JudikaturJustizBsw54810/00

Bsw54810/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Juli 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Jalloh gegen Deutschland, Urteil vom 11.7.2006, Bsw. 54810/00.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln.

Verletzung von Art. 3 EMRK (10:7 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung unter Art. 8 EMRK (12:5 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (11:6 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 5.868,88 für Kosten und Auslagen (11:6 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

D Am 29.10.1993 beobachteten vier Polizisten den Bf. dabei, wie er winzige Plastiksäckchen aus dem Mund nahm und einer anderen Person gegen Geld übergab. Da die Beamten vermuteten, die Säckchen würden Drogen enthalten, schritten sie zur Festnahme des Bf., der daraufhin ein weiteres Säckchen verschluckte.

Die Polizisten fanden bei der Durchsuchung des Bf. keine Drogen. Da eine weitere Verzögerung den Erfolg der Ermittlungen vereiteln hätte können, ordnete der Staatsanwalt die Verabreichung eines Brechmittels an, um die Ausscheidung des Säckchens zu erwirken.

Der Bf. wurde daraufhin in ein Krankenhaus gebracht, wo er dem Vorbringen der Regierung zufolge von einem Arzt über seine Krankengeschichte befragt wurde. Der Bf. stellt diese Befragung in Abrede. Da sich der Bf. weigerte, die Brechmittel einzunehmen, wurde er von vier Polizisten festgehalten, um dem Arzt die Verabreichung einer Salzlösung und von Ipecacuanha-Sirup über einen durch die Nase in den Magen eingeführten Schlauch zu ermöglichen. Zusätzlich injizierte der Mediziner das Morphiumderivat Apomorphin als weiteres Brechmittel. Aufgrund dieser Behandlung erbrach der Bf. ein 0,2 Gramm Kokain enthaltendes Säckchen.

Am 30.10.1993 verhängte das Amtsgericht Wuppertal die Untersuchungshaft über den Bf. Zweieinhalb Monate nach der Zwangsbehandlung unterzog er sich in der Krankenstation der Haftanstalt einer Gastroskopie, da er über Magenschmerzen klagte. In dem dabei erstellten Krankenbericht wurde kein Zusammenhang zwischen seinen Beschwerden und der Verabreichung der Brechmittel festgestellt.

Im Strafverfahren vor dem Amtsgericht Wuppertal erhob der anwaltlich vertretene Bf. einen Einspruch gegen die Verwendung des Beweismittels, das durch die seiner Ansicht nach rechtswidrige Verabreichung von Brechmitteln erlangt worden war. Das Amtsgericht wies dieses Vorbringen zurück und verurteilte den Bf. am 23.3.1994 wegen Drogenhandels zu einer einjährigen Freiheitsstrafe, die bedingt nachgesehen wurde. Am selben Tag wurde der Bf. aus der Haft entlassen. Seinem Vorbringen zufolge musste er sich weiterhin wegen der durch die Brechmittel verursachten Magenbeschwerden behandeln lassen.

Aufgrund eines Rechtsmittels des Bf. gegen das Urteil des Amtsgerichts reduzierte das Landgericht Wuppertal am 17.5.1995 die Freiheitsstrafe auf sechs Monate. Das Landgericht erachtete das durch die Verabreichung von Brechmitteln erlangte Drogensäckchen als zulässiges Beweismittel. Eine solche zwangsweise Behandlung sei gemäß § 81a StPO rechtmäßig. (Anm.: Gemäß § 81a StPO sind körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, zur Feststellung von Tatsachen, die für das Verfahren von Bedeutung sind, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.) Die dagegen erhobene Berufung, mit der vom Bf. geltend gemacht wurde, diese Behandlung sei durch § 81a StPO nicht gedeckt und verstoße überdies gegen Art. 1 und Art. 2 GG, wurde vom Oberlandesgericht Düsseldorf am 19.9.1995 abgewiesen. Die Verfassungsbeschwerde des Bf. wurde vom BVerfG am 15.9.1999 nicht zur Entscheidung angenommen, da der Bf. im Strafverfahren nicht alle prozessualen Möglichkeiten genutzt hätte, um eine Verletzung des Grundgesetzes zu verhindern.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Der Bf. bringt vor, er sei durch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen worden.

a) Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung:

In Bezug auf medizinische Eingriffe, denen eine inhaftierte Person gegen ihren Willen unterzogen wird, verpflichtet Art. 3 EMRK die Staaten zum Schutz des körperlichen Wohlergehens von Personen, denen die Freiheit entzogen wird, etwa im Wege der notwendigen medizinischen Betreuung. Eine aus medizinischer Sicht unumstritten notwendige therapeutische Maßnahme kann grundsätzlich nicht als unmenschlich oder erniedrigend angesehen werden.

