JudikaturJustizBsw47143/06

Bsw47143/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. Dezember 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Roman Zakharov gg. Russland, Urteil vom 4.12.2015, Bsw. 47143/06.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Unzureichender Rechtsschutz gegen Telefonüberwachung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Ziemele); € 40.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Vorsitzender einer NGO, die sich dem Schutz der Unabhängigkeit der Presse und der Meinungsäußerungsfreiheit verschrieben hat. Er nahm die Leistungen mehrerer Betreiber von Mobilfunknetzen in Anspruch.

Am 23.12.2003 erhob er Klage gegen drei Mobilfunkbetreiber wegen eines von ihm behaupteten Eingriffs in sein Recht auf Privatheit der Telefonkommunikation. Er brachte vor, die Mobilfunkbetreiber hätten aufgrund der Anordnung Nr. 70 des Kommunikationsministeriums technische Geräte installiert, die es dem Geheimdienst FSB erlauben würden, alle Telefongespräche ohne vorhergehende richterliche Genehmigung abzuhören. (Anm: Anordnung Nr. 70 vom 20.4.1999 sieht vor, dass Betreiber von Mobilfunknetzen technische Vorrichtungen installieren müssen, die den Sicherheitsbehörden einen Fernzugriff auf die Kommunikation und damit das Abhören jedes Telefonats gestatten.)

Das BG Vasileostrovskiy wies die Klage am 5.12.2005 ab. Die angesprochenen technischen Geräte wären installiert worden, um den Sicherheitsbehörden die Durchführung gesetzlich vorgesehener Ermittlungsmaßnahmen zu ermöglichen. Diese Installation hätte für sich alleine nicht in das Kommunikationsgeheimnis des Bf. eingegriffen.

Dieses Urteil wurde vom Stadtgericht St. Petersburg am 26.4.2006 bestätigt. Nach Ansicht des Gerichts hätte der Bf. weder bewiesen, dass seine Telefonate abgehört wurden, noch dass die Gefahr eines rechtswidrigen Eingriffs in die Vertraulichkeit seiner Telefonkommunikation bestanden hatte.

Die Überwachung von Kommunikation ist im Gesetz über operative Suchaktivitäten vom 12.8.1995 und in der StPO vom 18.12.2001 geregelt. Eingriffe in das Kommunikationsgeheimnis sind zulässig, wenn Informationen über die Begehung oder Planung einer Straftat oder über Ereignisse oder Aktivitäten vorliegen, welche die nationale, militärische, wirtschaftliche oder ökologische Sicherheit der Russischen Föderation gefährden. Nach dem Gesetz über operative Suchaktivitäten darf die Überwachung der telefonischen Kommunikation nur genehmigt werden, wenn eine Person im Verdacht steht, eine mittelschwere, schwere oder besonders schwere Straftat begangen zu haben oder sie Informationen über ein solches Delikt haben kann. Als mittelschwere Straftat sind im russischen Recht Delikte mit einer Höchststrafdrohung von mehr als drei Jahren Haft definiert. Überwachungsmaßnahmen bedürfen einer vorhergehenden richterlichen Genehmigung. In dringenden Fällen kann diese auch binnen 48 Stunden nachgeholt werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) durch das System der geheimen Überwachung der Mobilfunkkommunikation und das Fehlen eines effektiven Rechtsmittels dagegen.

Zulässigkeit

(149) Die Regierung brachte vor, der Bf. könne nicht behaupten, Opfer der angeblichen Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation zu sein. Außerdem habe er den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft.

(150) Die Einreden der Regierung sind mit dem Gegenstand der Beschwerde so eng verknüpft, dass sie mit der Entscheidung in der Sache verbunden werden müssen.

(151) Der GH stellt weiters fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Opfereigenschaft und Vorliegen eines Eingriffs

(163) Wie der GH feststellt, behauptet der Bf. im vorliegenden Fall, dass ein Eingriff in seine Rechte nicht aus einer bestimmten gegen ihn angewendeten Überwachungsmaßnahme resultierte, sondern aus dem bloßen Bestehen rechtlicher Bestimmungen, die eine verdeckte Überwachung der Mobilfunkkommunikation erlauben und aus einem Risiko, Überwachungsmaßnahmen unterworfen zu werden.

Zusammenfassung der Rechtsprechung des GH

(164) [...] Der GH hat in seiner Rechtsprechung durchwegs festgestellt, dass die Konvention keine Erhebung einer actio popularis vorsieht [...]. Um eine Beschwerde nach Art. 34 EMRK erheben zu können, muss eine Person somit zeigen können, dass sie von der gerügten Maßnahme »direkt betroffen« war. [...]

(165) Der GH hat allgemeine Anfechtungen der relevanten rechtlichen Bestimmungen in Anerkennung der Besonderheiten geheimer Überwachungsmaßnahmen und der Bedeutung der Gewährleistung ihrer effektiven Kontrolle und Beaufsichtigung erlaubt. Im Fall Klass u.a./D stellte der GH fest, dass eine Person unter bestimmten Umständen behaupten kann, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Maßnahmen oder gesetzlicher Bestimmungen, die geheime Maßnahmen erlauben, begründeten Verletzung zu sein, ohne behaupten zu müssen, dass solche Maßnahmen tatsächlich auf sie angewendet wurden. [...]

