JudikaturJustizBsw50178/99

Bsw50178/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Juli 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Nikitin gegen Russland, Urteil vom 20.7.2004, Bsw. 50178/99.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 4 7. ZP EMRK - Überprüfung eines rechtskräftigen Freispruchs.

Keine Verletzung von Art. 4 7. ZP EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. Alexander Nikitin ist Mitarbeiter der norwegischen Umweltschutzorganisation „Bellona". Im Februar 1995 wirkte er nach seiner Pensionierung als Kapitän der sowjetischen Marine an der Erstellung eines Berichts über die Gefahren atomarer Verseuchung durch die russische Nordmehrflotte mit. Am 5.10.1995 wurde das Büro von „Bellona" in Murmansk vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB durchsucht. Da der beschlagnahmte Entwurf des Berichts angeblich auf Informationen beruhte, die als geheim klassifiziert waren und zu denen der Bf. nur aufgrund seiner früheren Stellung Zugang hatte, leitete der FSB ein Strafverfahren wegen Hochverrats gegen Alexander Nikitin ein.

Der am 20.10.1998 eröffnete Prozess vor dem Stadtgericht St. Petersburg wurde nach vier Verhandlungstagen unterbrochen, da eine Ergänzung der Ermittlungen notwendig erschien.

Am 29.11.1999 sprach das Stadtgericht St. Petersburg den Bf. von allen Anklagepunkten frei. Der von der Staatsanwaltschaft angerufene Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 17.4.2000. Der Freispruch wurde damit rechtskräftig.

Am 30.5.2000 beantragte der Generalstaatsanwalt beim Präsidium des Obersten Gerichtshofs eine Überprüfung des Falles im Aufsichtsweg. Er machte Versäumnisse bei den Ermittlungen und eine unrichtige rechtliche Beurteilung des Sachverhalts geltend. Das Präsidium des Obersten Gerichtshofs wies den Antrag ab und bestätigte den Freispruch des Bf. Zwar wären die Ermittlungen tatsächlich mit Mängeln behaftet, doch könne sich die Staatsanwaltschaft nicht mehr darauf berufen, da sie selbst für die Behebung dieser Mängel verantwortlich gewesen sei.

Die Gesetze, die eine Überprüfung eines rechtskräftigen Urteils erlauben, wurden vom Bf. beim Verfassungsgerichtshof angefochten. Der Gerichtshof erklärte in seinem Urteil vom 17.7.2002 jene Bestimmungen für verfassungswidrig, die eine Überprüfung und Aufhebung eines Freispruchs wegen voreingenommener oder unvollständiger Ermittlungen oder wegen einer falschen Beurteilung des Sachverhalts erlaubten. Die in den entsprechenden Bestimmungen vorgesehenen Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens würden über die nach Art. 4 (2) 7.ZP EMRK zulässigen hinausgehen. Insbesondere die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zum Zweck weiterer Ermittlungen wäre mit der Verfassung und der EMRK unvereinbar, da sie der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit einräume, auch nach einem rechtskräftigen Freispruch die Schuld des Freigesprochenen zu beweisen. (Anm.: Gemäß der am 1.7.2002 in Kraft getretenen neuen Strafprozessordnung ist die Überprüfung eines rechtskräftigen Urteils nur mehr zum Vorteil des Verurteilten möglich. Freisprüche und Beschlüsse, die Strafverfolgung einzustellen, können daher nicht länger Gegenstand einer solchen Überprüfung im Aufsichtsweg sein.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 4 7.ZP EMRK (Doppelbestrafungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Überprüfung seines rechtskräftigen Freispruchs im Aufsichtsweg verletze sein Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Auch wenn sich am Ergebnis des Strafverfahrens nichts geändert habe, wäre er schon durch den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf eine Überprüfung ein zweites Mal wegen derselben Straftat vor Gericht gestellt worden.

1.) Wurde der Bf. vor der Überprüfung rechtskräftig freigesprochen? Eine Entscheidung ist dann rechtskräftig, wenn sie eine res iudicata begründet. Dies ist der Fall, wenn sie unwiderruflich ist, wenn also keine ordentlichen Rechtsmittel zur Verfügung stehen, die Parteien diese Rechtsmittel erschöpft haben oder die Rechtsmittelfrist ungenutzt verstreichen ließen.

Ein Antrag auf Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils durch die Aufsichtsbehörde stellt ein außerordentliches Rechtsmittel dar, da es nicht vom Beschuldigten erhoben werden kann und seine Erhebung im Ermessen bestimmter Behörden liegt. Der GH wird daher der weiteren Prüfung die Annahme zugrunde legen, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 17.4.2000, mit der der Freispruch bestätigt wurde, die rechtskräftige Entscheidung iSv. Art. 4 7.ZP EMRK war.

