JudikaturJustizBsw37971/97

Bsw37971/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. April 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Stés Colas u.a. gegen Frankreich, Urteil vom 16.4.2002, Bsw. 37971/97.

Spruch

Art. 8 EMRK - Untersuchung in Geschäftsräumlichkeiten einer Baugesellschaft und Recht auf Achtung der Wohnung.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Jeweils EUR 5.000,- für immateriellen Schaden; jeweils EUR 6.700,-, EUR 10.200,- und EUR 4.400,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1985 wurde der Zentralverwaltung von der nationalen Gewerkschaft der Bauunternehmer das Bestehen bestimmter unerlaubter Geschäftspraktiken unter Straßenbaufirmen der öffentlichen Hand angezeigt. Sie beauftragte hierauf die Generaldirektion für Wettbewerb, Verbrauch und Ahndung von Wettbewerbsverstößen (im Folgenden: GWVA) mit der Durchführung einer großangelegten Untersuchung. Dem Schreiben beigefügt war eine Liste derjeniger Baufirmen, deren Geschäftssitze bzw. Filialen aufgesucht werden sollten, darunter auch die drei Bf. Am 19.11.1985 bzw. 15.10.1986 führten Prüfungsorgane der GWVA, jeweils zur selben Zeit und ohne Einverständnis der Firmenverantwortlichen, eine Untersuchung in den Geschäftsräumlichkeiten von insgesamt 56 Baufirmen durch. Es wurden mehrere tausend Dokumente beschlagnahmt, welche die Existenz von illegalen Geschäftsabsprachen beweisen sollten. Bei ihrem Einschreiten beriefen sich die Kontrollorgane auf die damals in Geltung stehende Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 betreffend die Feststellung, Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen die Wirtschaftsgesetze, die keinerlei richterliche Genehmigung für die Vornahme derartiger Untersuchungen vorsah.

In der Folge informierte der Wirtschaftsminister den „Rat für Wettbewerbsangelegenheiten" über die Auswertung der Firmenunterlagen, die auf gemeinsame Absprachen unter verschiedenen Bauunternehmen, auf einen fingierten Wettbewerb unter den Straßenbaufirmen und auf wettbewerbseinschränkende Vereinbarungen hindeuten würden. Die GWVA gab ebenfalls eine Stellungnahme ab. Unter der Auflistung der davon betroffenen Firmen befanden sich auch jene der Bf.

Mit Entscheidung vom 25.10.1989 verhängte der „Rat für Wettbewerbsangelegenheiten" über die Bf. Geldstrafen von jeweils mehreren Millionen Francs wegen unerlaubter Geschäftspraktiken. Ein Rechtsmittel an das Gericht 2. Instanz blieb erfolglos. Die Bf. wandten sich darauf an das Höchstgericht. Dieses hob die Entscheidung wegen materieller Rechtsmängel auf und verwies die Sache an die zuständige Kammer des Gerichts 2. Instanz in neuer Zusammensetzung zurück.

Die Bf. behaupteten, dass die Untersuchung selbst und die Beschlagnahme der Unterlagen in ihren Geschäftsräumlichkeiten unrechtmäßig gewesen und in Verletzung des Art. 8 EMRK erfolgt wäre. Die GWVA räumte zwar ein, dass die gemäß der Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 durchgeführte Untersuchung einer vorherigen Genehmigung durch das Gericht iSd. EMRK bedurft hätte, ferner die Beschlagnahme durch Kontrollorgane der GWVA insofern über das eigentliche Ziel der Operation hinausgegangen wäre, als auch Unterlagen mitgenommen worden wären, auf die sich der Untersuchungsauftrag nicht ausdrücklich bezogen hätte. Andererseits regle Art. 15 der erwähnten Verordnung präzise die Voraussetzungen, unter welchen die Prüfungsorgane Einsicht in den Schriftverkehr, in welchen Händen auch immer, nehmen dürften; dies gelte auch für die Beschlagnahme von Unterlagen jeglicher Art, welche die Erfüllung der Prüfungstätigkeit erleichtern könnten. Die Besonderheit dieses Verfahrens liege in der Tatsache, dass – entgegen den mittlerweile in Art. 48 der Verordnung Nr. 86-1243 vom 1.12.1986 enthaltenen Vorgaben – die Untersuchungen nicht unter ständiger richterlicher Kontrolle durchgeführt würden. Aus den der Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 zugrundeliegenden Bestimmungen gehe hervor, dass die Prüfungsorgane im Rahmen ihres behördlichen Auftrags mit Besuchs- und Beschlagnahmebefugnissen ausgestattet seien. Der eingangs zitierte Art. 15 der Verordnung sei iZm. Art. 16 zu sehen, wonach den Kontrollorganen freier Zugang zu den Räumlichkeiten zu gewähren sei.

