JudikaturJustizBsw4605/05

Bsw4605/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
24. Juni 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Petrova gg. Lettland, Urteil vom 24.6.2014, Bsw. 4605/05.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK - Organentnahme ohne Verständigung der Angehörigen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 26.5.2002 erlitt der Sohn der Bf. bei einem Autounfall sehr schwere Verletzungen. Nachdem er zunächst in einem anderen Krankenhaus behandelt worden war, wurde er um 14:45 Uhr in das »Erste Krankenhaus Riga« gebracht. Sein Zustand blieb auch nach einer Operation sehr ernst und er erlangte das Bewusstsein nicht wieder.

Am 28.5. um 23:50 Uhr informierte das Krankenhaus das Transplantationszentrum der Universitätsklinik über einen potenziellen Organspender. Daraufhin begaben sich zwei Spezialisten des Zentrums in das Krankenhaus. Um 1:20 Uhr des folgenden Tages wurde der Tod des Sohnes der Bf. in der Krankenakte vermerkt. Zwischen 1:35 und 3:45 Uhr wurden seine Nieren und die Milz zum Zweck der Transplantation entnommen.

Die Bf. war nicht von der Verschlechterung des Zustands ihres Sohnes informiert worden. Sie war auch nicht gefragt worden, ob er einer Organspende zugestimmt hätte oder ob sie damit einverstanden wäre.

Am 30.5.2002 wurde im Zuge des Strafverfahrens gegen den Lenker, der den Unfall verursacht hatte, eine Autopsie des Leichnams des Sohnes der Bf. vorgenommen. Die Bf. erfuhr erst durch die Übermittlung des Autopsieberichts am 11.2.2003, dass ihrem Sohn bestimmte Organe entnommen worden waren.

Diverse Eingaben der Bf. führten zu mehreren Untersuchungen. Die Sicherheitspolizei entschied aufgrund der Ergebnisse von Ermittlungen des Inspektorats für Qualitätskontrolle in der medizinischen Versorgung (MADEKKI), kein Strafverfahren einzuleiten, da die Organentnahme den gesetzlichen Vorschriften entsprochen hätte. Der Sohn der Bf. hätte zu Lebzeiten einer Verwendung seiner Organe nicht widersprochen und es wäre nicht möglich gewesen, rechtzeitig die Zustimmung der Angehörigen einzuholen. Eine weitere Beschwerde zog ein Treffen zwischen dem Gesundheitsminister und Vertretern des Krankenhauses sowie des Transplantationszentrums nach sich. Darin wurde seitens des Ministers die Ansicht vertreten, dass die Zustimmung der Angehörigen einzuholen gewesen wäre. Im Protokoll wurde festgehalten, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden sei, um die gesetzlichen Voraussetzungen klarer zu definieren.

Am 6.5.2004 wurde eine Beschwerde gegen die Verweigerung der Einleitung eines Strafverfahrens von der Staatsanwaltschaft abgewiesen. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(47) Die Bf. bringt vor, die Entnahme der Organe ihres Sohnes sei ohne Zustimmung durch ihn selbst oder sie erfolgt. [...]

Umfang der Beschwerde

(49) [...] Die Regierung wendet ein, die Bf. habe sich stets nur über eine Verletzung der Rechte ihres Sohnes und nicht ihrer eigenen Rechte beschwert.

(50) Die Regierung wendet auch ein, dass die Bf. nicht behaupten könne, Opfer der behaupteten Verletzung der Rechte ihres Sohnes zu sein.

(54) Eine Beschwerde kann grundsätzlich nicht im Namen einer verstorbenen Person erhoben werden, weil sie nicht als »natürliche Person« iSv. Art. 34 EMRK angesehen werden kann.

(55) Es ist zu unterscheiden zwischen Fällen, in denen der Bf. während des Verfahrens verstirbt und Fällen, in denen die Beschwerde nach dem Tod des Opfers von dessen Erben erhoben wird. In Fällen, in denen der Bf. vor der Erhebung der Beschwerde starb, betonte der GH, dass durch Art. 8 EMRK geschützte Rechte höchstpersönlich und nicht übertragbar sind. Daher können sich Angehörige grundsätzlich nicht auf Art. 8 EMRK stützen, solange sie nicht von dem umstrittenen Eingriff persönlich betroffen sind.

(56) Im vorliegenden Fall sind die Rechte des Verstorbenen und seiner Mutter eng miteinander verbunden. [...] Die Bf. brachte im Beschwerdeformular ihren Wunsch klar zum Ausdruck, sich im eigenen Namen zu beschweren und sie hielt in ihren weiteren Vorbringen an diesem Standpunkt fest.

(57) Die Einrede hinsichtlich des Umfangs der Beschwerde wird daher zurückgewiesen.

