JudikaturJustizBsw49327/11

Bsw49327/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. Oktober 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Gough gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 28.10.2014, Bsw. 49327/11.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 10 EMRK - Jahrelange Haft wegen Nacktheit in der Öffentlichkeit.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1959 geborene Bf. ist fest davon überzeugt, dass der menschliche Körper nicht anstößig ist. Darauf beruht sein Glaube an die Nacktheit, den er zum Ausdruck bringt, indem er sich unbekleidet in der Öffentlichkeit zeigt. 2003 beschloss er, nackt von Lands’s End in England nach John O’Groats in Schottland zu wandern.

Auf seiner ersten Wanderung 2003 wurde er in Schottland neun Mal wegen Friedensbruch und öffentlicher Unzucht festgenommen, weil er in der Öffentlichkeit nackt war. Zweimal wurde eine Haftstrafe von jeweils drei Monaten verhängt. Im Juni 2005 begann der Bf. seine zweite Wanderung. Wieder kam es wegen seinem nackten Auftreten in der Öffentlichkeit mehrmals zu Festnahmen und zur Verhängung von Haftstrafen.

Am 18.5.2006 wurde der Bf. am Flughafen von Edinburgh festgenommen, nachdem er sich im Flugzeug ausgezogen hatte. Er wurde zu vier Monaten Haft verurteilt. Die folgenden Jahre verbrachte er beinahe durchgehend in Haft, weil er sich standhaft weigerte, sich in der Öffentlichkeit zu bekleiden, und daher stets unmittelbar nach seiner Haftentlassung erneut festgenommen und wegen Friedensbruch und öffentlicher Unzucht verurteilt wurde. Zudem wurden Freiheitsstrafen wegen ungebührlichem Benehmen vor Gericht verhängt, weil er auch im Gerichtssaal unbekleidet erschienen war.

Am 18.6.2009 wurde er einmal mehr unmittelbar nach seiner Haftentlassung festgenommen. In der Verhandlung bot ihm der Richter an, die Strafe bedingt nachzusehen, wenn er bereit wäre, sich in Zukunft anzukleiden. Nachdem der Bf. erklärte, dazu nicht bereit zu sein, wurde er zu zwölf Monaten Haft verurteilt. Am 17.12.2009 wurde er entlassen, aber sofort wieder festgenommen und erneut zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Auch nach Verbüßung dieser Strafe mit 29.10.2010 wurde er wieder wegen öffentlicher Nacktheit festgenommen. Diesmal betrug die Freiheitsstrafe 312 Tage. Am 20.7.2011 wurde er auf freien Fuß gesetzt.

Wenige Minuten nachdem er das Gefängnis verlassen hatte, nahm ihn die Polizei wieder fest, weil er sich weigerte, sich anzuziehen. Wegen Friedensbruch und ungebührlichem Benehmen vor Gericht wurde er zu 330 Tagen Haft verurteilt, außerdem wurde die Vollstreckung von 237 Tagen noch nicht verbüßter früherer Strafen angeordnet. Am 17.7.2012 wurde er aus der Haft entlassen. Am selben Tag kam es zu einer erneuten Verhaftung, die jedoch keine Folgen nach sich zog. Nur drei Tage später wurde der Bf. wieder festgenommen und verbüßte daraufhin bis 5.10.2012 eine weitere Haftstrafe.

In den Strafanstalten war der Bf. in der Regel von den übrigen Gefangenen getrennt untergebracht, weil er auch in der Haft darauf bestand, sich nicht zu bekleiden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet insbesondere Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch seine wiederholte Festnahme und Inhaftierung wegen öffentlicher Nacktheit.

Zur wiederholten Festnahme, Strafverfolgung, Verurteilung und Inhaftierung

Zur Zulässigkeit

(129-130) Die Regierung wendet ein, dass es sich bei jeder Festnahme und Verurteilung um ein gesondertes Ereignis handle und keine andauernde Situation vorliege. [...] Die Beschwerde sei daher nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist erhoben worden. Zweitens bringt die Regierung vor, der Bf. habe es verabsäumt, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. [...]