In seinem Urteil vom 4.7.1994 schloss sich das Gericht 2. Instanz im Wesentlichen dem rechtlichen Standpunkt der Gegenseite an. Es hielt abschließend fest, dass von einem Eingriff in Privatleben und Wohnung der Bf. insofern nicht die Rede sein könne, als im Zuge der behördlichen Untersuchung gar keine Hausdurchsuchung erfolgt sei. Ein Rechtsmittel der Bf. an das Höchstgericht blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung der Wohnung gemäß Art. 8 EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den Urteilen Funke/F, Crémieux/F und Miailhe/F insofern, als es sich bei den nunmehrigen Bf. um juristische Personen handelt. Der Begriff „Wohnung" ist jedenfalls weit auszulegen und kann zB. auch das Büro oder die Räumlichkeiten von Personen, die einen freien Beruf ausüben, umfassen. Der GH hat bereits in seinem Urteil Chappel/GB festgestellt, dass eine Hausdurchsuchung in einer Wohnung einer natürlichen Person, in der sich gleichzeitig auch die Geschäftsräumlichkeiten befinden, einen Eingriff in das Recht auf Achtung der Wohnung iSd. Art. 8 EMRK darstellen kann. Der GH erinnert daran, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, dass im Lichte der gegenwärtigen Lebensbedingungen auszulegen ist. Dass auch Gesellschaften Rechte nach der Konvention zukommen, hat der GH bereits in seinem Urteil Comingersoll/P v. 6.4.2000 festgestellt, in dem er das Recht auf Entschädigung für immateriellen Schaden (Art. 41 EMRK), den eine Gesellschaft wegen Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer (Art. 6 (1) EMRK) erlitten hatte, anerkannt hat. In Fortführung einer dynamischen Auslegung der Konvention ist es an der Zeit anzuerkennen, dass unter gewissen Umständen die durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte im Fall von Gesellschaften auch ein Recht auf Achtung ihres Firmensitzes, ihrer Zweigstellen und ihrer Geschäftsräumlichkeiten beinhalten. Im vorliegenden Fall begaben sich Organe der GWVA im Zuge einer großangelegten behördlichen Untersuchung in die Firmensitze und in die Geschäftsräumlichkeiten der Bf. und beschlagnahmten dort zahlreiche Unterlagen. Die Reg. hat das Vorliegen eines Eingriffes nicht abgestritten, jedoch die Auffassung vertreten, dass die Bf. sich nicht auf einen Schutz ihrer Geschäftsräumlichkeiten im selben Ausmaß berufen könnten wie Privatpersonen hinsichtlich ihrer Wohnung, in der sie auch ihren Beruf ausüben. Es ist somit zu prüfen, ob der Eingriff iSv. Art. 8 (2) EMRK gerechtfertigt war. Dieser war durch Art. 15 und 16 der Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich das wirtschaftliche Wohl des Landes und die Verhinderung von strafbaren Handlungen. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die Reg. legt dar, dass den Prüfungsorganen gemäß der Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 lediglich ein Recht auf Einsichtnahme in die Unterlagen, mit einer zusätzlichen Befugnis der Beschlagnahme, eingeräumt war und weder der „Besuch einer Wohnung" noch eine „Hausdurchsuchung" stattgefunden hätte. Die Ausübung der Befugnisse seitens der Prüfungsorgane sei zwar nicht einer vorherigen richterlichen Genehmigung unterworfen gewesen, jedoch Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung im Nachhinein. Der Eingriff sei nicht unverhältnismäßig gewesen und habe sich innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums bewegt, der bei Geschäftsräumlichkeiten oder bezüglich Tätigkeiten iZm. der Berufsausübung generell größer zu bemessen sei.

Der GH stellt fest, dass die Prüfungsorgane im Zuge der von den Behörden angeordneten Operation die Firmensitze bzw. Geschäftslokale der Bf. ohne gerichtliche Genehmigung aufsuchten und dort zahlreiche Unterlagen zu Beweiszwecken beschlagnahmten. Von der Art und Weise her, wie diese Operation erfolgte, kann ohne weiteres von einem Eindringen in die „Wohnung" der Bf. ausgegangen werden. Nach st. Rspr. genießen die Konventionsstaaten in der Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs einen gewissen Ermessensspielraum, der jedoch europäischen Standards zu folgen hat. Die Ausnahmen, die Art. 8 (2) EMRK in solchen Fällen vorsieht, sind eng auszulegen und ihre Notwendigkeit muss sich in einer zwingenden Art und Weise niederschlagen. Geht man davon aus, dass der Zweck der Operation, nämlich der Entfernung oder Verschleierung von Beweismaterial über wettbewerbsschädigende Geschäftspraktiken zuvorzukommen, die gerügten Eingriffe in die Wohnungen der Bf. gerechtfertigt hätte, so hätten Gesetzgebung und Praxis angemessene und ausreichende Garantien gegen allfälligen Missbrauch vorsehen müssen.

Dies war jedoch nicht der Fall. Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt verfügten die zuständigen Behörden gemäß der Verordnung Nr. 45-1484 vom 30.6.1945 über weitreichende Befugnisse, die es ihnen gestatteten, Zeitpunkt, Zahl, Dauer und Umfang der Operationen selbständig festzulegen. Dazu kommt, dass die gerügten Operationen ohne vorherigen richterlichen Auftrag und ohne Beisein eines Gerichtsbeamten stattfanden. Der Umstand, dass im Zuge gesetzgeberischer Reformen im Jahr 1986 Untersuchungen seitens der Prüfungsorgane nunmehr einer vorherigen gerichtlichen Genehmigung bedürfen, vermag an dieser Beurteilung nichts zu ändern. Die gerügten Operationen waren somit unverhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Jeweils EUR 5.000,-- für immateriellen Schaden; jeweils EUR 6.700,--,

EUR 10.200,-- und EUR 4.400,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Chappel/GB v. 30.3.1989, A/152-A.

Niemitz/D v. 16.12.1992, A/251-B (= NL 1993/1, 17 = ÖJZ 1993, 389 =

EuGRZ 1993, 65).

Funke,/F Crémieux/F, Miailhe/F, jeweils v. 25.2.1993, A/256-A-C (=

ÖJZ 1993, 532, 534).

Comingersoll S.A./P v. 6.4.2000.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.4.2002, Bsw. 37971/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 88) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_3/Stes_Colas.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.