(166) Nach dem Fall Klass u.a./D entwickelten sich in der Rechtsprechung der Konventionsorgane zwei parallele Zugänge zur Opfereigenschaft in Fällen geheimer Überwachung.

(167) Die EKMR und der GH stellten in mehreren Fällen fest, dass der in Klass u.a./D entwickelte Test nicht so weit verstanden werden könne, dass jede Person im belangten Staat erfasst wäre, die befürchtet, die Sicherheitsdienste könnten Informationen über sie gesammelt haben. Allerdings könne von einem Bf. nicht erwartet werden zu beweisen, dass Informationen über sein Privatleben gesammelt und gespeichert wurden. Es wäre im Bereich geheimer Maßnahmen ausreichend, dass das Bestehen einer Praxis, die geheime Überwachung gestattet, festgestellt wurde und eine vernünftige Wahrscheinlichkeit bestand, dass die Sicherheitsdienste Informationen betreffend ihr Privatleben gesammelt und gespeichert hatten. [...]

(168) In anderen Fällen bekräftigte der GH den Ansatz von Klass u.a./D, wonach das bloße Bestehen von Gesetzen und Praktiken, die ein System der Durchführung geheimer Überwachung der Kommunikation gestatteten und errichteten, eine Gefahr der Überwachung all jener mit sich brachte, auf die die Gesetzgebung angewendet werden könnte. Diese Bedrohung beeinträchtigte notwendigerweise die Kommunikationsfreiheit zwischen Benützern der Telekommunikationsdienste und stellte daher für sich einen Eingriff in die Ausübung der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte der Bf. dar, ungeachtet dessen, ob tatsächlich irgendwelche Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden. [...]

(169) Im jüngsten Fall zu dieser Frage, Kennedy/GB, hielt der GH fest, dass die besonderen Gründe, die in Fällen betreffend geheime Maßnahmen ein Abgehen vom allgemeinen Zugang, der Personen die Anfechtung eines Gesetzes in abstracto verwehrt, rechtfertigen, nicht aus den Augen verloren werden sollten. Der wesentliche Grund bestünde darin sicherzustellen, dass die Geheimhaltung solcher Maßnahmen nicht dazu führt, dass die Maßnahmen praktisch nicht bekämpfbar sind und außerhalb der Kontrolle der nationalen Gerichte und des GH bleiben. Um in einem bestimmten Fall zu entscheiden, ob eine Person einen Eingriff durch das bloße Bestehen einer geheime Überwachungsmaßnahmen gestattenden Gesetzgebung behaupten kann, muss der GH die Verfügbarkeit von Rechtsmitteln auf der innerstaatlichen Ebene und das Risiko der Anwendung geheimer Überwachungsmaßnahmen auf sie berücksichtigen. Wo keine Möglichkeit einer innerstaatlichen Anfechtung der angeblichen Anwendung geheimer Überwachungsmaßnahmen besteht, kann nicht gesagt werden, dass weit verbreitete Sorgen und Befürchtungen in der Bevölkerung hinsichtlich eines Missbrauchs der Befugnisse zur geheimen Überwachung unberechtigt wären. In solchen Fällen besteht, selbst wenn das tatsächliche Risiko einer Überwachung gering ist, ein größerer Bedarf nach einer Kontrolle durch den GH.

Harmonisierung des anzuwendenden Ansatzes

(170) Vor diesem Hintergrund erachtet es der GH für notwendig klarzustellen, unter welchen Voraussetzungen ein Bf. behaupten kann, Opfer einer Verletzung von Art. 8 EMRK zu sein ohne nachweisen zu müssen, dass geheime Überwachungsmaßnahmen tatsächlich auf ihn angewendet wurden. [...]

(171) Nach Ansicht des GH ist der Kennedy-Ansatz am besten darauf zugeschnitten sicherzustellen, dass die Geheimhaltung von Überwachungsmaßnahmen nicht dazu führt, dass die Maßnahmen praktisch unanfechtbar sind und außerhalb der Kontrolle der innerstaatlichen Gerichte und des GH liegen. Dementsprechend akzeptiert der GH, dass ein Bf. behaupten kann, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Überwachungsmaßnahmen oder einer diese gestattenden Gesetzgebung begründeten Verletzung zu sein, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens wird der GH [...] prüfen, ob es möglich ist, dass der Bf. von der Gesetzgebung betroffen ist, weil er entweder zu einer Personengruppe gehört, auf die die Gesetzgebung abzielt, oder weil die Gesetzgebung alle Nutzer von Kommunikationsdiensten direkt betrifft, indem sie ein System einrichtet, in dem die Kommunikation jeder Person überwacht werden kann. Zweitens wird der GH die Verfügbarkeit von Rechtsbehelfen auf der innerstaatlichen Ebene berücksichtigen und den Grad seiner Kontrolle an die Effektivität solcher Rechtsbehelfe anpassen. [...] Wo das innerstaatliche System der Person, die vermutet, geheimer Überwachung unterworfen worden zu sein, keinen effektiven Rechtsbehelf gewährt, [...] kann die Gefahr einer Überwachung als solche als Einschränkung der freien Kommunikation über Post- und Telekommunikationsdienste angesehen werden, die für alle Nutzer oder potenziellen Nutzer einen direkten Eingriff in ihre durch Art. 8 EMRK garantierten Rechte darstellt. Hier besteht demnach ein größerer Bedarf nach einer Kontrolle durch den GH und eine Ausnahme von der Regel, die Einzelnen das Recht auf Anfechtung eines Gesetzes in abstracto verwehrt, ist gerechtfertigt. In solchen Fällen muss der Einzelne nicht das Bestehen einer Gefahr nachweisen, dass geheime Überwachungsmaßnahmen auf ihn angewendet wurden. Im Gegensatz dazu ist ein verbreiteter Verdacht des Missbrauchs schwerer zu rechtfertigen, wenn das innerstaatliche System effektive Rechtsbehelfe vorsieht. In solchen Fällen kann der Einzelne nur dann behaupten, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Überwachungsmaßnahmen oder einer Gesetzgebung, die geheime Maßnahmen erlaubt, begründeten Verletzung zu sein, wenn er zeigen kann, dass ihm aufgrund seiner persönlichen Situation potenziell Gefahr droht, solchen Maßnahmen unterworfen zu werden.