Auch wenn diese nicht durch eine medizinische Notwendigkeit begründet sind, verbieten Art. 3 und Art. 8 EMRK nicht von vornherein medizinische Eingriffe, die gegen den Willen eines Verdächtigen vorgenommen werden, um Beweise für seine Beteiligung an einer Straftat zu erlangen. So haben die Konventionsorgane in einigen Fällen festgestellt, dass diese Bestimmungen durch die Entnahme von Blut- oder Speichelproben gegen den Willen eines Verdächtigen zur Ermittlung in einer Strafsache nicht verletzt wurden. Jeder zwangsweise medizinische Eingriff zur Erlangung von Beweisen muss jedoch anhand der Umstände des Einzelfalls durch überzeugende Gründe gerechtfertigt sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Verfahren darauf abzielt, aus dem Inneren des Körpers der betroffenen Person Sachbeweise für das ihr angelastete Verbrechen zu erlangen.

b) Zum vorliegenden Fall:

Wie von den innerstaatlichen Gerichten nicht bestritten wurde, beruhte die Verabreichung der Brechmittel auf § 81a StPO. Diese Bestimmung bezieht sich jedoch nicht auf Handlungen, die der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit der betroffenen Person dienen. Außerdem wurden die Brechmittel verabreicht, ohne zuvor zu erörtern, welche Gefahr der Verbleib des Drogensäckchens im Körper des Bf. mit sich gebracht hätte. Der GH ist daher von dem Argument der Regierung nicht überzeugt, die angefochtene Maßnahme sei aus medizinischen Gründen zum Schutz der Gesundheit des Bf. erforderlich gewesen. Tatsächlich zielte sie auf die Sicherung eines Beweises für ein Drogendelikt ab. Diese Feststellung rechtfertigt noch nicht die Schlussfolgerung, dass die angefochtene Behandlung gegen Art. 3 EMRK verstößt. Der GH hat bereits wiederholt festgestellt, dass die Konvention nicht grundsätzlich zwangsweise medizinische Eingriffe zur Aufklärung einer Straftat verbietet. Jeder Eingriff in die körperliche Integrität einer Person zur Erlangung eines Beweismittels muss jedoch einer strengen Überprüfung unterzogen werden. Dabei spielen die folgenden Faktoren eine besondere Rolle: die Notwendigkeit der Zwangsbehandlung zur Erlangung des Beweises, die Art und Weise ihrer Durchführung sowie der Schmerz und das Leiden, das sie verursachte, das Ausmaß der medizinischen Betreuung und die Auswirkungen auf die Gesundheit des Verdächtigen. Im Lichte aller Umstände des Falles darf der Eingriff nicht das Mindestmaß erreichen, das ihn in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK bringen würde.

Was die Frage betrifft, ob die zwangsweise medizinische Behandlung notwendig war, um den Beweis zu erlangen, stellt der GH fest, dass Drogenhandel eine schwerwiegende Straftat ist. Im vorliegenden Fall war jedoch vor Anordnung der umstrittenen Maßnahme klar, dass der Bf. die Drogen in seinem Mund verwahrte und daher nicht in großem Umfang Suchtgift zum Verkauf anbieten konnte. Dies spiegelt sich auch in der verhängten Strafe wieder, die mit einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten am unteren Ende des Strafrahmens angesiedelt ist. Der GH anerkennt das Interesse der Ermittler, die genaue Menge und Qualität der angebotenen Drogen zu bestimmen. Er ist jedoch nicht überzeugt, dass die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Erlangung des Beweismittels unumgänglich war. Die Strafverfolgungsbehörden hätten auch einfach warten können, bis die Drogen auf natürlichem Weg ausgeschieden worden wären. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass viele andere Mitgliedstaaten des Europarats bei der Untersuchung von Drogendelikten diese Methode anwenden.

