JudikaturJustizBsw46117/99

Bsw46117/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. November 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Taskin u.a. gegen die Türkei, Urteil vom 10.11.2004, Bsw. 46117/99.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Umgehung einer rechtskräftigen Entscheidung der Justiz trotz erwiesener Gefährdung von Gesundheit und Umwelt.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 2

EMRK und Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Jeweils EUR 3.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um zehn türkische Staatsangehörige, die im Verwaltungsbezirk Bergama (Izmir) bzw. in den daran angrenzenden Ortschaften leben. 1992 wurde der Normandy Madencilik A. S. GmbH (im Folgenden: die Betreiberin) vom Minister für Energie und Abbau von natürlichen Ressourcen die Erlaubnis zum Betrieb der lokalen Goldmine unter Verwendung von Zyanid (Anm.: Es handelt sich hierbei um eine extrem giftige Substanz, die zum Auslaugen von Gold verwendet wird.) erteilt. Am 19.10.1994 erteilte auch der Umweltminister auf der Grundlage einer Umweltverträglichkeitsstudie seine Genehmigung. In der Folge wandten sich die Bf. an das örtliche Verwaltungsgericht und beantragten, die Entscheidung des Umweltministers angesichts der von der Verwendung von Zyanid ausgehenden Gefahren für das lokale Ökosystem und die Gesundheit der Menschen für ungültig zu erklären. Ihr Antrag wurde mit Urteil vom 2.7.1996 abgewiesen, weil die in der Umweltverträglichkeitsstudie festgelegten Kriterien von der Betreiberin ohnehin beachtet würden. Am 13.5.1997 hob der Staatsrat das Urteil des Verwaltungsgerichts auf, da die Genehmigung des Umweltministers mit dem öffentlichen Interesse nicht im Einklang gestanden sei. Er kam nach einer Würdigung sowohl der geographischen und geologischen Lage der Region als auch der Umweltverträglichkeitsstudie und zusätzlicher Expertisen zu dem Ergebnis, dass die Verwendung von Zyanid sich nachteilig auf die Umwelt und die Gesundheit und Sicherheit der Menschen auswirken würde. Die Sache wurde zur neuerlichen Prüfung und Verhandlung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen, was die sofortige Aussetzung des Vollzugs der ministeriellen Entscheidung zur Folge hatte. Am 15.10.1997 erklärte das Verwaltungsgericht die Genehmigung des Umweltministers für ungültig. Das Urteil wurde am 1.4.1998 vom Staatsrat bestätigt, worauf es Rechtskraft erlangte. Ende Februar 1998 ordnete der Gouverneur von Izmir die Schließung der Goldmine an. In der Folge wandte sich die Betreiberin mit diversen Gesuchen an verschiedene Ministerien und brachte vor, dass sie zusätzliche Maßnahmen zur Erreichung der bestmöglichen Sicherheit für Mensch und Natur getroffen hätte. Im Oktober 1999 legte das Türkische Institut für wissenschaftliche und technische Untersuchungen (TIWTU) ein vom Premierminister in Auftrag gegebenes Gutachten vor, aus dem hervorging, dass die genannten Risiken beseitigt bzw. auf ein für die Gesundheit und das Ökosystem erträgliches Maß reduziert worden seien. Am 5.4.2000 gab der Premierminister eine öffentliche Stellungnahme ab, worin er die baldige Wiederaufnahme des Minenbetriebs bekannt gab. Im April 2001 nahm die Betreiberin ihre Bergbautätigkeit probeweise wieder auf. Am 29.3.2002 fällte der Ministerrat einen Grundsatzbeschluss, wonach der Normandy Madencilik A. S. GmbH die Fortsetzung des Minenbetriebs gestattet werde. Der Beschluss – über den die Öffentlichkeit nicht in Kenntnis gesetzt wurde – gründete sich insbesondere auf die Bedeutung der Goldmine für den wirtschaftlichen Wohlstand des Landes, das von TIWTU vorgelegte Gutachten und den Umstand, dass die Goldwaschung mit Zyanid mit modernster Technologie betrieben werde.

Am 23.6.2004 setzte der Staatsrat den Vollzug des Beschlusses des Ministerrats aus, worauf die neuerliche Schließung der Goldmine angeordnet wurde. Mit Schreiben vom 27.8.2004 wurde die Betreiberin vom Umweltminister in Kenntnis gesetzt, dass er zu einer von ihr vorgelegten Umweltstudie eine positive Stellungnahme abzugeben gedenke.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, die Genehmigung zum Betrieb der Goldmine unter Verwendung von Zyanid und der vorausgegangene Entscheidungsprozess hätten ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt. Sie rügen ferner eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz) aufgrund der Weigerung der Verwaltung, sich den Entscheidungen der Justiz gemäß zu verhalten. In diesem Zusammenhang behaupten sie auch Verletzungen ihrer Rechte auf eine wirksame Bsw. bei einer nationalen Instanz (Art. 13 EMRK) und auf Leben (Art. 2 EMRK).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der GH erinnert an seine im Fall López Ostra/E geäußerte Rechtsansicht, wonach schwerwiegende Umweltbeeinträchtigungen das Wohlbefinden von Personen und die ungestörte Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung beeinträchtigen können. Im Übrigen verlangt Art. 8 EMRK keineswegs, dass eine ernste Bedrohung für die Gesundheit der Betroffenen vorliegen muss.