(172) Der Kennedy-Ansatz verschafft dem GH somit den nötigen Grad an Flexibilität, um mit einer Vielfalt an Situationen umzugehen, die sich im Kontext geheimer Überwachung ergeben können, und dabei die Besonderheiten des Rechtssystems in den Mitgliedstaaten, nämlich die verfügbaren Rechtsmittel, zu berücksichtigen sowie die unterschiedlichen persönlichen Situationen von Bf.

Anwendung im vorliegenden Fall

(173) Es steht außer Streit, dass Mobilfunkkommunikation von den Begriffen »Privatleben« und »Korrespondenz« in Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst ist.

(174) [...] Im vorliegenden Fall behauptet der Bf., dass ein Eingriff in seine Rechte aus dem bloßen Bestehen einer Gesetzgebung, die geheime Überwachungsmaßnahmen gestattet, und einer Gefahr resultierte, solchen Maßnahmen unterworfen zu werden – und nicht aus einer bestimmten auf ihn angewendeten Überwachungsmaßnahme.

(175) Wie der GH bemerkt, schaffen die umstrittenen Gesetze ein System der geheimen Überwachung, in dem die Kommunikation über Mobilfunktelefon jeder Person, die die Dienste russischer Mobilfunkanbieter nutzt, abgehört werden kann, ohne dass diese jemals über die Überwachung informiert wird. Insofern betrifft die fragliche Gesetzgebung alle Nutzer dieser Mobilfunkdienste direkt.

(176) Zudem gewährt das russische Recht aus den unten genannten Gründen (siehe Rn. 286-300) einer Person, die den Verdacht hegt, geheimer Überwachung unterzogen zu werden, keine effektiven Rechtsbehelfe.

(177) In Hinblick auf die obige Feststellung muss der Bf. nicht nachweisen, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation Gefahr läuft, geheimer Überwachung unterworfen zu werden.

(178) Angesichts der geheimen Natur der von der umstrittenen Gesetzgebung vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen, ihrem breiten Anwendungsbereich, der alle Nutzer von Mobiltelefon-Kommunikation umfasst, und dem Fehlen effektiver Mittel zur Anfechtung der behaupteten Anwendung geheimer Überwachungsmaßnahmen auf der innerstaatlichen Ebene, hält der GH eine Prüfung der relevanten Gesetzgebung in abstracto für gerechtfertigt.

(179) Der GH stellt daher fest, dass der Bf. berechtigt ist geltend zu machen, Opfer einer Verletzung der Konvention zu sein, obwohl er nicht behaupten kann, einer konkreten Überwachungsmaßnahme unterworfen worden zu sein [...]. Aus denselben Gründen begründet das bloße Bestehen der umstrittenen Gesetzgebung für sich selbst einen Eingriff in die Ausübung seiner durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte. Der GH verwirft daher die Einrede der Regierung betreffend das Fehlen der Opfereigenschaft des Bf. (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Dedov).

Rechtfertigung des Eingriffs

Allgemeine Grundsätze

(229) [...] Vorhersehbarkeit kann im spezifischen Kontext geheimer Überwachungsmaßnahmen wie dem Abhören von Kommunikation nicht bedeuten, dass eine Person in der Lage sein sollte vorherzusehen, wann die Behörden wahrscheinlich ihre Kommunikation abhören werden, damit sie ihr Verhalten entsprechend anpassen kann. Allerdings sind die Risiken von Willkür vor allem dann evident, wenn eine den Behörden eingeräumte Befugnis im Geheimen ausgeübt wird. Es ist daher wesentlich, klare und detaillierte Regeln über das Abhören von Telefongesprächen zu haben, insbesondere weil die verfügbare Technologie immer ausgefeilter wird. Das innerstaatliche Recht muss ausreichend klar sein, um den Bürgern angemessene Hinweise darauf zu geben, unter welchen Umständen und Voraussetzungen Behörden ermächtigt sind, auf solche Maßnahmen zurückzugreifen.

(230) [...] Das Gesetz muss den Umfang und die Art der Ausübung jedes den Behörden zugestandenen Ermessens mit ausreichender Klarheit anzeigen, um dem Einzelnen angemessenen Schutz vor willkürlichen Eingriffen zu geben.