(134) Im vorliegenden Fall stellte jede Festnahme mit der anschließenden Strafverfolgung, Verurteilung und verhängten Freiheitsstrafe ein gesondertes Ereignis dar. [...] Der Bf. genoss Phasen der Freiheit zwischen den Zeiten der Inhaftierung, auch wenn diese manchmal nur wenige Minuten dauerten. Obwohl dieser Kreislauf von Freilassung und neuerlicher Verhaftung ein Muster bildet, kann er allerdings nicht als andauernde Situation im Sinne der Rechtsprechung des GH angesehen werden. Die Frist von sechs Monaten begann deshalb im Hinblick auf jede der Verurteilungen mit dem Datum der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung zu laufen.

(136) [...] Der Bf. beschwerte sich auch über seine 2011 erfolgte Festnahme und Verurteilung, im größeren Kontext des Musters von Verurteilungen wegen öffentlicher Nacktheit. Die Berufung gegen die Verurteilung von Juli 2011 wurde am 22.12.2011 nicht zugelassen. Da der Bf. sich erstmals am 20.12.2011 an den GH wandte, hat er die Sechs-Monats-Frist in Bezug darauf eingehalten.

(141) Es ist offensichtlich, dass der Bf. versuchte, seine 2011 erfolgte Verurteilung mit einem Rechtsmittel zu bekämpfen, in dem er sich auch auf die EMRK bezog. Diese Berufung wurde am 22.12.2011 nicht zugelassen. Der Bf. hat somit die verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft.

(142) Der Bf. hat somit den Anforderungen des Art. 35 Abs. 1 EMRK in Hinblick auf seine Beschwerde über die 2011 erfolgte Festnahme, Verurteilung und Inhaftierung [...] entsprochen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 EMRK

(144) Der rechtlich vertretene Bf. entschied sich, diese Beschwerdepunkte weder in seinem Beschwerdeformular noch in seinen schriftlichen Stellungnahmen weiter zu verfolgen. Der GH sieht daher keinen Grund, diese Beschwerdepunkte zu behandeln.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Umfang der Beschwerde, Anwendbarkeit von Art. 10 EMRK und Zulässigkeit

(146) Wie oben festgestellt, beschwerte sich der Bf. eindeutig über seine wiederholte Festnahme [...] und Inhaftierung wegen [...] seiner Weigerung, sich in der Öffentlichkeit zu bekleiden. Obwohl der GH dies nicht als andauernde Situation in Hinblick auf die Sechs-Monats-Frist qualifiziert hat, [...] wäre es gekünstelt, bei der Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit den Rechten des Bf. nach Art. 10 EMRK dieses weitere Muster zu ignorieren, da es genau diese Wiederholungen waren, die zur jahrelangen Inhaftierung des Bf. führten. [...]

(147) Der Bf. behauptete, öffentliche Nacktheit sei eine eindeutige Form einer Meinungsäußerung iSv. Art. 10 EMRK. [...]

(149) Der Schutz von Art. 10 EMRK bezieht sich nicht nur auf den Inhalt von Ideen und Informationen, sondern auch auf die Form, in der sie vermittelt werden. [...] Der GH anerkennt, dass das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit auch das Recht einer Person umfassen kann, ihre Ideen durch ihre Art, sich zu kleiden, oder durch ihr Verhalten auszudrücken. [...]

(150) Im vorliegenden Fall entschied sich der Bf. dazu, in der Öffentlichkeit nackt zu sein, um seine Meinung über die Unanstößigkeit des menschlichen Körpers zum Ausdruck zu bringen. Der GH ist daher überzeugt, dass die öffentliche Nacktheit des Bf. als eine Form der Äußerung angesehen werden kann, die in den Anwendungsbereich von Art. 10 EMRK fällt, und dass seine Festnahme, strafrechtliche Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung repressive Maßnahmen in Reaktion auf diese Form der Äußerung der Meinungen des Bf. waren. Es hat daher ein Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit stattgefunden.

(151) Angesichts der Vorbringen der Parteien ist der GH der Ansicht, dass die Beschwerde komplexe und ernste Fragen unter Art. 10 EMRK aufwirft, die nicht als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen werden können. Keine anderen Unzulässigkeitsgründe wurden festgestellt, weshalb die Beschwerde für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(155) [...] Der GH geht davon aus, dass der Eingriff im vorliegenden Fall eine ausreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht hatte [...].

