JudikaturJustizBsw48539/99

Bsw48539/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. November 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Allan gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 5.11.2002, Bsw. 48539/99.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Verwertung von durch die Einschleusung eines Polizeispitzels erlangten Beweismitteln. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 1.642,- für immateriellen Schaden, EUR 12.800,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde am 18.2.1995 gemeinsam mit einem weiteren Verdächtigen namens Leroy Grant wegen des Verdachts, einen Raub begangen zu haben, festgenommen. Nachdem die Polizei zwei Tage später einen anonymen Hinweis erhalten hatte, wonach der Bf. an der Ermordung eines Supermarktleiters am 3.2.1995 beteiligt gewesen wäre, wurde er in Untersuchungshaft genommen. Daraufhin wurden die Zellen des Bf. und die Besuchsräume der Polizeigefangenenhäuser, in denen er angehalten wurde, von der Polizei mit Anlagen zur Audio- und Videoüberwachung ausgestattet.

Während seiner ab 8.3.1995 stattfindenden Einvernahmen durch die Polizei bediente sich der Bf. seines Rechts zu schweigen. Zwischen

12.3. und 28.3.1995 wurden die Gespräche, die der Bf. mit seiner Freundin im Besuchsraum führte, auf Audio- und Videobändern aufgezeichnet. Zwischen 20.2. und 12.3.1995 wurden auch die Gespräche aufgenommen, die der Bf. und Leroy Grant in ihrer Zelle führten. Am 23.3.1995 wurde der Straftäter H., der regelmäßig als Informant der Polizei diente, in der Zelle des Bf. untergebracht. Die Polizei wies ihn an, dem Bf. Informationen über seine Verwicklung in den Mordfall zu entlocken und instruierte ihn, wie er den Bf. am besten zum Reden bringen könne. Nachdem der Bf. am 20.4.1995 im Gefangenenhaus Strangeways angehalten wurde, teilte er ständig eine Zelle mit H.

In der am 28.6.1995 stattfindenden Befragung zu dem Mordfall wurde der Bf. von den Polizei­beamten aufgefordert, zu den aufgenommenen Gesprächen Stellung zu nehmen. Der Bf. verweigerte jeden Kommentar. Nach seiner Darstellung versuchten ihn die Beamten zu verunsichern, damit er nach seiner Rückkehr in seine Zelle gesprächiger gegenüber H. wäre, der inzwischen mit einer Abhörvorrichtung ausgestattet worden war.

Am 25.7.1995 gab H. eine detaillierte Zeugenaussage über den Inhalt seiner Unterhal­tungen mit dem Bf. ab. Demnach hätte der Bf. seine Anwesenheit am Tatort zuge­geben. Diese Behauptung war jedoch nicht auf Band festgehalten. Im Wesentlichen be­schränkten sich die Gespräche zwischen dem Bf. und H. auf Eigentumsdelikte. Die Versu­che von H., die Diskussion auf den Mordfall zu lenken, blieben ohne Erfolg. Die Audio- und Videoaufnahmen wurden im folgenden Prozess gegen den Bf. verwertet. Abgesehen von der unbewiesenen Behauptung von H., wonach der Bf. seine Anwesenheit am Tatort zugegeben habe, gab es keinen weiteren Hinweis auf eine Beteiligung an dem Mord. Während des Strafprozesses bestritt der Verteidiger des Bf. die Zulässigkeit der Ver­wertung der Aufnahmen der Gespräche seines Mandanten mit Leroy Grant bzw. seiner Freundin sowie die Aussagen des H. als Beweismittel. Der Richter war jedoch der Ansicht, dass die Beweise nicht in unfairer Weise erlangt worden wären und es den Geschworenen überlassen werden könne, ihre Beweiskraft zu beurteilen. Am 17.2.1998 wurde der Bf. von den Geschworenen des Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die dagegen erhobene Berufung wurde abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Verwendung von Einrichtungen zur Audio- und Videoüberwachung in seiner Zelle und im Besuchsbereich des Gefangenenhauses habe gegen sein Recht auf Achtung des Privatlebens verstoßen.

