pastoren in die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte fallen.

(69) Als der Bf. aus dem Dienst als Pastor entlassen wurde, wandte er sich jedoch mit seinen Ansprüchen nicht an die kirchlichen Gerichte, sondern strengte zunächst ein arbeitsrechtliches Verfahren an [...]. Das Arbeitsgericht stellte das Verfahren ein [...], [woraufhin] der Bf. sich an die Zivilgerichte wandte [...]. Nur dieses letztgenannte Verfahren wurde von der Kammer für zulässig erklärt und ist daher von der GK zu prüfen.

(70) Das Zivilgericht erster Instanz [...] kam zu dem Schluss, dass die Beziehung des Bf. zur beklagten Kirche nicht mit einem Dienstleistungsvertrag im Sinne des Zivilgesetzbuchs gleichgesetzt werden könne, weil es wichtige Merkmale eines solchen Vertrags nicht aufweisen würde und weil die kirchlichen Dienste des Bf. insbesondere keinen Marktwert hätten. Diese Ansicht wurde durch den Obersten Gerichtshof bestätigt, der feststellte, der Anspruch des Bf. wäre seiner Natur nach eher kirchlich als zivilrechtlich und daher vor den innerstaatlichen Gerichten nicht durchsetzbar. Den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts entsprechend sah er daher keinen Grund dafür, in der Sache über den Anspruch zu entscheiden und stellte das Verfahren ein. [...]

(71) Vor dem GH machte der Bf. geltend, er habe zu Beginn seines Verfahrens nach der innerstaatlichen Rechtslage ein Recht gehabt, das ausreichend anerkannt war, um Art. 6 EMRK auf den Plan zu rufen. Eine solche Behauptung verlangt eine Beurteilung des Inhalts des ungarischen Rechts durch den GH und, wenn sie zutrifft, eine [...] Schlussfolgerung, die sich von jener der ungarischen Gerichte unterscheidet. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass eine solche Vorgangsweise nur erforderlich ist, wenn sich die Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Gerichte als willkürlich oder offensichtlich unsachlich erweisen.

(72) [...] Im Fall des GH stellten alle nationalen Gerichte [...] nach einer detaillierten Prüfung der Frage der Jurisdiktion der staatlichen Gerichte und dem Recht von Personen in kirchlichen Diensten auf Zugang zu einem Gericht das Verfahren mit der Feststellung ein, der Anspruch des Bf. könne vor den nationalen Gerichten nicht durchgesetzt werden, weil sein Pastoraldienst und die Ernennungsurkunde, auf welcher er beruhte, vom Kirchenrecht bestimmt waren und nicht vom staatlichen Recht. [...]

(74) Überdies ist der GH davon überzeugt, dass § 15 Abs. 2 des Kirchengesetzes von 1990 auf Angelegenheiten beschränkt war, die »interne Gesetze und Regeln der Kirche« betreffen, und Kirchen oder ihren Amtsträgern keine uneingeschränkte Immunität gegen jegliche zivilrechtliche Klage einräumte. Wie das Beispiel des Leiturteils des Obersten Gerichtshofs zeigt [...], können vielmehr andere Ansprüche, wie etwa solche, die sich auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte beziehen, gegen kirchliche Amtsträger geltend gemacht werden, weil sie nicht »interne Gesetze und Regeln der Kirche« iSv. § 15 Abs. 2 des Kirchengesetzes von 1990 betreffen.

(75) Allerdings betraf die Klage des Bf. kein solches gesetzliches Recht. Tatsächlich bezog sie sich auf eine Behauptung, wonach ein aus seinen kirchlichen Diensten, die kirchenrechtlich geregelt waren, resultierender pekuniärer Anspruch als unter das Zivilrecht fallend anzusehen wäre. Nach einer sorgfältigen Prüfung des Charakters dieses Anspruchs stellten die innerstaatlichen Gerichte – soweit sie sich in der Sache mit der Angelegenheit befassten – übereinstimmend fest, dass dies gemäß den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts nicht der Fall war.

(76) Angesichts des gesamten Rahmens der Gesetzgebung und Rechtsprechung, der in Ungarn bestand, als der Bf. seine zivilrechtliche Klage einbrachte, kann die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte, wonach der Pastoraldienst des Bf. von kirchlichem Recht bestimmt wurde, und ihre Entscheidung, das Verfahren einzustellen, nicht als willkürlich oder offensichtlich unsachlich angesehen werden.

(77) Folglich [...] hatte der Bf. kein »Recht« , von dem zumindest in vertretbarer Weise behauptet werden könnte, es wäre vom innerstaatlichen Recht anerkannt. Eine andere Schlussfolgerung würde dazu führen, dass der GH im Wege der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein materielles Recht schafft, das im belangten Staat keine Rechtsgrundlage hat.

(78) Der GH ist daher der Ansicht, dass Art. 6 EMRK auf die Tatsachen des vorliegenden Falls nicht anwendbar ist. Folglich ist die Beschwerde ratione materiae unvereinbar mit den Bestimmungen der Konvention und muss [als unzulässig] zurückgewiesen werden (10:7 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Sicilianos, Pinto de Albuquerque und Pejchal; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Sajó, López Guerra, Tsotsoria und Laffranque).

Vom GH zitierte Judikatur:

Roche/GB v. 19.10.2005 (GK) = NL 2005, 242

Boulois/L v. 3.4.2012 (GK) = NLMR 2012, 103

Baka/H v. 23.6.2016 (GK) = NLMR 2016, 267

Lupeni Greek Catholic Parish u.a./RO v. 29.11.2016 (GK) = NLMR 2016, 522

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.9.2017, Bsw. 56665/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 422) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_5/Nagy.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.