JudikaturJustizBsw38191/12

Bsw38191/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. Juli 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache A. K. gg. Liechtenstein, Urteil vom 9.7.2015, Bsw. 38191/12.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Befangenheit von Verfassungsrichtern, die über sie selbst betreffende Befangenheitsanträge entschieden.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung der Konvention stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen immateriellen Schaden dar, welchen der Bf. erlitten hat. € 1.520,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Seit 2004 befinden sich der Bf., ein deutscher Staatsbürger, und F. H. im Rechtsstreit miteinander im Hinblick auf die Rechte an 75?% der Inhaberaktien der EMK AG und der EMK Engineering AG, zwei in Liechtenstein ansäßigen und eingetragenen Firmen, die mit Gebäudeelementen handeln.

Mit einer unmittelbar vollstreckbaren einstweiligen Verfügung vom 30.7.2010, die im Einklang mit Art. 276 Abs. 1 des Gesetzes über das Exekutions- und Rechtssicherungsverfahren erfolgte, gab das Landgericht dem Antrag von F. H. statt, dem Grundbuch und Handelsregister die Eintragung von bestimmten Änderungen betreffend die EMK Engineering AG zu untersagen, die in der außerordentlichen Hauptversammlung der AG vom 23.7.2004 entschieden worden waren. Die betreffenden Entscheidungen sahen vor, dass F. H. als Vertreter und Mitglied des Aufsichtsrats der AG abgewählt und der Bf. zum Geschäftsführer der AG mit alleiniger Vertretungsbefugnis für selbige bestellt wurde. Laut dem Landgericht sollte die einstweilige Verfügung dazu dienen, die Klage von F. H. im Hauptverfahren zu sichern, mit der dieser verlangte, die Erklärung der Entscheidungen der Hauptversammlung für nichtig zu erklären und die Eintragung dieser Entscheidungen in das Grundbuch und Handelsregister zu verbieten. (Anm: Bei Vornahme entsprechender Eintragungen hätten Verfügungen für die AG ohne Beteiligung von F. H. getroffen werden können.)

Am 23.9.2010 wies das Berufungsgericht die Berufung des Bf. gegen die einstweilige Verfügung ab. Der Bf. erhob gegen diese Entscheidung eine Verfassungsbeschwerde.

Nachdem ihm die dem Fall zugewiesenen Richter (B., Bu., S., V. und W.) bekanntgegeben worden waren, stellte er gegen alle fünf aus zahlreichen und teilweise unterschiedlichen Gründen Befangenheitsanträge. Am 28.11.2011 wies das Verfassungsgericht in der genannten Zusammensetzung die Befangenheitsanträge des Bf. gegen sie ab. Dabei hätten über den Befangenheitsantrag gegen einen von ihnen immer nur die vier übrigen Richter entschieden, während sich der Betroffene daran nicht beteiligt hätte.

Am 19.12.2011 gab das Verfassungsgericht in der Besetzung B., Bu., S., V. und W. der Verfassungsbeschwerde des Bf. insoweit statt, als dieser sich über die unangemessene Verfahrensdauer beschwert hatte und wies sie im Übrigen ab. Diesbezüglich erhob der Bf. eine separate Beschwerde (Bsw. Nr. 67.213/12) an den GH.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil die fünf Richter des Verfassungsgerichts, die aufgerufen waren, über seinen Fall zu entscheiden, nicht unparteiisch gewesen wären.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Zur Zulässigkeit

(39) Die Regierung brachte vor, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Verfahren über die einstweilige Verfügung nicht anwendbar wäre. [...]

(46) Im Urteil Micallef/M legte der GH die folgenden Kriterien dar, unter denen Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfahren über einstweilige Verfügungen anwendbar ist: Erstens muss das betroffene Recht im Hauptverfahren und im Verfahren über die einstweilige Verfügung »zivil« im autonomen Sinn dieses Begriffs nach Art. 6 EMRK sein. Zweitens müssen Natur, Ziel und Zweck der einstweiligen Verfügung sowie ihre Auswirkungen auf das fragliche Recht genau untersucht werden. Wann immer eine einstweilige Verfügung als wirksam angesehen werden kann, um den betreffenden zivilrechtlichen Anspruch oder die betreffende zivilrechtliche Verpflichtung zu entscheiden – und zwar ungeachtet der Dauer der Zeit, für die sie in Kraft steht – ist Art. 6 EMRK anwendbar.