Zu den Gesundheitsrisiken des Eingriffs stellt der GH fest, dass die Gefährlichkeit der Verabreichung von Ipecacuanha-Sirup über einen durch die Nase eingeführten Schlauch und von Apomorphin nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch in der medizinischen Fachwelt umstritten ist. Der GH ist nicht davon überzeugt, dass die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln, die im belangten Staat bereits zu zwei Todesfällen geführt hat, lediglich vernachlässigbare Gesundheitsrisiken birgt. Außerdem scheint die Tatsache, dass die Behörden der meisten deutschen Länder und des Großteils der Mitgliedstaaten des Europarates auf die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln verzichten, darauf hinzudeuten, dass eine solche Maßnahme als gesundheitsgefährdend angesehen wird.

In Bezug auf die Art der Verabreichung der Brechmittel stellt der GH fest, dass der Bf. von vier Polizisten niedergedrückt wurde, was eine an Brutalität grenzende Gewaltanwendung gegen ihn bedeutet. Die folgende Einführung eines Schlauchs durch seine Nase in den Magen muss beim Bf. Schmerzen und Angst verursacht haben. Durch die Injektion eines zweiten Brechmittels wurde er gegen seinen Willen einem weiteren Eingriff in seine körperliche Integrität unterworfen. Berücksichtigt werden muss auch das seelische Leiden des Bf. während er unter Beobachtung durch Polizisten und einen Arzt auf die Wirkung der Brechmittel wartete. Unter diesen Bedingungen zum Erbrechen gezwungen zu sein, muss erniedrigend für ihn gewesen sein. Was die medizinische Überwachung der Verabreichung der Brechmittel betrifft, stellt der GH fest, dass diese von einem Arzt in einem Krankenhaus durchgeführt wurde. Es ist jedoch umstritten, ob eine Anamnese durchgeführt wurde, um die Gefahr für die Gesundheit des Bf. zu ergründen. Angesichts seiner mangelnden Sprachkenntnisse und seines Widerstands scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass der Bf. irgendwelche von dem Arzt gestellte Fragen beantwortet oder sich einer Untersuchung unterzogen hat.

Ob der Bf. anhaltende Schäden an seiner Gesundheit davongetragen hat, ist umstritten. Der GH erachtet es nicht als erwiesen, ob seine Behandlung in der Haft oder nach seiner Entlassung durch die zwangsweise Verabreichung der Brechmittel verursacht worden ist. Diese Schlussfolgerung stellt aber selbstverständlich die Feststellung des GH nicht in Frage, dass der zwangsweise medizinische Eingriff nicht ohne mögliche Risiken für die Gesundheit des Bf. war. Angesichts aller Umstände des Falles stellt der GH fest, dass die angefochtene Maßnahme das Mindestmaß an Schwere erreichte, das erforderlich ist, um sie in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu bringen. Die Behörden unterwarfen den Bf. einem schwerwiegenden Eingriff in seine körperliche und seelische Integrität. Sie zwangen ihn zu erbrechen, um ein Beweismittel zu erlangen, das sie auch durch weniger belastende Methoden erlangen hätten können. Die Art der Durchführung der Maßnahme war geeignet, beim Bf. Gefühle von Angst, Schmerz und Minderwertigkeit hervorzurufen und ihn zu erniedrigen und zu demütigen. Außerdem brachte das Vorgehen – nicht zuletzt wegen des Versäumnisses, eine Anamnese durchzuführen – Gefahren für die Gesundheit des Bf. mit sich. Auch wenn dies nicht beabsichtigt war, wurde die Maßnahme in einer Weise durchgeführt, die beim Bf. seelisches und körperliches Leiden verursachte. Da der Bf. somit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen wurde, liegt eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Bratza und Zupancic; Sondervotum der Richter Wildhaber und Caflisch; Sondervotum der Richter Ress, Pellonpää, Baka und Sikuta; Sondervotum von Richter Hajiyev).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. sieht in der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln auch einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens. Der GH erachtet es angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht als notwendig, diese Angelegenheit auch unter Art. 8 EMRK zu prüfen (12:5 Stimmen; Sondervotum der Richter Wildhaber und Caflisch; Sondervotum der Richter Ress, Pellonpää und Baka).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Nach Ansicht des Bf. war die Verabreichung der Brechmittel illegal und unvereinbar mit Art. 3 EMRK. Da der auf diese Weise erlangte Beweis die einzige Grundlage für seine Verurteilung bildete, wäre das Strafverfahren unfair gewesen. Außerdem hätten die Behörden, indem sie ihn dazu zwangen, gegen seinen Willen ein Beweismittel vorzulegen, sein Recht verletzt, sich nicht selbst zu belasten. Wie der GH bereits festgestellt hat, wurde der Bf. einer Art. 3 EMRK widersprechenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen, als ihm Brechmittel verabreicht wurden, um ihn zum Erbrechen der von ihm verschluckten Drogen zu zwingen. Die im Strafverfahren gegen ihn verwendeten Beweismittel wurden daher als unmittelbares Ergebnis einer Verletzung einer der grundlegendsten Bestimmungen der Konvention erlangt.