2.) Wurde der Bf. durch das Verfahren vor dem Präsidium erneut verfolgt?

Über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Überprüfung des Freispruchs im Aufsichtsweg hatte das Präsidium des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden. Dessen Entscheidungsbefugnis war darauf beschränkt, dem Antrag statt zu geben, oder ihn abzulehnen. Es durfte nicht in der Sache selbst entscheiden. Da das Präsidium den Antrag auf Überprüfung des Urteils ablehnte, blieb die endgültige Entscheidung diejenige vom 17.4.2000.

Daraus folgt, dass der Bf. durch das Verfahren, in dem das Präsidium des Obersten Gerichtshofs den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Überprüfung des Freispruchs abwies, nicht iSv. Art. 4 7.ZP EMRK erneut verfolgt wurde.

Auch abgesehen davon konnte die Überprüfung des Freispruchs im Aufsichtsweg in keinem Fall zu einer Art. 4 7.ZP EMRK widersprechenden Wiederholung des Strafverfahrens führen. Diese Bestimmung trifft nämlich eine klare Unterscheidung zwischen einer erneuten Strafverfolgung, die durch den ersten Absatz untersagt ist, und einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Ausnahmefällen, die im zweiten Absatz vorgesehen ist. Art. 4 (2) 7.ZP EMRK sieht ausdrücklich die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor, wenn neue Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere Mängel aufweist.

Die russische Gesetzgebung sah eine Wiederaufnahme endgültig entschiedener Strafverfahren wegen des Hervorkommens neuer Tatsachen oder schwerer Verfahrensmängel vor, die in den Anwendungsbereich des Art. 4 (2) 7.ZP EMRK fällt. Daneben bestand auch ein System, das die Überprüfung eines Falles wegen materieller oder prozessualer Fehler durch das Gericht vorsah. Den Gegenstand dieses Verfahrens bildete dieselbe strafrechtliche Anklage und die Gültigkeit ihrer früheren Beurteilung. Im Falle einer Stattgebung des Antrags bewirkte dies letztendlich eine Aufhebung der vorausgegangenen Entscheidungen und die Erlassung eines neuen Urteils über die Anklage. Die Wirkung einer solchen Überprüfung im Aufsichtsweg ist insofern dieselbe wie die einer Wiederaufnahme des Verfahrens, da beide eine Form der Fortsetzung des vorausgegangenen Verfahrens darstellen. Die Überprüfung im Aufsichtsweg kann daher als eine besondere Form der Wiederaufnahme angesehen werden, die in den Anwendungsbereich des Art. 4 (2) 7.ZP EMRK fällt. Das Verfahren über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft zielte daher auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens und nicht auf ein erneutes Strafverfahren ab. Da der Bf. somit nicht erneut verfolgt oder bestraft wurde, liegt keine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Loucaides).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Überprüfung seines endgültigen und rechtskräftigen Freispruchs habe sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Der Antrag des Generalstaatsanwalts auf Überprüfung seines Freispruchs im Aufsichtsweg wäre missbräuchlich gewesen und habe den Grundsätzen der Konvention widersprochen.

Die bloße Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens ist prima facie nicht unvereinbar mit der Konvention. Der GH hat jedoch zu prüfen, ob die Behörden im vorliegenden Fall durch die Ausübung ihrer Befugnis, eine Überprüfung zu beantragen, das Recht auf ein faires Verfahren in seinem wesentlichen Inhalt verletzt haben. Das Präsidium des Obersten Gerichtshofs entschied nur, ob das Verfahren wieder aufgenommen werden sollte oder nicht. Hätte es den Freispruch aufgehoben, hätte dies eine weitere Prüfung in der Sache durch die zuständigen Gerichte nach sich gezogen. Die Entscheidung des Präsidiums war daher bloß ein verfahrensrechtlicher Schritt, der nur eine Voraussetzung für die neuerliche Prüfung der strafrechtlichen Anklage darstellte. Das Präsidium wies den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ab. Auch wenn der Antrag als willkürlich und missbräuchlich kritisiert werden kann, hatte er daher doch keinen entscheidenden Einfluss auf das Verfahren über die Wiederaufnahme.

Was das Verfahren vor dem Präsidium des Obersten Gerichtshofs betrifft, kann der Bf. nicht behaupten, Opfer einer Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren zu sein, da das Verfahren zu seinen Gunsten entschieden wurde. Überdies ist Art. 6 EMRK nach st. Rspr. nicht auf Verfahren anwendbar, in denen ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt wurde. Keine Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Gradinger/A v. 23.10.1995, A/328-C (= NL 1995, 195 = ÖJZ 1995, 954).

Oliveira/CH v. 30.7.1998 (= NL 1998, 142 = ÖJZ 1999, 77).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.7.2004, Bsw. 50178/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 190) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_4/Nikitin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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