(58) Der GH erachtet es nicht als erforderlich, gesondert auf die Einrede hinsichtlich des Opferstatus der Bf. einzugehen.

Zulässigkeit

(59-61) Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft. Sie hätte eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof [...] und an MADEKKI erheben können. [...] Außerdem hätte sie vor den Zivilgerichten materiellen und immateriellen Schadenersatz geltend machen können. [...]

(67) Eine Verfassungsbeschwerde ist aus folgenden Gründen kein geeigneter Rechtsbehelf zum Schutz der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte der Bf.

(69) [...] Eine Individualbeschwerde gegen eine Rechtsnorm kann nur erhoben werden, wenn die betroffene Person der Ansicht ist, sie verletzte sie in ihren durch die Verfassung geschützten Grundrechten. Dieses Verfahren kann daher nicht als effektiver Rechtsbehelf dienen, wenn die behauptete Verletzung nur aus der fehlerhaften Anwendung oder Auslegung einer Norm resultiert, die als solche nicht verfassungswidrig ist.

(70) [...] Die Beschwerde der Bf. bezieht sich auf die Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Rechts. Sie wirft keine Frage von dessen Verfassungsmäßigkeit auf. Daher musste die Bf. diesen Rechtsbehelf nicht erschöpfen.

(71) [...] Die Tatsache, dass sich die Bf. nicht direkt bei MADEKKI beschwert hat, ist nicht relevant. [...]

(74) Stehen mehrere innerstaatliche Rechtsbehelfe zur Verfügung, kann die betroffene Person entscheiden, welchen sie ergreift. [...] Es gab keinen Grund für die Bf. anzunehmen, dass die strafrechtlichen Beschwerden nicht effektiv sein würden.

(75) Es war für die Bf. nicht notwendig, vor den Zivilgerichten eine gesonderte Klage auf Schadenersatz einzubringen. [...]

(76) Der GH ist auch nicht der Ansicht, dass die Beschwerde nach Ablauf der Frist erhoben wurde. [...]

(77) Die Beschwerde kann deshalb nicht wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel oder Nichteinhaltung der Beschwerdefrist zurückgewiesen werden. Die entsprechenden Einreden der Regierung sind daher zurückzuweisen. [...] Es ist unbestritten, dass das vom innerstaatlichen Recht anerkannte Recht der Bf., der Entnahme der Organe ihres Sohnes zuzustimmen oder zu widersprechen, in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fällt. [...] Da die Beschwerde auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(86) [...] Im vorliegenden Fall ist von besonderer Bedeutung, ob die umstrittene Maßnahme eine Grundlage im innerstaatlichen Recht hatte, die dem Rechtsstaatsprinzip entspricht, also mit ausreichender Klarheit formuliert ist und angemessenen rechtlichen Schutz vor Willkür gewährt. [...]

(87) [...] Die Bf., die eine der engsten Angehörigen ihres Sohnes war, wurde nicht über die geplante Entnahme seiner Organe informiert und konnte daher keinen Gebrauch von bestimmten Rechten machen, die ihr das innerstaatliche Recht vermeintlich einräumt, nämlich der Entnahme zuzustimmen oder ihr zu widersprechen.

(88) Es ist unbestritten, dass die beteiligten Krankenhäuser öffentliche Einrichtungen sind und die Handlungen und Unterlassungen des medizinischen Personals die Verantwortlichkeit des belangten Staates begründen konnten.

(89) Diese Umstände sind ausreichend für die Feststellung, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens stattgefunden hat.

(90) Zur gesetzlichen Grundlage stellt der GH fest, dass das lettische Recht zur gegenständlichen Zeit ausdrücklich ein Recht nicht nur der betroffenen Person, sondern auch ihrer engsten Angehörigen – einschließlich der Eltern – vorsah, ihre Wünsche hinsichtlich einer Organentnahme zu äußern. Dies wird von den Parteien nicht bestritten. Sie sind jedoch uneinig über die Ausübung dieses Rechts. Nach Ansicht der Bf. kamen die Behörden ihrer Pflicht nicht nach, Voraussetzungen zu schaffen, damit sie ihre Wünsche äußern konnte. Die Regierung entgegnet, im »System der vermuteten Einwilligung« würde von den betroffenen Personen erwartet, aktive Schritte zu setzen, wenn sie einer Organentnahme widersprechen wollen. Dieser Streitpunkt bezieht sich auf die Qualität des innerstaatlichen Rechts, insbesondere auf die Frage, ob das Gesetz mit ausreichender Präzision formuliert war oder angesichts des Fehlens der relevanten administrativen Regelung angemessenen rechtlichen Schutz vor Willkür bot.

(93) Der gesundheitliche Zustand des Sohnes der Bf. war beinahe drei Tage lang sehr ernst. Es kann daher nicht gesagt werden, dass es praktisch unmöglich gewesen wäre, seine Angehörigen zu kontaktieren. [...]