Der Staatsrat stützte seine Entscheidung vom 13.5.1997 im Wesentlichen auf die positive Verpflichtung der Türkei zum Schutz des menschlichen Lebens und der Umwelt. Unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der Umweltverträglichkeitsstudie und anderer Gutachten, die in der Verwendung von Zyanid eine Gefahr für das lokale Ökosystem, die Gesundheit und die Sicherheit der Menschen sahen, kam er zu dem Ergebnis, dass eine Genehmigung nicht im öffentlichen Interesse liege. Obwohl die Entscheidung des Staatsrates ab ihrer am 20.10.1997 erfolgten Zustellung an den Umweltminister Vollstreckbarkeit erlangte, wurde die Schließung der Goldmine erst am 27.2.1998 – zehn bzw. vier Monate nach Verkündung bzw. Zustellung – angeordnet.

Die Intervention des Premierministers hatte die Ausstellung von mehreren ministeriellen Genehmigungen zur Folge und war letztlich auf die Weigerung der Verwaltung zurückzuführen, die Entscheidungen der Justiz und die nationalen Rechtsvorschriften zu befolgen. Die besagten Genehmigungen hatten auch keine Rechtsgrundlage, da sie nicht auf der Basis einer neuen Umweltverträglichkeitsstudie ergingen.

Der GH erinnert daran, dass die Verwaltung Teil des Rechtsstaates ist, in dessen Interesse auch eine geordnete Justizverwaltung liegt. Für den Fall, dass die Verwaltung den Vollzug einer Gerichtsentscheidung verabsäumt, verweigert oder verzögert, würden die einem Rechtssuchenden vor den Gerichten gewährleisteten Garantien jeglichen Bestandes verlustig gehen. Dies hat umso mehr für den vorliegenden Fall zu gelten, bei dem ungeachtet der von der türkischen Rechtsordnung gewährleisteten gesetzlichen Garantien und ihres Vollzugs durch die türkische Justiz der Ministerrat in einem nicht öffentlich kundgemachten Grundsatzbeschluss der Betreiberin die Fortsetzung der Goldgewinnung gestattet hat. Auf diese Weise haben die Behörden die von den Bf. in Anspruch genommenen Verfahrensgarantien jeglicher Wirksamkeit beraubt. Der GH gelangt somit zu dem Ergebnis, dass die Türkei ihrer Verpflichtung, den Bf. ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu garantieren, nicht nachgekommen ist. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Die Reg. wendet ein, dass Art. 6 (1) EMRK nicht anwendbar sei, da die Bf. sich lediglich auf ein wahrscheinliches, hypothetisches und keineswegs unmittelbar bevorstehendes Risiko berufen hätten. Die Bsw. beträfe auch keine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen iSv. Art. 6 EMRK.

Der GH erinnert daran, dass die Bf. die Ungültigerklärung der Genehmigung des Umweltministers unter Berufung auf ihr Recht auf angemessenen Schutz ihrer körperlichen Integrität beantragt hatten. Dieses Recht ist in der türkischen Rechtsordnung ausdrücklich vorgesehen. (Anm.: So garantiert etwa Art. 56 der türkischen Verfassung jedermann das Recht, in einer gesunden und ausgewogenen Umwelt zu leben.) Es liegt somit ein echter und ernsthafter Streit vor.

Was dessen zivilrechtlichen Charakter betrifft, hat der Staatsrat das Ausmaß des mit der Verwendung von Zyanid verbundenen Risikos für die Gesundheit ausführlich dargelegt. Im Übrigen stellte der Gang zu den Gerichten für die Bf. das einzige Mittel dar, sich über einen Eingriff in ihre Rechte zu beschweren. Darüber hinaus hätte nach der Aufhebung der ministeriellen Entscheidung durch den Staatsrat jeder administrative Akt mit dem Ziel einer Vereitelung den Zuspruch von Schadenersatz nach sich gezogen. Der vor den Verwaltungsgerichten gebrachte Streitgegenstand hatte daher von seiner Gesamtheit her betrachtet zivilrechtliche Ansprüche der Bf. zum Gegenstand. Art. 6

(1) EMRK ist anwendbar.

Die Entscheidung des Staatsrates vom 13.5.1997 hatte aufschiebende Wirkung, bevor sie am 1.4.1998 Rechtskraft erlangte. Trotz dieser Tatsache wurde sie nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist vollzogen. Was den am 13.4.2001 wieder aufgenommenen Probebetrieb der Goldmine angesichts zweier ministerieller Genehmigungen angeht, hatten diese – wie bereits erwähnt – keine gesetzliche Basis und liefen auf die Umgehung einer rechtskräftigen Entscheidung der Justiz hinaus. Eine derartige Vorgangsweise ist unvereinbar sowohl mit dem Rechtstaatsprinzip als auch den Grundsätzen des Vorranges von Gesetzen und der Rechtssicherheit. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Jeweils EUR 3.000,-- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

López Ostra/E v. 9.12.1994, A/303-C (= NL 1995, 25 = EuGRZ 1995, 530

= ÖJZ 1995, 347).

Balmer-Schafroth ua./CH v. 26.8.1997 (= NL 1997, 214 = EuGRZ 1999,

183 = ÖJZ 1998, 436).

Guerra ua./I v. 19.2.1998 (= NL 1998, 59 = EuGRZ 1999, 188 = ÖJZ

1999, 33).

McGinley Egan/GB v. 9.6.1998 (= NL 1998, 108 = ÖJZ 1999, 355).

Athanassoglou ua./CH v. 6.4.2000 (= NL 2000, 61).

Hatton ua./GB v. 8.7.2003 (= NL 2003, 193).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.11.2004, Bsw. 46117/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 185) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_6/Taskin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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