(232) [...] Bei der Abwägung des Interesses des belangten Staats am Schutz seiner nationalen Sicherheit durch geheime Überwachungsmaßnahmen gegen die Schwere des Eingriffs in das Recht eines Bf. auf Achtung seines Privatlebens genießen die nationalen Behörden einen gewissen Ermessensspielraum bei der Wahl der Mittel zur Verwirklichung des legitimen Ziels des Schutzes der nationalen Sicherheit. [...] Der GH muss sich jedoch vergewissern, dass angemessene und wirksame Garantien gegen Missbrauch bestehen. [...]

Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall

(235) [...] Bei seiner Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK muss der GH prüfen, ob die umstrittene Gesetzgebung als solche mit der Konvention vereinbar ist.

(236) In Fällen, in denen vor dem GH die Gesetzgebung angefochten wird, die geheime Überwachung gestattet, steht die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in engem Zusammenhang mit der Frage, ob dem Test der Notwendigkeit entsprochen wurde. Daher ist es angemessen, dass der GH die Anforderungen der gesetzlichen Grundlage und der Notwendigkeit gemeinsam anspricht. Die »Qualität des Rechts« impliziert in diesem Sinn, dass das nationale Recht nicht nur zugänglich und in seiner Anwendung vorhersehbar sein muss, sondern es muss auch gewährleisten, dass geheime Überwachungsmaßnahmen nur angewendet werden, wenn sie »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« sind, insbesondere durch angemessene und wirksame Sicherungen und Garantien gegen Missbrauch.

(237) Es wurde von den Parteien nicht bestritten, dass das Abhören von Mobiltelefon-Kommunikation eine Grundlage im innerstaatlichen Recht hat. [...] Der GH erachtet es auch als eindeutig, dass die [...] Überwachungsmaßnahmen die legitimen Ziele des Schutzes der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung, der Verhütung von Straftaten und des Schutzes des wirtschaftlichen Wohls des Landes verfolgten. Zu prüfen bleibt daher, ob das innerstaatliche Recht zugänglich ist und angemessene und wirksame Sicherungen und Garantien enthält [...].

Zugänglichkeit des innerstaatlichen Rechts

(239) Es herrscht Einigkeit zwischen den Parteien darüber, dass beinahe alle Bestimmungen über geheime Überwachung [...] amtlich veröffentlicht wurden und der Öffentlichkeit zugänglich sind. [...]

Umfang der Anwendung geheimer Überwachungsmaßnahmen

(244) [...] Die Natur der Straftaten, die Anlass für eine Abhöranordnung sein können, ist nach Ansicht des GH ausreichend klar. [...]

(245) Der GH stellt weiters fest, dass ein Abhören nicht nur in Hinblick auf einen Angeklagten oder Verdächtigen angeordnet werden kann, sondern auch hinsichtlich einer Person, die Informationen über eine Straftat oder sonstige für ein Strafverfahren relevante Informationen haben könnte. [...] Der GH bemerkt das Fehlen jeglicher Klarstellung durch die russische Gesetzgebung oder die ständige Rechtsprechung, wie [diese Formulierungen] in der Praxis anzuwenden sind.

(246) Der GH bemerkt auch, dass zusätzlich zu Überwachungen zum Zweck der Verhütung oder Aufdeckung von Straftaten das Gesetz über operative Suchaktivitäten auch eine Überwachung von telefonischer oder sonstiger Kommunikation vorsieht, wenn Informationen über Ereignisse oder Aktivitäten erhalten wurden, die Russlands nationale, militärische, wirtschaftliche oder ökologische Sicherheit gefährden. Bei welchen Ereignissen oder Aktivitäten von einer Gefährdung dieser Arten von Sicherheitsinteressen ausgegangen werden kann, wird nirgends im russischen Recht definiert.

(248) [...] Das Gesetz über operative Suchaktivitäten [...] überlässt den Behörden ein beinahe unbeschränktes Ermessen bei der Entscheidung, welche Ereignisse oder Handlungen eine solche Bedrohung darstellen und ob diese Bedrohung ernst genug ist, um eine geheime Überwachung zu rechtfertigen. Damit schafft es Möglichkeiten zum Missbrauch.

(249) Davon abgesehen verliert der GH die Tatsache nicht aus den Augen, dass in Russland ein Abhören einer vorhergehenden richterlichen Genehmigung bedarf. [...] Der GH akzeptiert, dass die Voraussetzung einer vorhergehenden richterlichen Genehmigung eine wichtige Sicherung gegen Willkür bietet. Die Wirksamkeit dieser Sicherung wird unten geprüft werden.

Die Dauer geheimer Überwachungsmaßnahmen

(251) [...] Sowohl die StPO als auch das Gesetz über operative Suchaktivitäten sehen vor, dass Überwachungen von einem Richter für eine Zeitspanne von maximal sechs Monaten angeordnet werden können. Das innerstaatliche Recht enthält somit einen klaren Hinweis auf die Zeitspanne, nach der eine Abhöranordnung abläuft. Auch die Voraussetzungen, unter denen eine Genehmigung verlängert werden kann, sind im Gesetz klar geregelt. Was die [...] Umstände betrifft, unter denen die Überwachung beendet werden muss, bemerkt der GH, dass die Anordnung, eine nicht länger notwendige Überwachung zu beenden, nur in der StPO enthalten ist. Bedauerlicherweise enthält das Gesetz über operative Suchaktivitäten keine solche Anforderung. [...]