(49) Um zu bestimmen, ob Art. 6 EMRK auf die gegenständliche einstweilige Verfügung anwendbar ist, muss der GH zunächst untersuchen, ob das auf dem Spiel stehende Recht im Hauptverfahren und im Verfahren über die einstweilige Verfügung »zivil« ist. Er beobachtet, dass F. H. im Hauptverfahren [...] versuchte, die Feststellung zu erhalten, dass die Entscheidungen in der außerordentlichen Hauptversammlung der EMK Engineering AG vom 23.7.2004 null und nichtig waren und es daher verboten war, diese Entscheidungen im Grundbuch und Handelsregister einzutragen. Die besagten Entscheidungen betrafen insbesondere die Rechte von F. H. und des Bf., die AG zu führen und zu vertreten. Der GH erwägt, dass der fragliche Streit zwischen zwei Individuen über das Recht, als Mehrheitsaktionäre Entscheidungen für eine AG nach Privatrecht zu treffen und als Vertreter für Letztere zu handeln und so das Eigentum an den Anteilen der AG zu nutzen, »zivil« im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs nach Art. 6 EMRK ist.

(50) Der GH bemerkt ferner, dass im Verfahren über die einstweilige Verfügung zwischen denselben Parteien untersagt wurde, die Entscheidungen in der außerordentlichen Hauptversammlung der EMK Engineering AG vom 23.7.2004 betreffend das Recht, die AG zu führen und zu vertreten, im Grundbuch und Handelsregister einzutragen. In Anbetracht der vorangehenden Erwägungen muss das im Verfahren über die einstweilige Verfügung auf dem Spiel stehende Recht ebenfalls als »zivil« angesehen werden. Das erste Kriterium des Micallef-Tests ist daher erfüllt.

(51) Der GH muss zweitens prüfen, ob die fragliche einstweilige Verfügung als wirksam angesehen werden kann, über das auf dem Spiel stehende zivile Recht zu entscheiden – ungeachtet der Zeitdauer, für die sie in Kraft steht. Er bemerkt diesbezüglich, dass der Umfang des Hauptverfahrens über jenen des Verfahrens über die einweilige Verfügung hinausging. Ersteres zielte im Wesentlichen darauf ab, die Nichtigkeit der Entscheidungen über die Leitung und Vertretung der AG in der außerordentlichen Hauptversammlung festzustellen, die folglich nicht in das Grundbuch und das Handelsregister eingetragen werden sollten. Die einstweilige Verfügung war darauf gerichtet, den status quo bis zum Ausgang des Hauptverfahrens zu bewahren, indem sie die Eintragung der genannten Entscheidungen über die Leitung und Vertretung im Grundbuch und im Handelsregister untersagte.

(52) Trotz der größeren Reichweite des Hauptverfahrens erwägt der GH, dass die fragliche einstweilige Verfügung, die sofort vollstreckbar war, dasselbe zivile Recht entschied wie dasjenige, das im Hauptverfahren strittig war, wenn auch nur für eine beschränkte Zeit. Soweit die Entscheidungen über die Leitung und Vertretung der AG in der außerordentlichen Hauptversammlung nicht ins Grundbuch und Handelsregister eingetragen waren, blieb das Recht, die AG zu führen und zu vertreten, unverändert – dieses Ziel verfolgte auch das Hauptverfahren. Während dieser Zeit war es dem Bf. daher nicht möglich, die AG alleine zu vertreten und alleine über die Zukunft und Entwicklung der AG zu entscheiden.

(53) Nach Ansicht des GH ging die einstweilige Verfügung im vorliegenden Fall daher über eine reine Schutzmaßnahme hinaus, deren Zweck lediglich war, die zukünftige Befriedigung des Anspruchs einer Person sicherzustellen. Wie das Landgericht selbst zugestand, fand die Beschränkung, dass einstweilige Verfügungen den Ausgang des Hauptverfahrens nicht vorwegnehmen sollten, im gegenständlichen Verfahren über die einstweilige Verfügung keine Anwendung und wurde nicht eingehalten. Die gegenständliche einstweilige Verfügung entschied während der Zeit, für die sie in Kraft war, das Recht, die EMK Engineering AG zu leiten und zu vertreten. Demgemäß wurde das zweite Kriterium des Micallef-Tests ebenfalls erfüllt.

(54) Daraus folgt, dass Art. 6 EMRK auf das gerügte Verfahren über die einstweilige Verfügung, das mit dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 19.12.2011 endete, anwendbar und die Einrede der Regierung deshalb zurückzuweisen ist.