Die Verwendung von durch eine Verletzung des Art. 3 EMRK gewonnenen Beweisen in einem Strafverfahren wirft schwerwiegende Fragen nach der Fairness dieses Verfahrens auf. Belastende Beweise, die durch Gewalt oder andere als Folter zu beurteilende Handlungen gewonnen wurden, sollten unabhängig von ihrem Beweiswert nie zum Nachweis der Schuld des Opfers verwendet werden. Jede andere Ansicht würde nur dazu dienen, indirekt jenes moralisch verwerfliche Verhalten zu legitimieren, das die Verfasser von Art. 3 EMRK verbieten wollten. Obwohl die Behandlung, welcher der Bf. unterzogen wurde, nicht das der Folter vorbehaltene besondere Stigma trägt, erreichte sie doch das Mindestmaß an Schwere, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen.

Die allgemeine Frage, ob die Verwendung eines durch eine als unmenschlich oder erniedrigend qualifizierte Behandlung erlangten Beweises ein Verfahren automatisch unfair macht, kann im vorliegenden Fall offen gelassen werden. Der GH stellt fest, dass der Beweis, selbst wenn es nicht die Absicht der Behörden war, dem Bf. Schmerzen und Leid zuzufügen, durch eine Maßnahme erlangt wurde, die eines der grundlegendsten Konventionsrechte verletzte. Die durch die umstrittene Maßnahme erlangten Drogen waren der entscheidende Beweis für die Verurteilung des Bf. Zwar hatte er die Möglichkeit, die Zulassung des Beweises anzufechten, doch konnte dies nicht zur Ausschließung des Beweises führen, da die Verabreichung der Brechmittel von den Gerichten als rechtmäßig angesehen wurde. Auch das öffentliche Interesse an der Verurteilung des Bf. war von solchem Gewicht, dass es die Zulassung dieses Beweises gerechtfertigt hätte. Unter diesen Umständen stellt der GH fest, dass die Verwendung der durch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln erlangten Drogen als Beweismittel das Verfahren insgesamt unfair machte. Diese Feststellung ist für sich eine ausreichende Grundlage für die Schlussfolgerung, dass dem Bf. ein faires Verfahren verweigert wurde. Dennoch erachtet es der GH als angemessen, das Vorbringen des Bf. zu prüfen, er sei in seinem Recht, sich nicht selbst zu belasten verletzt worden. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob das Verbot der Selbstbelastung im vorliegenden Fall anwendbar ist. Im Fall Saunders/GB vertrat der GH die Meinung, das Verbot der Selbstbelastung beziehe sich nicht auf Material, das zwar durch Zwangsmittel gegen den Verdächtigen erlangt werde, dessen Existenz jedoch – wie etwa die Ergebnisse von Atem-, Blut-, Urin- oder Gewebeproben – nicht vom Willen des Beschuldigen abhängig sei. Nach Ansicht des GH könnte im vorliegenden Fall angenommen werden, dass die im Körper des Bf. versteckten Drogen in jene Kategorie von Beweismaterial fallen, die unabhängig vom Willen des Verdächtigen existieren und deren Verwendung in einem Strafverfahren grundsätzlich nicht verboten ist. Es liegen jedoch einige Elemente vor, die den vorliegenden Fall von den im Fall Saunders/GB genannten Beispielen unterscheiden.

Erstens wurden dem Bf. Brechmittel verabreicht, um gegen seinen Willen Sachbeweise zu erlangen. Im Gegensatz dazu wurde im Fall Saunders/GB körperliches Material zwangsweise für eine gerichtsmedizinische Untersuchung verwendet, um Drogen oder Alkohol nachzuweisen.