Die Überwachung der Zelle des Bf. und des Besuchsraumes stellen einen Eingriff in die aus Art. 8 EMRK erfließenden Rechte des Bf. dar. Im Zeitpunkt des Eingriffes gab es keine gesetzliche Regelung für den verdeckten Einsatz von Abhöreinrichtungen, er war daher nicht gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 8 (2) EMRK. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Nach Ansicht des Bf. stellt die Verwendung der durch die verdeckte Verwendung von Aufnahmegeräten gewonnenen Beweismittel und die Zulassung der Zeugenaussage des H. einen Verstoß gegen seine durch Art. 6 (1) EMRK gewährleisteten Rechte dar.

Die Aufgabe des GH besteht gemäß Art. 19 EMRK darin, die Einhaltung der Konvention durch die Vertragsstaaten sicherzustellen. Er ist dagegen nicht zuständig, nationale Gerichtsentscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit oder auf die Richtigkeit ihrer Tatsachenfeststellungen hin zu überprüfen, es sei denn, es waren von der EMRK garantierte Rechte verletzt worden. Art. 6 EMRK gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren, beinhaltet selbst jedoch keine Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln. Dies ist daher in erster Linie eine Angelegenheit der nationalen Gesetzgebung. Es ist nicht Aufgabe des GH festzustellen, ob bestimmte Beweismittel – etwa solche, die unrechtmäßig erlangt wurden – grundsätzlich zulässig sein können oder ob der Bf. tatsächlich schuldig ist oder nicht. Die zu beantwortende Frage ist, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art der Erlangung der Beweise, fair war.

In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, ob die Verteidigungsrechte beachtet wurden, insb. ob der Bf. Gelegenheit hatte, die Authentizität der Aufzeichnungen zu bestreiten und ihrer Verwendung zu widersprechen, und ob die Aussagen freiwillig gemacht wurden oder der Bf. zu ihnen verführt wurde.

Das Recht, sich nicht selbst zu belasten, bzw. das Recht zu schweigen sind allgemein anerkannte internationale Standards von zentraler Bedeutung für das faire Verfahren. Das Recht, sich nicht selbst zu belasten, soll in erster Linie den Willen des Angeklagten schützen, zu schweigen und setzt voraus, dass die Anklagebehörde die Fakten ohne Rückgriff auf Beweise, die in Missachtung des Willens des Angeklagten durch Zwang oder Druck erlangt wurden, zu beweisen versucht.

Die verwendeten Beweismittel verstießen nicht gegen nationales Strafrecht. Nichts deutet darauf hin, dass die Aussagen des Bf. gegenüber seiner Freundin bzw. Leroy Grant unter Druck erfolgten oder er zu ihnen provoziert worden wäre. Der Bf. hatte die Gelegenheit, die Zuverlässigkeit und Bedeutung der Aufnahmen als Beweismittel zu bestreiten. Die Verwertung der Aufnahmen der Gespräche des Bf. mit seiner Freundin bzw. mit Leroy Grant stehen daher nicht im Widerspruch zu den Erfordernissen eines fairen Verfahrens iSv. Art. 6

EMRK.

Die vom Bf. ebenfalls ins Treffen geführte Art und Weise, in der sich die Polizei der Dienste von H. bediente, um Beweismaterial zu erlangen, wirft komplexere Fragen auf. Während das Recht zu schweigen in erster Linie vor unzulässigem Druck durch die Behörden und der Erlangung von Beweismitteln gegen den Willen des Verdächtigen durch den Einsatz von Zwang oder Druck schützen soll, ist sein Anwendungsbereich nicht auf Fälle be­schränkt, in denen Druck auf den Verdächtigen ausgeübt oder sein Wille direkt missachtet wird. Dieses Recht schützt die Freiheit einer verdächtigten Person, selbst zu entscheiden, ob sie in einer polizeilichen Vernehmung aussagen will oder nicht. Diese Freiheit wird ausgehöhlt, wenn die Behörde in Fällen, in denen der Verdächtigte sich entschieden hat, während der Einvernahme zu schweigen, eine List anwendet, um ein Geständnis oder belastende Aussagen von ihm zu erlangen, die sie während der Befragung nicht erlangen konnte und wenn die dadurch erlangten Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden.