(252) Der GH schließt daraus, dass das russische Recht zwar klare Regelungen über die Dauer und Verlängerung von Abhörmaßnahmen enthält, die angemessene Sicherungen gegen Missbrauch gewähren, die Bestimmungen des Gesetzes über operative Suchaktivitäten über die Beendigung von Überwachungsmaßnahmen allerdings keine ausreichenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe vorsehen.

Einzuhaltendes Verfahren bei Speicherung, Prüfung, Verwendung, Weitergabe und Vernichtung abgehörter Daten sowie bei Zugang zu diesen

(253) Das russische Recht sieht vor, dass durch geheime Überwachungsmaßnahmen erlangte Daten ein Staatsgeheimnis darstellen und versiegelt und unter Bedingungen gespeichert werden müssen, die jede Gefahr unerlaubten Zugangs ausschließen. Sie können jenen Staatsorganen zugänglich gemacht werden, die sie für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen und die über die erforderliche Sicherheitseinstufung verfügen. [...] Der GH ist überzeugt davon, dass das russische Recht klare Regeln über die Speicherung, Verwendung und Übermittlung abgehörter Daten enthält, die es ermöglichen, die Gefahr von unerlaubten Zugriffen oder Enthüllungen zu minimieren.

(254) [...] Das innerstaatliche Recht sieht vor, dass abgehörtes Material sechs Monate nach der Speicherung vernichtet werden muss, wenn die betroffene Person nicht einer Straftat angeklagt wurde. Wurde Anklage erhoben, so muss der Richter am Ende des Strafverfahrens eine Entscheidung über die weitere Aufbewahrung oder Vernichtung des als Beweis verwendeten abgehörten Materials treffen.

(255) [...] Der GH erachtet die im russischen Recht vorgesehene Frist von sechs Monaten für solche Daten als angemessen. Zugleich bedauert er das Fehlen einer Anordnung der sofortigen Vernichtung jener Daten, welche für die Zwecke, zu denen sie erlangt wurden, nicht notwendig sind. Die automatische Speicherung von eindeutig irrelevanten Daten für sechs Monate kann nicht als gerechtfertigt unter Art. 8 EMRK angesehen werden.

(256) Was die Fälle betrifft, in denen die Person einer Straftat angeklagt wurde, stellt der GH mit Sorge fest, dass das russische Recht dem Richter uneingeschränktes Ermessen hinsichtlich der Aufbewahrung oder Vernichtung der [...] Daten einräumt. Das russische Recht gibt Bürgern keine Hinweise darauf, unter welchen Umständen das abgehörte Material nach Ende des Verfahrens aufbewahrt werden darf. Der GH erachtet das innerstaatliche Recht daher in diesem Punkt als nicht ausreichend eindeutig.

Genehmigung des Abhörens

(259) Das russische Recht enthält eine wichtige Sicherung gegen willkürliche oder wahllose Überwachung. Es schreibt vor, dass jedes Abhören von telefonischer oder sonstiger Kommunikation von einem Gericht genehmigt werden muss. [...] Der Richter muss die Entscheidung [...] begründen.

(261) Wie der GH feststellt, ist der Umfang der richterlichen Überprüfung in Russland beschränkt. Material, das Informationen über verdeckte Ermittler oder Polizeiinformanten oder über die Organisation und Taktik von Ermittlungsmaßnahmen enthält, darf dem Richter nicht vorgelegt werden und ist daher nicht Gegenstand der Überprüfung. Das Versäumnis, gegenüber den Gerichten die relevante Information offenzulegen, nimmt diesen die Möglichkeit einzuschätzen, ob eine ausreichende Tatsachengrundlage für den Verdacht besteht, die Person, in Bezug auf welche Ermittlungsmaßnahmen beantragt werden, würde eine Straftat begehen oder Aktivitäten setzen, die die nationale, militärische, wirtschaftliche oder ökologische Sicherheit gefährden. [...]

(262) Weiters bemerkt der GH, dass Richter in Russland nicht angehalten sind [...], das Bestehen eines »begründeten Verdachts« gegen die betroffene Person zu prüfen oder die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einzuschätzen. Zugleich stellt der GH fest, dass der VfGH in seinen Entscheidungen erklärt hat, dass die Beweislast für die Notwendigkeit des Abhörens bei der antragstellenden Behörde liegt [...] und der Richter die Genehmigung nur erteilen sollte, wenn er davon überzeugt ist, dass das Abhören rechtmäßig, notwendig und gerechtfertigt ist. [...]

(263) Allerdings bemerkt der GH, dass das innerstaatliche Recht von den allgemeinen Gerichten nicht ausdrücklich verlangt, der Ansicht des VfGH über die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung zu folgen, wenn diese Ansicht in einer Entscheidung und nicht in einem Urteil zum Ausdruck gebracht wurde. Tatsächlich zeigt das vom Bf. vorgelegte Material, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht immer den oben genannten Empfehlungen des VfGH folgen, die alle in Entscheidungen und nicht in Urteilen enthalten waren. So geht aus den Aufzeichnungen der Bezirksgerichte hervor, dass Anträge auf Genehmigung des Abhörens oft von keinen Materialien zur Untermauerung begleitet sind, die Richter dieser Bezirksgerichte die Sicherheitsbehörden nie zur Vorlage solchen Materials aufforderten und dass ein bloßer Verweis auf das Vorliegen von Informationen über eine Straftat oder über Aktivitäten, welche die nationale, militärische, wirtschaftliche oder ökologische Sicherheit gefährden, als ausreichend für die Erteilung der Genehmigung angesehen wird. [Die vorgelegten Informationen] deuten somit darauf hin, dass die russischen Gerichte in ihrer täglichen Praxis nicht überprüfen, ob ein »begründeter Verdacht« gegen die betroffene Person besteht und nicht den Test der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit anwenden.