(55) Der GH bemerkt weiters, dass die Rüge des Bf. über die Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Er beobachtet in diesem Zusammenhang, dass die Unparteilichkeit des betroffenen Gerichts in einem Verfahren über eine einstweilige Verfügung ein unverzichtbarer und unabdingbarer Schutz ist und dass der Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK daher im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des gegenständlichen Verfahrens nicht beschränkt ist. Er bemerkt ferner, dass die Beschwerde nicht aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

In der Sache

(65) [...] Entsprechend der gefestigten Rechtsprechung des GH muss das Vorliegen von Unparteilichkeit für die Zwecke von Art. 6 Abs. 1 EMRK nach (1) einem subjektiven Test entschieden werden, wo die persönliche Überzeugung und das Verhalten eines speziellen Richters berücksichtigt werden muss, ob also der Richter in einem gegebenen Fall persönliche Vorurteile hatte oder Befangenheit aufwies, und (2) nach einem objektiven Test, also einer Vergewisserung, ob das Gericht selbst und unter anderem seine Zusammensetzung ausreichende Garantien boten, um einen berechtigten Zweifel im Hinblick auf seine Unparteilichkeit auszuschließen.

(70) Die [vom Bf. gegen die fünf Richter geltend gemachten] Gründe umfassten einerseits Bedenken gegen alle Richter des Verfassungsgerichts oder gegen mehrere von ihnen aus (beinahe) identischen Gründen. Der Bf. erwähnte diesbezüglich, dass das Verfassungsgericht und insbesondere die Richter B., V. und W. in verwandten Verfahren Entscheidungen zu seinem Nachteil getroffen, die Zuweisung seines Falls an fünf Richter verzögert, und deutsche Staatsbürger diskriminiert hätten. Zudem lehnte er die Richter B., Bu. und W. ab, weil sie eine enge berufliche Beziehung zu Richter H. hätten, der Richter am Verfassungsgericht und F. H.’s Bruder war, und Richter V., weil er eine enge persönliche Beziehung zu Richter H. unterhalten würde.

(71) Auf der anderen Seite lehnte der Bf. zusätzlich jeden der fünf Richter des Verfassungsgerichts aus unterschiedlichen individuellen Gründen ab. Der Bf. hielt diesbezüglich fest, dass Richter B. es verabsäumt hätte, seiner Verfassungsbeschwerde im gegenständlichen Verfahren aufschiebende Wirkung zu gewähren und Mitglied verschiedener Ausschüsse und Kommissionen war, in denen ein Richter, welcher eine Entscheidung in verwandten Verfahren getroffen hatte, ebenfalls Mitglied war. Er focht Richter Bu. an, weil dieser als Experte und Dozent für die Regierung gearbeitet hatte. Der Bf. bestritt weiters die Unabhängigkeit von Richter V., da dieser als Professor an der Universität Liechtenstein für die Regierung gearbeitet hätte und Richter kurze Amtszeiten hätten. Er hielt Richter S. für befangen, da dieser Mitglied des Aufsichtsrats einer staatlichen Firma war. Schließlich wurde Richter W. abgelehnt, weil er in seiner Anwaltskanzlei Partner eines Anwalts war, gegen den der Bf. ein erbrechtliches Verfahren angestrengt hatte, und weil ein anderer Anwalt dieser Kanzlei bereits die EMK Engineering AG vertreten hatte.

(72) In der angefochtenen Entscheidung wiesen die fünf abgelehnten Richter die Befangenheitsanträge des Bf. gegen sie durch die folgende Vorgehensweise ab: Vier der Richter des Verfassungsgerichts berieten und entschieden nacheinander über die Befangenheitsanträge gegen den fünften Richter, ohne Beteiligung des Letzteren. Gemäß ihrem operativen Teil wurde die Entscheidung über alle Befangenheitsanträge insgesamt von den fünf abgelehnten Richtern getroffen.

(73) Der GH erwägt, dass weder die Gründe, die der Bf. dafür anführte, dass er die Richter des Verfassungsgerichts für befangen erachtete, noch das Verfahren, in welchem Letzteres die Befangenheitsanträge des Bf. zurückwies, irgendein persönliches Vorurteil eines der Richter gegen den Bf. offenbaren (subjektiver Test). Letztgenannter verabsäumte es insbesondere zu begründen, dass die Richter des Verfassungsgerichts ihn aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit diskriminiert hätten.