(94) Zur ausreichend präzisen Formulierung des innerstaatlichen Rechts stellt der GH fest, dass die Sicherheitspolizei und die Staatsanwaltschaft davon ausgingen, dass die fehlende Verständigung der Bf. über die mögliche Organentnahme nicht rechtswidrig war. Der Gesundheitsminister vertrat hingegen die Ansicht, dass sie hätte informiert werden müssen. Zur Klarstellung wurden einige Änderungen des Gesetzes vorgeschlagen. Eine solche Uneinigkeit und die spätere Änderung des Gesetzes deuten auf ein Fehlen angemessener Klarheit hinsichtlich des Ermessens hin, dass den Behörden zur gegenständlichen Zeit vom innerstaatlichen Recht eingeräumt wurde. Während das lettische Recht den engsten Angehörigen ein Recht gewährte, ihre Wünsche hinsichtlich einer Organentnahme zu äußern, definierte es nicht mit ausreichender Klarheit das Ausmaß der entsprechenden Verpflichtung oder des Ermessens der Ärzte oder sonstigen Behörden.

(95) Das Gesetz sah kein von staatlichen Institutionen einzuhaltendes Verfahren vor, in dem die Ansichten der verstorbenen Person zu einer Organentnahme festgestellt werden hätten können. [...] Die Regierung bestätigte, dass es keine rechtliche Verpflichtung gab, die engsten Angehörigen von einer bevorstehenden Organentnahme zu verständigen, und brachte vor, das Gesetz impliziere, dass die Angehörigen aktiv werden müssten. Der GH erinnert daran, dass das Prinzip der Rechtmäßigkeit von Staaten nicht nur verlangt, die von ihnen erlassenen Gesetze zu achten und anzuwenden, sondern auch die rechtlichen und praktischen Voraussetzungen für ihre Umsetzung sicherzustellen. Im vorliegenden Fall bleibt unklar, wie das im lettischen Recht vorgesehene »System der vermuteten Einwilligung« in der Praxis unter Umständen wie jenen des vorliegenden Falls funktioniert, in dem die Bf. als engste Angehörige bestimmte Rechte hatte, aber nicht darüber informiert – geschweige denn mit einer Erklärung versorgt – wurde, wie und wann diese Rechte ausgeübt werden müssten.

(96) Zum angemessenen rechtlichen Schutz gegen Willkür stellt der GH fest, dass die Sicherheitspolizei einräumte, dass der Koordinator des Transplantationszentrums dafür verantwortlich gewesen wäre, die Angehörigen über die Organentnahme zu informieren. Laut der Staatsanwaltschaft gab es aber keine gesetzliche Verpflichtung, deren Zustimmung einzuholen. Sie erklärte auch, dass die Bestimmungen eine Organentnahme nur in Fällen untersagten, in denen ein Widerspruch vorlag, nicht aber in Fällen, in denen die Wünsche der engsten Angehörigen nicht festgestellt worden sind. Die Regierung räumte ein, es wäre nicht erforderlich, dass der medizinische Experte den Angehörigen ihre Rechte erklärt oder Nachforschungen über deren Wünsche anstellt. Der GH bemerkt in diesen verschiedenen Positionen eine erhebliche Unsicherheit über das anwendbare Recht. Vor der Organentnahme waren einige Untersuchungen vorgenommen worden um festzustellen, ob die Organe des Sohnes der Bf. tatsächlich für den Empfänger geeignet waren. Die wenn auch kurze Zeit, die zur Durchführung dieser Untersuchungen notwendig war, könnte ausreichend gewesen sein um der Bf. eine Gelegenheit einzuräumen, ihre Wünsche zu äußern, wozu sie nach dem innerstaatlichen Recht berechtigt war. Allerdings stand dafür kein Mechanismus zur Verfügung.

(97) Der GH kann angesichts dessen nicht feststellen, dass das anwendbare lettische Recht mit ausreichender Klarheit formuliert war oder angemessenen Schutz gegen Willkür bot.

(98) Der Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens war somit nicht iSv. Art. 8 EMRK gesetzlich vorgesehen. Daher hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Wojtyczek). [...]

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(101) Dieser Beschwerdepunkt hängt mit dem oben geprüften zusammen und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(102) Der GH erachtet es nicht als erforderlich zu prüfen, ob auch eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden hat (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Calvelli und Ciglio/I v. 17.1.2002 = NL 2002, 12 = ÖJZ 2003, 307

Glass/GB v. 9.3.2004 = NL 2004, 70

Hadri-Vionnet/CH v. 14.2.2008 = NL 2008, 34

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.6.2014, Bsw. 4605/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 216) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_3/Petrova.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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