(158) [...] Der GH akzeptiert, dass die Maßnahmen auf die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten abzielten. [...] Es ist klar, dass sie in einem direkten Sinn dazu dienten, den Bf. daran zu hindern, Friedensbrüche zu begehen, indem er bei anderen Mitgliedern der Gesellschaft dadurch Ärger erregt und sie erschrickt, dass er sie in der Öffentlichkeit mit seiner Nacktheit konfrontiert. Die Festnahme, Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung des Bf. kann jedoch auch das breitere Ziel verfolgt haben, die Achtung des Gesetzes im Allgemeinen sicherzustellen und dadurch Unordnung und Straftaten zu verhüten, die potentiell daraus resultieren würden, dass dem Bf. erlaubt würde, wegen seiner persönlichen – wenn auch ernst gemeinten – Ansichten über Nacktheit kontinuierlich und anhaltend straflos das Gesetz zu missachten.

(172) Der GH ist bereit anzuerkennen, dass es eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist, in welchem Ausmaß und unter welchen Umständen in einer modernen Gesellschaft öffentliche Nacktheit akzeptabel ist. Die Tatsache, dass die Ansichten des Bf. über öffentliche Nacktheit von sehr wenigen Menschen geteilt werden, ist für sich alleine nicht entscheidend für die dem GH vorliegende Angelegenheit. Als Person, die bestrebt ist, größere Akzeptanz öffentlicher Nacktheit zu erreichen, ist der Bf. berechtigt zu versuchen, eine solche Debatte anzustoßen und es gibt ein öffentliches Interesse daran, ihm dies zu gestatten. Die Frage der öffentlichen Nacktheit wirft allerdings auch Überlegungen hinsichtlich der Moral und der öffentlichen Ordnung auf. Die von der Regierung vorgelegten vergleichenden Daten zeigen, dass die Reaktionen des Gesetzes und der Behörden auf öffentliche Nacktheit selbst in der kleinen Zahl erfasster Staaten bei Weitem nicht einheitlich sind. Unter diesen Umständen ist der anwendbare Ermessensspielraum bei der Reaktion auf Fälle öffentlicher Nacktheit weit, im Gegensatz zur Regulierung bloßer Äußerungen oder Argumente über diesen Gegenstand.

(173) [...] Wie der Fall des Bf. selbst zeigt, hatten die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Schottland bei der Entscheidung darüber, wie sie auf solche Vorfälle reagierten, ein Ermessen. Die gegen ihn ergriffenen Maßnahmen waren nicht die Folge eines völligen Verbots: Jeder Vorfall wurde aufgrund der Tatsachen und im Licht der Geschichte vorangegangener Übertretungen durch den Bf. beurteilt. [...] Der Bf. wurde erst verurteilt, nachdem in einer Verhandlung aufgrund von Beweisen über sein Verhalten an einem bestimmten öffentlichen Ort festgestellt worden war, dass das Delikt des Friedensbruchs verwirklicht war, nämlich dass er andere Personen erschrocken und eine ernste Störung der Gemeinschaft bewirkt hatte. [...]

(174) Zur Schwere der Sanktionen ist bemerkenswert, dass über den Bf. nach seinen ersten Verurteilungen entweder Verwarnungen oder kurze Haftstrafen zwischen zwei Wochen und drei Monaten verhängt wurden. Die Gerichte begannen erst nach einer Reihe von Verurteilungen wegen öffentlicher Nacktheit schwerere Freiheitsstrafen über den Bf. zu verhängen. Selbst dann wurde versucht, weniger schwere Strafen zu erreichen. Bei der 2009 erfolgten Verurteilung wegen Friedensbruch erörterte der Richter die Möglichkeit des Verzichts auf eine Haftstrafe, wenn der Bf. zustimmen würde, sich anzuziehen. Er verhängte die einjährige Haftstrafe erst, als sich der Bf. weigerte eine Bedingung anzuerkennen, bekleidet zu bleiben. Als er 2011 zu 330 Tagen Haft [...] verurteilt wurde, war er bereits mehr als 30 Mal wegen öffentlicher Nacktheit festgenommen und beinahe 20 Mal verurteilt worden. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe ist der GH daher nicht mit der Reaktion des belangten Staates auf einen einzelnen Fall öffentlicher Nacktheit befasst, sondern mit seiner Reaktion auf die anhaltende öffentliche Nacktheit des Bf. und seine jahrelange absichtliche und widerspenstige Weigerung, das Gesetz zu befolgen.