(74) Was den objektiven Test betrifft, stellt der GH fest, dass keiner der zahlreichen Gründe, aus denen der Bf. die fünf Richter des Verfassungsgerichts wegen Befangenheit anfocht, als solcher ausreichend war, um berechtigte und objektive Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter aufzuwerfen. Der GH erwägt insbesondere, dass der Umstand, dass einige der Richter des Verfassungsgerichts bereits verschiedene Fälle behandelten, an denen der Bf. beteiligt war und in denen seinen Klagen nicht stattgegeben wurde, als solches nicht ausreicht, berechtigte Zweifel im Hinblick auf ihre Unparteilichkeit aufzuwerfen, auch wenn es eine faktische Verbindung zwischen diesen Fällen gab. Desgleichen offenbaren verschiedene standardmäßige verfahrensrechtliche Entscheidungen im Fall des Bf., wie die angeblich verspätete Zuweisung der Richter für den Fall und ihre Weigerung, der Verfassungsbeschwerde eine aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, als solche keinen Anschein von Parteilichkeit.

(75) Zudem beobachtet der GH im Hinblick auf die Ablehnungen von Richter H., dem Vize-Präsidenten des Verfassungsgerichts und Bruder von F. H. [...], dass Richter H. an den strittigen Entscheidungen selbst nicht teilnahm. Die bestehende Arbeitsbeziehung der fünf abgelehnten Richter des Verfassungsgerichts zu ihrem Kollegen Richter H. und die angebliche Freundschaft eines von ihnen zu Richter H. reichen nicht aus, um einen objektiven Beobachter berechtigterweise fürchten zu lassen, dass die fünf Richter ihren Amtsantrittseid nicht als ihren sozialen Verpflichtungen vorgehend ansehen würden. Die beruflichen Beziehungen von Richter B. und W. zu Personen, die zuvor mit verschiedenen Verfahren befasst waren, an denen der Bf. beteiligt gewesen war, bringen nur eine entfernte Verbindung zum gegenständlichen Verfahren mit sich und werfen daher gleichermaßen keine berechtigten Befürchtungen im Hinblick auf die Unparteilichekit dieser Richter selbst auf.

(76) Zudem wurde die Unabhängigkeit der Richter durch ihre Amtszeit von fünf Jahren nicht beeinträchtigt. Es weist auch nichts darauf hin, dass durch Universitätsvorträge oder Rechtsgutachten durch manche der Richter oder ihre Mitgliedschaft im Aufsichtsrat einer staatlichen Firma unter den Umständen des Falles berechtigte Zweifel an deren Unabhängigkeit dieser Richter von der Exekutive geschürt werden.

(77) Allerdings bemerkt der GH [...], dass das Verfassungsgericht über die Befangenheitsanträge gegen jeden Richter in einer Formation entschied, die sich aus den übrigen vier Richtern zusammensetzte, die vom Bf. gleichermaßen wegen Befangenheit abgelehnt worden waren.

(78) Bei der Beurteilung, ob dieses Verfahren die Unparteilichkeit jedes der abgelehnten Mitglieder des Verfassungsgerichts beeinträchtigte, muss der GH unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung die Natur der Gründe untersuchen, auf die sich die Ablehnungen wegen Befangenheit stützten. Erstens wird so ein Verfahren besonders die Unparteilichkeit der beteiligten Richter in Frage stellen, wenn identische Ablehnungen gegen den betroffenen Richter und die vier verbleibenden Richter, die über den Befangenheitsantrag gegen ihn entscheiden, eingebracht wurden. In einer solchen Situation kann es so gesehen werden, dass die übrigen Richter im Wesentlichen auch über den jeweiligen Antrag wegen Befangenheit gegen sich selbst entscheiden. Zum Zweiten muss die Untermauerung der Gründe für die fehlende Unparteilichkeit der Richter durch den Bf. berücksichtigt werden. Wenn ein Bf. seine Befangenheitsanträge auf allgemeine und abstrakte Gründe stützt, ohne Bezug auf spezielle und/oder maßgebliche Fakten zu nehmen, die vernünftige Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter aufwerfen können, können seine Anträge wegen Befangenheit als missbräuchlich eingestuft werden. Unter solchen Umständen wirft die Tatsache, dass Richter über die Befangenheitsanträge des Bf. entschieden, die selbst aus solchen Gründen abgelehnt worden waren, keine berechtigten Zweifel im Hinblick auf ihre Unparteilichkeit auf.