(265) Die StPO verlangt, dass ein Antrag auf Genehmigung des Abhörens eine bestimmte Person, deren Kommunikation abgehört werden soll, sowie die Dauer der Abhörmaßnahme klar benennen muss. [...] Im Gegensatz dazu enthält das Gesetz über operative Suchaktivitäten weder Anforderungen hinsichtlich des Inhalts des Antrags [...] noch des Inhalts der Genehmigung. Als Folge davon erteilen Gerichte manchmal Abhörgenehmigungen, die keine bestimmte abzuhörende Person oder Telefonnummer nennen, sondern das Abhören der gesamten Telefonkommunikation in dem Gebiet gestatten, in dem eine Straftat begangen wurde. Manche Genehmigungen nennen nicht die Dauer, für welche das Abhören gestattet wird. [...]

(266) Wie der GH weiters feststellt, ist es in dringenden Fällen möglich, Kommunikation ohne vorherige richterliche Genehmigung bis zu 48 Stunden lang zu überwachen. [...] Das innerstaatliche Recht schränkt die Anwendung dieses Eilverfahrens nicht auf Fälle ein, die eine unmittelbare ernste Gefahr für die nationale, militärische, wirtschaftliche oder ökologische Sicherheit betreffen. Es lässt den Behörden ein uneingeschränktes Ermessen bei der Entscheidung, in welchen Situationen es gerechtfertigt ist, das nichtrichterliche Eilverfahren anzuwenden. Dadurch schafft es Möglichkeiten einer missbräuchlichen Anwendung. Außerdem [...] beschränkt sich die Befugnis des Richters darauf, die Verlängerung der Abhörmaßnahme über die 48 Stunden hinaus zu genehmigen. Er hat keine Macht zu beurteilen, ob die Anwendung des Eilverfahrens gerechtfertigt war, oder zu entscheiden, ob das während der 48 Stunden erlangte Material aufbewahrt oder vernichtet werden soll. Das russische Recht sieht somit keine wirksame richterliche Überprüfung des Eilverfahrens vor.

(267) Angesichts der obigen Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass die vom russischen Recht vorgesehenen Verfahren zur Genehmigung nicht geeignet sind sicherzustellen, dass geheime Überwachungsmaßnahmen nicht zufällig, regelwidrig oder ohne gebührende und angemessene Prüfung stattfinden.

(269) Die Anforderung, dem Betreiber des Kommunikationsdienstes eine Abhörgenehmigung zu zeigen, bevor Zugang zur Kommunikation einer Person erlangt wird, ist eine wichtige Sicherung gegen Missbrauch durch die Sicherheitsbehörden, die gewährleistet, dass in allen Fällen eines Abhörens die gebührende Genehmigung eingeholt wird. In Russland sind die Sicherheitsbehörden nach dem innerstaatlichen Recht nicht verpflichtet, gegenüber den Betreibern von Kommunikationsdiensten die richterliche Genehmigung vorzuweisen, bevor sie Zugang zur Kommunikation einer Person erlangen [...]. Tatsächlich müssen Betreiber von Kommunikationsdiensten Vorrichtungen installieren, die den Sicherheitsbehörden direkten Zugriff auf die gesamte Mobilfunkkommunikation aller Nutzer geben. Die Betreiber sind auch verpflichtet [...], Datenbanken anzulegen, in denen Informationen über alle Kunden und die diesen gewährten Dienste drei Jahre lang gespeichert werden. Die Geheimdienste haben direkten Fernzugriff auf diese Datenbanken. [...]

(270) Die Art, wie das System der geheimen Überwachung in Russland betrieben wird, gibt den Sicherheitsdiensten und der Polizei nach Ansicht des GH technische Mittel, um das Genehmigungsverfahren zu umgehen und jede Kommunikation ohne vorherige Erlangung einer richterlichen Genehmigung abzuhören. [...] Ein System wie das russische, das Geheimdienste und Polizei in die Lage versetzt, die Kommunikation jedes Bürgers direkt abzuhören, ohne dem Betreiber des Kommunikationsdienstes oder irgendjemand anderem eine Genehmigung vorweisen zu müssen, ist nach Ansicht des GH besonders anfällig für Missbrauch.

Aufsicht über die Umsetzung geheimer Überwachungsmaßnahmen

(272) Die Anordnung Nr. 70 verlangt, dass die von den Betreibern von Kommunikationsdiensten installierten Vorrichtungen keine Informationen über ein Abhören protokollieren oder speichern. [...] Kombiniert mit der technischen Fähigkeit der Sicherheitsbehörden [...], jede Kommunikation direkt abzuhören, macht diese Vorschrift jegliche Aufsichtsvorkehrungen ungeeignet, rechtswidrige Abhörmaßnahmen aufzudecken, und damit unwirksam.