(175) Es ist richtig, dass der Bf. zum Zeitpunkt der Verhängung der Strafe von 2011 seit 18.5.2006 insgesamt bereits fünf Jahre und drei Monate in Haft verbracht hatte [...] mit nur vier Tagen in Freiheit in dieser Zeitspanne. Als er Schottland am 9.10.2012 verließ, hatte er beinahe sechseinhalb Jahre im Gefängnis verbracht, mit weniger als einem Dutzend Tage in Freiheit. [...] Während die für jede einzelne Straftat verhängte Strafe für sich genommen keine Angelegenheit unter Art. 10 EMRK wegen einer fehlenden Verhältnismäßigkeit aufwirft, ist die kumulative Wirkung der vom belangten Staat ergriffenen Maßnahmen auf den Bf., die unbestreitbar schwerwiegend war, etwas anderes. Allerdings kann die eigene Verantwortlichkeit des Bf. für die Verurteilungen und verhängten Strafen nicht ignoriert werden. Bei der Ausübung seines Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit unterlag er grundsätzlich der allgemeinen Verpflichtung, die Gesetze des Landes zu befolgen und seinen Wunsch nach legislativer oder gesellschaftlicher Veränderung in Übereinstimmung mit diesen zu verfolgen. Dem Bf. standen viele andere Wege offen, um seine Meinung über die Nacktheit auszudrücken oder um eine öffentliche Debatte darüber anzustoßen. Er war auch verpflichtet, Toleranz und Rücksicht für die Ansichten anderer Mitglieder der Öffentlichkeit zu zeigen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass er um Toleranz für sein eigenes Verhalten ersuchte. Der Bf. scheint jedoch jeden Vorschlag zurückzuweisen, wonach die Akzeptanz öffentlicher Nacktheit von der Art der Örtlichkeit und der Anwesenheit anderer Mitglieder der Gesellschaft abhängen kann. Ohne ein Anzeichen von Rücksicht auf die Ansichten anderer und das Verhalten, dass diese vielleicht als anstößig empfinden, besteht er auf seinem Recht, immer und überall nackt zu erscheinen, einschließlich im Gerichtssaal, in den Gemeinschaftsräumen von Gefängnissen und in Flugzeugen.

(176) Der Fall des Bf. ist beunruhigend, weil seine Unnachgiebigkeit dazu geführt hat, dass er für etwas, das an sich üblicherweise ein relativ triviales Vergehen ist, eine beträchtliche Zeit im Gefängnis verbracht hat. Seine Inhaftierung ist allerdings die Konsequenz seiner wiederholten Verletzung des Strafrechts in voller Kenntnis der Folgen durch ein Verhalten, von dem er genau wusste, dass es nicht nur den Standards des akzeptierten öffentlichen Verhaltens in einer modernen demokratischen Gesellschaft widerspricht, sondern auch für andere, nicht vorgewarnte Mitglieder der Öffentlichkeit, die ihren gewöhnlichen Angelegenheiten nachgehen, alarmierend und moralisch oder anderweitig anstößig sein kann. Angesichts der obigen Überlegungen und des weiten Ermessensspielraums erachtet der GH die Gründe für die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte, insbesondere für jene in Folge der 2011 erfolgten Festnahme, als relevant und ausreichend. Die Maßnahmen verfolgten ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis als Reaktion auf ein wiederholtes asoziales Verhalten des Bf. Es kann nicht gesagt werden, dass die in Reaktion auf die besondere, wiederholte Form der Meinungsäußerung getroffenen Maßnahmen [...] unverhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel waren. Insbesondere geht Art. 10 EMRK nicht so weit, dass er es Personen – selbst jenen, die von der Tugend ihrer eigenen Ansichten überzeugt sind – ermöglicht, ihr asoziales Verhalten wiederholt anderen Mitgliedern der Gesellschaft aufzuzwingen und dann einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit geltend zu machen, wenn der Staat in Ausübung seiner Verpflichtung, die Öffentlichkeit vor öffentlichen Ärgernissen zu schützen, das Gesetz in Hinblick auf ein solches absichtliches, wiederholtes asoziales Verhalten durchsetzt. Selbst wenn die über den Bf. verhängten Strafen insgesamt betrachtet ohne Zweifel schwerwiegende Konsequenzen für ihn mit sich brachten, kann der GH unter den Umständen des Falles und insbesondere unter Rücksicht auf seine eigene Verantwortlichkeit für seine Misere nicht feststellen, dass die Behörden in Schottland ungerechtfertigt in seine Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit eingegriffen hätten. Folglich hat keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(182) [...] In S. A. S./F stellte die Große Kammer fest, dass sich persönliche Entscheidungen über das gewünschte Erscheinungsbild einer Person, sei es an öffentlichen oder privaten Orten, auf den Ausdruck ihrer Persönlichkeit beziehen und daher in den Begriff des Privatlebens fallen. [...] Es gibt eine Zone der Interaktion einer Person mit anderen, selbst im öffentlichen Kontext, die in den Anwendungsbereich des Privatlebens fallen kann.