(79) Der GH beobachtet, dass die fünf Richter des Verfassungsgerichts im vorliegenden Fall teilweise aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt wurden (insbesondere, soweit ihre frühere Arbeit für die Regierung oder Universität oder in einer Anwaltskanzlei betroffen war) und teilweise aus identischen Gründen (insbesondere, weil sie bereits zuvor in verschiedenen Verfahren gegen den Bf. befunden hatten und aufgrund ihrer beruflichen Beziehung zum Bruder der Gegenpartei). Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Überlegungen befindet der GH, dass das vom Verfassungsgericht gewählte Verfahren, um die Anträge des Bf. abzuweisen, insbesondere insoweit eine Frage im Hinblick auf die Unparteilichkeit der Richter aufwarf, als sie alle über Anträge entschieden, die aus identischen Gründen gegen sie eingebracht wurden, und sie so dem Anschein nach im Wesentlichen Anträge ablehnten, die sie selbst betrafen. Der GH erwägt zudem, dass der Umstand, dass die Richter des Verfassungsgerichts trotz der Tatsache, dass sie vom Bf. abgelehnt worden waren und noch keine Entscheidung über den Befangenheitsantrag des Bf. gegen sie getroffen worden war, dennoch über die Befangenheitsanträge gegen andere Richter dieses Gerichts entschieden, weitere Zweifel an der Unparteilichkeit dieser Richter schüren konnte.

(80) Was die Untermauerung der Gründe für die fehlende Unparteilichkeit der Richter durch den Bf. anbelangt, bemerkt der GH zunächst allgemein, dass der Umstand, dass ein Bf. alle Richter des Gerichts, dem sein oder ihr Fall zugewiesen wurde, wegen Befangenheit ablehnt, als ein Versuch angesehen werden könnte, die Rechtspflege zu lähmen und daher Indiz für die missbräuchliche Natur des Befangenheitsantrags ist. Im vorliegenden Fall beobachtet er, dass der Bf. zahlreiche Gründe anführte, warum er die verschiedenen Richter des Verfassungsgerichts für befangen ansah. Unter den Umständen des Falles gibt sich der GH damit zufrieden, dass diese Gründe, die sich mehrheitlich auf die Beziehung der Richter zum Bf. oder zur Gegenpartei im gegenständlichen Verfahren bezogen und auch zwischen den fünf betroffenen Richtern unterschieden, immer noch ausreichend spezifisch waren und daher nicht als missbräuchlich oder belanglos eingestuft werden können. Er beobachtet in diesem Zusammenhang auch, dass das Verfassungsgericht [...] diese Anträge selbst nicht als missbräuchlich qualifiziert hatte.

(81) Der GH muss weiters auf das Erscheinungsbild achten, damit die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit das Vertrauen wecken, das unverzichtbar ist. Im vorliegenden Fall schufen die Richter des Verfassungsgerichts den Eindruck, dass sie selbst über den gegen sie gerichteten Befangenheitsantrag entschieden.

(82) Es trifft zu, dass Befangenheitsanträge nicht dazu führen dürfen, das Rechtssystem des belangten Staates zu lähmen. Dieser Aspekt hat besondere Bedeutung, wo letztinstanzliche Gerichte betroffen sind und wo über einen Befangenheitsantrag deshalb nicht durch das Berufungsgericht entschieden werden kann. Zusätzlich stimmt der GH dem Argument der Regierung zu, dass in kleinen Gerichtssystemen übermäßig strenge Standards im Hinblick auf Befangenheitsanträge die Rechtspflege ungebührlich behindern könnten.

(83) Im vorliegenden Fall wäre es dem Verfassungsgericht allerdings unter den anwendbaren Bestimmungen des Verfassungsgerichtsgesetzes möglich gewesen, über die Befangenheitsanträge in der Zusammensetzung von fünf Ersatzrichtern zu entscheiden und eine Ersatzbestellung vorzunehmen, sollten einer oder mehrere der Ersatzrichter ausscheiden müssen. Das Justizsystem des belangten Staates wäre daher bei einem Vorgehen im Einklang mit den in diesem Gesetz festgelegten Regeln nicht gelähmt worden.

(84) Im Lichte des Vorgesagten kommt der GH zum Schluss, dass die Zweifel des Bf. im Hinblick auf die Unparteilichkeit der fünf Richter des Verfassungsgerichts angesichts des Verfahrens, das sie wählten, um die Befangenheitsanträge des Bf. gegen sie abzulehnen, objektiv gerechtfertigt waren.

(85) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung der Konvention stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen immateriellen Schaden dar, welchen der Bf. erlitten hat. € 1.520,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Campbell und Fell/GB v. 28.6.1984 = EuGRZ 1985, 534

Gillow/GB v. 24.11.1986

Debled/B v. 22.9.1994 = ÖJZ 1995, 198

Micallef/M v. 15.10.2009 (GK) = NL 2009, 294

Imobilije Marketing d. o. o. und Ivan Debelic/HR v. 3.5.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.7.2015, Bsw. 38191/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 324) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/A.K.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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