(274) Ein Gericht, das eine Abhörgenehmigung erteilt hat, ist nicht für die Kontrolle ihrer Durchführung zuständig. [...] Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die anfängliche Phase der Genehmigung. Die weitere Kontrolle ist [...] dem Generalprokurator und zuständigen untergeordneten Staatsanwälten anvertraut.

(277) [...] Der GH akzeptiert, dass ein rechtlicher Rahmen existiert, der zumindest theoretisch eine gewisse Kontrolle geheimer Überwachungsmaßnahmen durch Staatsanwälte vorsieht. Als nächstes muss geprüft werden, ob die Staatsanwälte von den die Überwachung durchführenden Behörden unabhängig sind und über ausreichende Befugnisse und Kompetenzen verfügen, um eine effektive und durchgehende Kontrolle auszuüben.

(279) [...] In Russland werden Staatsanwälte vom Generalprokurator nach Rücksprache mit den regionalen Verwaltungsbehörden ernannt und entlassen. Diese Tatsache kann Zweifel an ihrer Unabhängigkeit von der Exekutive aufwerfen.

(280) [...] Wie der GH bemerkt, spezialisieren sich Staatsanwaltschaften nicht auf die Kontrolle von Überwachungen. Diese Aufsicht ist nur ein Teil ihrer breiten und unterschiedlichen Funktionen [...]. Im Rahmen ihrer Strafverfolgungsfunktionen geben Staatsanwälte ihre Zustimmung zu allen von Ermittlern im Zuge eines Strafverfahrens gestellten Anträgen auf Abhörgenehmigungen. Diese Vermischung von Funktionen innerhalb einer Staatsanwaltschaft, wobei dieselbe Stelle dem Antrag auf Abhörmaßnahmen zustimmt und dann deren Durchführung beaufsichtigt, kann Zweifel an der Unabhängigkeit der Staatsanwälte aufwerfen.

(281) Was die Befugnisse und Kompetenzen der Staatsanwälte betrifft, bemerkt der GH, dass es wesentlich ist, dass die überwachende Stelle Zugang zu allen relevanten Dokumenten hat [...]. Es ist wichtig festzustellen, dass Informationen über verdeckte Ermittler der Sicherheitsdienste sowie über die von diesen angewendeten Taktiken, Methoden und Mittel außerhalb des Umfangs der Kontrolle der Staatsanwälte liegen. Der Umfang ihrer Aufsicht ist somit beschränkt. [...]

(283) [...] Die Aufsicht durch Staatsanwälte erfolgt in Russland in einer Weise, die sich der öffentlichen Kenntnisnahme und Kontrolle entzieht.

(284) [...] Die russische Regierung hat [...] keine Aufsichtsberichte oder Entscheidungen von Staatsanwälten vorgelegt, mit denen Maßnahmen angeordnet worden wären, um eine aufgedeckte Gesetzesverletzung zu beenden oder Abhilfe zu schaffen. Folglich hat die Regierung nicht gezeigt, dass die Aufsicht der Staatsanwälte über geheime Überwachungsmaßnahmen in der Praxis effektiv ist. [...]

(285) Angesichts der oben identifizierten Mängel und unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung von Aufsicht in einem System, in dem Sicherheitsbehörden direkten Zugang zur gesamten Kommunikation haben, gelangt der GH zur Ansicht, dass die Aufsicht der Staatsanwälte über Abhörmaßnahmen in der derzeit organisierten Form nicht in der Lage ist, angemessene und wirksame Garantien gegen Missbrauch zu bieten.

Mitteilung über Abhören von Kommunikation und verfügbare Rechtsmittel

(289) [...] Wie der GH bemerkt, werden in Russland Personen, deren Kommunikation abgehört wurde, nie und unter keinen Umständen über diese Tatsache informiert. Es ist folglich unwahrscheinlich, dass die betroffene Person jemals herausfindet, dass ihre Kommunikation abgehört wurde, solange nichts durchsickert und kein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird, in dem das abgehörte Material als Beweismittel verwendet wird.

(290) [...] Eine Person, die irgendwie erfährt, dass ihre Kommunikation abgehört wurde, kann Informationen über die entsprechenden Daten verlangen. [...] Der Zugang zu Informationen ist von der Fähigkeit der Person abhängig nachzuweisen, dass ihre Kommunikation abgehört wurde. Außerdem ist die abgehörte Person nicht berechtigt, Zugang zu Dokumenten betreffend das Abhören ihrer Kommunikation zu erlangen. Sie hat bestenfalls einen Anspruch, »Informationen« zu erhalten. [...] Angesichts der obigen Merkmale des russischen Rechts erscheint die Möglichkeit, Informationen über Abhörmaßnahmen zu erlangen, als ineffektiv.

(291) Der GH wird die obigen Faktoren [...] bei der Einschätzung der Effektivität der nach russischem Recht verfügbaren Rechtsmittel bedenken.

