JudikaturJustizBsw35354/04

Bsw35354/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. April 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Abrahamian gegen Österreich, Urteil vom 10.4.2008, Bsw. 35354/04.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Recht auf öffentliche Verhandlung vor dem VwGH. Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der sonstigen behaupteten

Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist sowohl selbständig als auch unselbständig als Ärztin tätig. Als Mitglied der Ärztekammer Wien ist sie verpflichtet, Beiträge zu deren Wohlfahrtsfonds zu leisten.

Mit Bescheid vom 28.4.2000 setzte der Verwaltungsausschuss des Wohlfahrtsfonds unter Anwendung des in den Statuten vorgesehenen Beitragssatzes von 15,8 % ihren für das Jahr 1999 zu leistenden Beitrag fest. In ihrer dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Bf. vor, die Berechnung sei falsch und die Pflicht zur Beitragsleistung verfassungswidrig. Der Beschwerdeausschuss der Ärztekammer wies die Beschwerde am 20.7.2000 ab.

Gegen diesen Bescheid erhob die Bf. Beschwerde an den VfGH. Dieser lehnte am 26.6.2002 die Behandlung der Beschwerde wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg ab und trat sie dem VwGH zur Behandlung ab. Der VwGH hob den Bescheid am 23.5.2003 wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften auf und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung an den Beschwerdeausschuss der Ärztekammer zurück. Am 25.10.2003 wies der Beschwerdeausschuss die Beschwerde neuerlich ab. Daraufhin erhob die Bf. eine weitere Beschwerde an den VwGH und beantragte eine öffentliche Verhandlung. Am 15.3.2004 begehrte sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Klärung der europarechtlichen Zulässigkeit der Zwangsmitgliedschaft zum Wohlfahrtsfonds. Der VwGH hatte jedoch bereits am 27.2.2004 die Beschwerde abgewiesen, ohne eine öffentliche Verhandlung durchgeführt zu haben.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf eine öffentliche Verhandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Wie der GH feststellt, ist die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet, noch liegt ein anderer Unzulässigkeitsgrund vor. Die Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig). Der GH erinnert daran, dass er den Vorbehalt Österreichs zu Art. 6 EMRK für ungültig erklärt hat und er daher zu prüfen hat, ob den Anforderungen dieser Bestimmung entsprochen wurde.

Der GH ruft auch in Erinnerung, dass die Bf. grundsätzlich ein Recht auf eine öffentliche Verhandlung hatte und stellt fest, dass nur der VwGH als Tribunal anzusehen ist. In Verfahren, die ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen betreffen, können die Anforderungen des Art. 6 EMRK auch im Falle des Fehlens einer öffentlichen Verhandlung erfüllt sein.

Es entspricht der Praxis des VwGH, die Parteien nicht anzuhören, solange es nicht eine von ihnen beantragt. Die Bf. beantragte ausdrücklich eine mündliche Verhandlung vor dem VwGH, die ohne ausdrückliche Begründung verweigert wurde. Es steht daher außer Zweifel, dass die Bf. nicht auf dieses Recht verzichtet hat. Überdies scheinen keine außergewöhnlichen Umstände vorgelegen zu haben, die ein Absehen von einer Verhandlung rechtfertigen hätten können. Der VwGH war der erste und einzige gerichtliche Spruchkörper, vor den der Fall der Bf. gebracht wurde. Er war in der Lage, die Beschwerde in der Sache zu prüfen. Die Überprüfung betraf nicht nur Rechts-, sondern auch wichtige Sachfragen. Das Recht der Bf. auf eine öffentliche Verhandlung umfasste daher auch einen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung.

Daher liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Zu den sonstigen behaupteten Verletzungen:

Die Bf. bringt vor, das Verfahren habe unverhältnismäßig lange gedauert und sei nicht fair gewesen, weil der VwGH kein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet habe. Außerdem würde die Beitragspflicht zum Wohlfahrtsfonds ihr Recht auf Achtung des Eigentums verletzen.

Der GH sieht keine Anzeichen für eine Verletzung eines Konventionsrechts. Dieser Teil der Beschwerde ist daher als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zgraggen/CH v. 24.6.1993, A/263; NL 1993/4, 30; EuGRZ 1996,

604; ÖJZ 1994, 138.

Fischer/A v. 26.4.1995, A/312; NL 1995, 87; ÖJZ 1995, 633. Eisenstecken/A v. 3.10.2001; ÖJZ 2001, 194.

Schelling/A v. 10.11.2005; NL 2005, 277; ÖJZ 2006, 472.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.4.2008, Bsw. 35354/04 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 94) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_2/Abrahamian.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.