Ob das Recht zu schweigen in einer Weise missachtet wurde, die eine Verletzung von Art. 6 EMRK begründet, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Der Bf. hat sich in den polizeilichen Einvernahmen auf Anraten seines Verteidigers beharrlich seines Rechts zu schweigen bedient. H. wurde gezielt in einer Zelle mit dem Bf. untergebracht, um ihm Informationen über die ihm vorgeworfenen Taten zu entlocken. Die Aussagen, die der Bf. angeblich gegenüber H. geäußert haben soll, und die das wichtigste Beweismittel gegen ihn darstellen, wurden vom Bf. nicht spontan geäußert, sondern durch das hartnäckige Nachfragen des H. veranlasst, der ihre Gespräche auf Betreiben der Polizei auf den Mordfall gelenkt hat. Dies kann als funktionales Äquivalent einer Einvernahme betrachtet werden, allerdings ohne irgendeine der Sicherheiten, die mit einer formellen Befragung verbunden sind, wie der Anwesenheit des Verteidigers und der üblichen Rechtsbelehrung. Zwar bestand weder eine besondere Beziehung zwischen dem Bf. und H., noch wurde direkter Zwang ausgeübt. Der GH ist je­doch der Ansicht, dass der Bf. psychologischem Druck ausgesetzt wurde, der die Freiwilligkeit der angeblich von ihm gegenüber H. getätigten Äußerungen in Frage stellt. Er wurde des Mordes verdächtigt, befand sich in Haft, war dem direkten Druck der polizeilichen Einvernahmen ausgesetzt und wäre gegenüber Überredungsversuchen empfänglich gewesen, H. in sein Vertrauen zu ziehen. Unter diesen Umständen wurde die durch den Einsatz von H. erzielte Information als unter Missachtung des Willens des Bf. erlangt, und ist ihre Verwertung als Beweismittel im Strafverfahren als Verstoß gegen das Recht des Bf. zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, zu werten. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Die Reg. erkennt an, dass dem Bf. hinsichtlich der Verletzung seines

Rechts auf Achtung des Privatlebens kein Rechtsmittel zur Verfügung

stand. Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 1.642,-- für immateriellen Schaden, EUR 12.800,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schenk/CH v. 12.7.1988, A/140 (= EuGRZ 1988, 390 = ÖJZ 1989, 27).

Saunders/GB v. 17.12.1996 (= ÖJZ 1998, 32).

Kahn/GB v. 12.5.2000 (= NL 2000, 99 = ÖJZ 2001, 654).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.11.2002, Bsw. 48539/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 254) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Allan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
4
  • RS0121258AUSL EGMR Rechtssatz

    28. Juli 2009·3 Entscheidungen

    Für die Frage der Zulässigkeit von Beweismitteln ist auch von Bedeutung, ob die Verteidigungsrechte beachtet wurden, insb ob der Angeklagte Gelegenheit hatte, die Authentizität von Tonbandaufzeichnungen zu bestreiten und ihrer Verwendung zu widersprechen, und ob die Aussagen freiwillig gemacht wurden oder der Angeklagte zu ihnen verführt wurde. Das Recht, sich nicht selbst zu belasten, soll in erster Linie den Willen des Angeklagten schützen, zu schweigen, und setzt voraus, dass die Anklagebehörde die Fakten ohne Rückgriff auf Beweise, die in Missachtung des Willens des Angeklagten durch Zwang oder Druck erlangt wurden, zu beweisen versucht. Die Verwendung von Aufzeichnungen aus dem Besuchsbereich eines Gefangenenhauses ist dann zulässig, wenn der Angeklagte die aufgezeichneten Aussagen gegenüber Besuchern ohne Druck bzw ohne Provokation äußerte und er Gelegenheit hatte, die Zuverlässigkeit und Bedeutung der Aufnahmen als Beweismittel zu bestreiten. Die Freiheit einer verdächtigten Person, selbst zu entscheiden, ob sie in einer polizeilichen Vernehmung aussagen will oder nicht, wird hingegen unzulässig ausgehöhlt, wenn die Behörde in Fällen, in denen der Verdächtigte sich entschieden hat, während der Einvernahme zu schweigen, eine List anwendet, um ein Geständnis oder belastende Aussagen von ihm zu erlangen, die sie während der Befragung nicht erlangen konnte, und wenn die dadurch erlangten Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden. So etwa durch Einschleusung eines Polizeispitzels ins Gefangenenhaus, der durch ständiges Nachfragen gegenüber dem Angeklagten psychologischen Druck auf diesen ausübt. Allan gegen das Vereinigte Königreich.