(298) [...] Die von der Regierung ins Treffen geführten Rechtsbehelfe sind nur für Personen verfügbar, die im Besitz von Informationen über das Abhören ihrer Kommunikation sind. Ihre Effektivität wird daher durch das Fehlen eines Erfordernisses, die [...] betroffene Person zu irgendeinem Zeitpunkt zu informieren, oder einer angemessenen Möglichkeit, Informationen über Abhörmaßnahmen zu beantragen und von den Behörden zu erlangen, untergraben. Dementsprechend stellt der GH fest, dass das russische Recht kein effektives gerichtliches Rechtsmittel gegen geheime Überwachungsmaßnahmen in Fällen vorsieht, in denen kein Strafverfahren gegen die abgehörte Person eingeleitet wurde. [...]

(300) [...] Indem es die vom Abhören betroffene Person einer effektiven Möglichkeit beraubt, Abhörmaßnahmen rückwirkend anzufechten, verzichtet das russische Recht auf eine wichtige Sicherung gegen die unangemessene Verwendung geheimer Überwachungsmaßnahmen.

(301) Aus den obigen Gründen verwirft der GH auch die sich auf die Nichterschöpfung der nationalen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung (einstimmig).

Schlussfolgerung

(302) Der GH gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die russischen gesetzlichen Bestimmungen über das Abhören von Kommunikation keine angemessenen und effektiven Garantien gegen Willkür und die Gefahr des Missbrauchs bieten, die jedem System der geheimen Überwachung innewohnt und in einem System besonders hoch ist, in dem Sicherheitsdienste und Polizei durch technische Mittel direkten Zugang zur gesamten Mobilfunkkommunikation haben. [...]

(303) Es ist von Bedeutung, dass die oben festgestellten Mängel im rechtlichen Rahmen einen Einfluss auf den tatsächlichen Betrieb des Systems geheimer Überwachung in Russland zu haben scheinen. [...] Die vom Bf. im innerstaatlichen Verfahren und vor dem GH vorgelegten Beispiele weisen auf das Bestehen einer willkürlichen und missbräuchlichen Überwachungspraxis hin, die auf die unangemessenen rechtlichen Sicherungen zurückzuführen zu sein scheint.

(304) Angesichts der ausfindig gemachten Defizite stellt der GH fest, dass das russische Recht nicht den Anforderungen an die »Qualität des Rechts« entspricht und nicht geeignet ist, den »Eingriff« auf das zu beschränken, was »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« ist.

(305) Dementsprechend hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

(307) [...] Obwohl die Beschwerde unter Art. 13 EMRK eng mit jener unter Art. 8 EMRK verbunden ist und daher für zulässig erklärt werden muss (einstimmig), ist es nach Ansicht des GH nicht notwendig, sie gesondert zu prüfen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Ziemele); € 40.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Klass u.a./D v. 6.9.1978 = EuGRZ 1979, 278

Malone/GB v. 2.8.1984 = EuGRZ 1985, 17

Weber und Saravia/D v. 29.6.2006 (ZE) = NL 2006, 177

Liberty u.a./GB v. 1.7.2008 = NL 2008, 195

Kennedy/GB v. 18.5.2010 = NLMR 2010, 156

Centre for Legal Ressources im Namen von Valentin Câmpeanu/RO v. 17.7.2014 (GK) = NLMR 2014, 321

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.12.2015, Bsw. 47143/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 509) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/Roman Zakharov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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  • RS0132469AUSL EGMR Rechtssatz

    12. Januar 2016·2 Entscheidungen

    Eine Person kann unter bestimmten Umständen behaupten, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Maßnahmen oder gesetzlicher Bestimmungen, die geheime Maßnahmen erlauben, begründeten Verletzung zu sein, ohne behaupten zu müssen, dass solche Maßnahmen tatsächlich auf sie angewendet wurden. Dazu müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens ist zu prüfen, ob es möglich ist, dass der Beschwerdeführer von der Gesetzgebung betroffen ist, weil er entweder zu einer Personengruppe gehört, auf die die Gesetzgebung abzielt, oder weil die Gesetzgebung alle Nutzer von Kommunikationsdiensten direkt betrifft. Zweitens wird der EGMR die Verfügbarkeit von Rechtsbehelfen auf der innerstaatlichen Ebene berücksichtigen und den Grad seiner Kontrolle an die Effektivität solcher Rechtsbehelfe anpassen. Wo das innerstaatliche System der Person, die vermutet, geheimer Überwachung unterworfen worden zu sein, keinen effektiven Rechtsbehelf gewährt, kann die Gefahr einer Überwachung als solche als Einschränkung der freien Kommunikation über Post- und Telekommunikationsdienste angesehen werden, die für alle Nutzer oder potenziellen Nutzer einen direkten Eingriff in ihre durch Art 8 MRK garantierten Rechte darstellt. In solchen Fällen muss der Einzelne nicht das Bestehen einer Gefahr nachweisen, dass geheime Überwachungsmaßnahmen auf ihn angewendet wurden. Im Gegensatz dazu ist ein verbreiteter Verdacht des Missbrauchs schwerer zu rechtfertigen, wenn das innerstaatliche System effektive Rechtsbehelfe vorsieht. In solchen Fällen kann der Einzelne nur dann behaupten, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Überwachungsmaßnahmen oder einer Gesetzgebung, die geheime Maßnahmen erlaubt, begründeten Verletzung zu sein, wenn er zeigen kann, dass ihm aufgrund seiner persönlichen Situation potenziell Gefahr droht, solchen Maßnahmen unterworfen zu werden.