Zweitens unterscheidet sich der Grad der im vorliegenden Fall angewendeten Gewalt deutlich vom Ausmaß des normalerweise zur Erlangung von Beweismaterial der in Saunders/GB genannten Art erforderlichen Zwangs. Um solches Material zu gewinnen, muss der Verdächtige passiv einen kleineren Eingriff in seine körperliche Integrität (wenn etwa eine Blut- oder Haarprobe entnommen wird) erdulden. Im Gegensatz dazu wurde dem Bf. im vorliegenden Fall gewaltsam ein Schlauch durch die Nase eingeführt, um seinen Körper durch die Verabreichung einer Substanz zu einer pathologischen Reaktion zu zwingen.

Drittens wurde das Beweismittel durch eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung erlangt. Diese steht in offensichtlichem Gegensatz zu Verfahren, die beispielsweise einer Untersuchung der Atemluft oder der Gewinnung einer Blutprobe dienen. Behandlungen dieser Art erreichen abgesehen von außergewöhnlichen Fällen nicht jenes Mindestmaß an Schwere, das mit Art. 3 EMRK unvereinbar ist. Das Verbot der Selbstbelastung ist daher auf das vorliegende Verfahren anwendbar.

Um zu entscheiden, ob das Recht des Bf., sich nicht selbst zu belasten verletzt wurde, wird der GH folgende Faktoren beachten: die Art und Schwere des zur Erlangung des Beweises angewendeten Zwanges; das öffentliche Interesse an der Aufklärung und Bestrafung der Straftat; das Bestehen von Sicherungen in dem Verfahren und die Verwendung des so gewonnenen Materials.

Was die Art und Schwere des Zwangs betrifft, verweist der GH auf seine Feststellung, dass die Behandlung des Bf. eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellte.

Zum Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verwendung des Beweismaterials zur Sicherstellung einer Verurteilung des Bf. bemerkt der GH, dass sich die umstrittene Maßnahme gegen einen Straßendealer richtete, der Drogen in vergleichsweise geringer Menge zum Verkauf anbot und schließlich zu einer sechsmonatigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das öffentliche Interesse an seiner Verurteilung kann unter diesen Umständen den Rückgriff auf einen so schwerwiegenden Eingriff in seine körperliche und seelische Integrität nicht rechtfertigen.

Zu den verfahrensrechtlichen Sicherungen stellt der GH fest, dass Eingriffe in die körperliche Integrität gemäß § 81a StPO von einem Arzt vorgenommen werden müssen. Aufgrund seines Widerstands und seiner mangelnden Sprachkenntnisse wurde der Bf. der Behandlung jedoch ohne einer vollständigen Untersuchung seiner körperlichen Fähigkeit, ihr standzuhalten, unterzogen.

Was die Verwendung des erlangten Beweises betrifft, erinnert der GH daran, dass die durch die Verabreichung der Brechmittel erlangten Drogen der entscheidende Beweis für die Verurteilung des Bf. waren. Wie bereits ausgeführt wurde, konnte das Beweismittel nicht ausgeschlossen werden, weil die angefochtene Maßnahme von den Gerichten als rechtmäßig angesehen wurde.

Angesichts dieser Ausführungen wäre der GH auch geneigt gewesen festzustellen, dass die Zulassung von durch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln erlangten Beweisen im Strafverfahren gegen den Bf. sein Recht, sich nicht selbst zu belasten verletzte und daher sein Verfahren insgesamt unfair machte.

Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (11:6 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Bratza und Zupancic; Sondervotum der Richter Wildhaber und Caflisch; Sondervotum der Richter Ress, Pellonpää, Baka und Sikuta).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 5.868,88 für Kosten und Auslagen (11:6 Stimmen; Sondervotum der Richter Wildhaber und Caflisch; Sondervotum der Richter Ress, Pellonpää, Baka und Sikuta).

Vom GH zitierte Judikatur:

Funke/F v. 25.2.1993, A/256-A, ÖJZ 1993, 532.

Saunders/GB v. 17.12.1996, ÖJZ 1998, 32.

Khan/GB v. 12.5.2000, NL 2000, 99; ÖJZ 2001, 654.

J. B./CH v. 3.5.2001, ÖJZ 2002, 518.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.7.2006, Bsw. 54810/00, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 188) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_4/Jalloh.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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