(184) Der Bf. zielte durch sein bewusstes und anhaltendes nacktes Erscheinen an sehr öffentlichen Orten [...] darauf ab, seinen Glauben an die Unanstößigkeit des menschlichen Körpers öffentlich kund zu tun. Der GH hat festgestellt, dass dieses Verhalten eine durch Art. 10 EMRK geschützte Form der Äußerung darstellte. Es muss unterschieden werden zwischen der Durchführung einer Aktivität für die persönliche Selbstverwirklichung und der Durchführung derselben Aktivität für einen öffentlichen Zweck, wo nicht gesagt werden kann, dass nur für die persönliche Selbstverwirklichung alleine gehandelt wird. Betreffend die persönlichen Entscheidungen einer Person über ihr gewünschtes Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit kann Art. 8 EMRK außerdem in Analogie zur Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK auf religiöse Ansichten nicht so verstanden werden, dass er jede annehmbare persönliche Entscheidung in diesem Bereich schützt: Ohne Frage muss es ein Mindestmaß an Ernsthaftigkeit hinsichtlich der Entscheidung über die umstrittene gewünschte Erscheinung geben. Ob das erforderliche Maß an Ernsthaftigkeit in Bezug auf die Entscheidung des Bf. gegeben ist, ohne Unterschied bei allen Gelegenheiten an allen öffentlichen Orten vollkommen nackt zu erscheinen, kann angesichts des Fehlens einer Unterstützung für eine solche Entscheidung in irgendeiner bekannten demokratischen Gesellschaft der Welt bezweifelt werden. Jedenfalls ist der GH aber, selbst wenn Art. 8 EMRK für auf die Umstände des vorliegenden Falls anwendbar gehalten würde, überzeugt, dass diese Umstände keine Verletzung dieser Bestimmung durch die Behörden Schottlands offenbaren. Jeder Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens war aus Gründen gerechtfertigt, die im Wesentlichen jenen entsprechen, die der GH im Kontext seiner Analyse der Beschwerde unter Art. 10 EMRK genannt hat.

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

(188) Der Bf. hat angesichts des dem GH vorliegenden Materials nicht nachgewiesen, dass seine Ansichten den Anforderungen an die Nachhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung entsprachen, um in den Anwendungsbereich von Art. 9 EMRK zu fallen. Dieser Teil der Beschwerde ist daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention und unzulässig (einstimmig).

Zur Behandlung in der Haft

(191) Der Bf. behauptet Verletzungen der EMRK durch seine Behandlung in der Haft. [...]

(200) Der Bf. hat nicht nachgewiesen, dass der Rechtsbehelf der gerichtlichen Überprüfung ineffektiv gewesen wäre oder dass besondere Umstände vorgelegen wären, die ihn davon befreit hätten, diesen Rechtsbehelf zu verfolgen. Er hat es daher verabsäumt, hinsichtlich der Beschwerde über seine Behandlung in der Haft die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. Dieser Teil der Beschwerde ist daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig)..

Vom GH zitierte Judikatur:

Vajnai/H v. 8.7.2008 = NL 2008, 208

Eweida u.a./GB v. 15.1.2013 = NL 2013, 23

Animal Defenders International/GB v. 22.4.2013 (GK) = NL 2013, 128

S. A. S./F v. 1.7.2014 (GK) = NL 2014, 309

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.10.2014, Bsw. 49327/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 426) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/Gough.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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