JudikaturJustizBsw33509/04

Bsw33509/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. Januar 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Burdov gegen Russland (Nr. 2), Urteil vom 15.1.2009, Bsw. 33509/04.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 46 EMRK, Art. 1 1. Prot EMRK - Strukturelle Probleme bei der Vollstreckung von Urteilen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 EMRK und von Art. 1 1. Prot. EMRK wegen der verspäteten Vollstreckung von drei Urteilen des Stadtgerichts Shakhty (jeweils einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK oder Art. 1 1. Prot. EMRK wegen der Vollstreckung von zwei weiteren Urteilen des Stadtgerichts Shakhty (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verpflichtung Russlands nach Art. 46 EMRK, einen den in diesem Urteil dargelegten Grundsätzen entsprechenden Rechtsbehelf einzuführen.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 6.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl von der Armee zu Rettungsarbeiten herangezogen, wobei er massiver radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurde. Aufgrund der dadurch erlittenen Schädigungen hat er Anspruch auf verschiedene Sozialleistungen. Da die Behörden diese Leistungen nicht in voller Höhe und nicht zeitgerecht auszahlten, brachte der Bf. ab 1997 eine Reihe von Klagen ein. Zwar gaben die russischen Gerichte diesen wiederholt statt, doch blieb eine Reihe ihrer Urteile unterschiedlich lange unvollstreckt.

Am 20.3.2000 erhob der Bf. daher eine erste Beschwerde an den EGMR. Dieser stellte in seinem Urteil Burdov/RUS vom 7.5.2002 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK fest, weil es die Behörden jahrelang verabsäumt hatten, einige der zugunsten des Bf. ergangenen Urteile zu vollstrecken. Das Ministerkomitee stellte in einer Resolution vom 22.12.2004 fest, dass die russische Regierung diesem Urteil entsprochen hat.

Am 17.4.2003 verurteilte das Stadtgericht Shakhty das Direktorium für Arbeit und Soziale Entwicklung zur Zahlung von RUB 15.984,80 an den Bf. als Entschädigung für die verspätete Auszahlung seiner Beihilfen. Nach Abweisung eines Rechtsmittels wurde das Urteil am 9.7.2003 rechtskräftig. Erst am 19.8.2005 wurde der Betrag an den Bf. überwiesen.

Mit einem weiteren Urteil vom 4.12.2003 wurde das Direktorium für Arbeit und Soziale Entwicklung verpflichtet, RUB 68.463,54 als Zinsen für verspätete Zahlungen an den Bf. zu leisten. Das Urteil wurde am 15.12.2003 rechtskräftig. Am 18.10.2006 erhielt der Bf. eine entsprechende Zahlung.

Am 24.3.2006 ordnete das Stadtgericht Shakhty eine Inflationsanpassung der monatlichen Beihilfen des Bf. und eine Einmalzahlung zum Ausgleich für zu geringe Überweisungen in der Vergangenheit an. Das Urteil erlangte am 22.5.2006 Rechtskraft. Am 2.11.2006 wurde dem Bf. ein Teil der ihm zugesprochenen Summe überwiesen. Erst ab 1.7.2007 wurden auch seine monatlichen Bezüge mit der zugesprochenen Erhöhung ausbezahlt. Am 17.8.2007 wurde ihm eine Entschädigung für die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten Kürzungen seiner Bezüge überwiesen.

Mit zwei Urteilen vom 22.5. bzw. 21.8.2007 verurteilte das Stadtgericht Shakhty das Direktorium für Arbeit und Soziale Entwicklung zur Zahlung weiterer Entschädigungen an den Bf. für gesundheitliche Schädigungen bzw. für unrechtmäßige Kürzungen früherer Zahlungen. Beide Urteile wurden Anfang Dezember 2007 vollstreckt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK:

Der Bf. rügt das anhaltende Versäumnis der Behörden, rechtskräftige Urteile zu seinen Gunsten zu vollstrecken.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, der Bf. könne nicht länger behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, da er eine Entschädigung für die verspätete Vollstreckung der Urteile in Form einer weiteren Inflationsanpassung erhalten habe.

Der GH stellt dazu fest, dass die Konventionsverletzung in den von der Regierung angeführten Entscheidungen nicht ausdrücklich anerkannt wurde. Die dem Bf. zugesprochene Entschädigung deckte nur die inflationsbedingten Verluste, nicht aber weitere vom Bf. erlittene materielle oder immaterielle Schäden.

Da dem Bf. daher keine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung in Hinblick auf die behaupteten Konventionsverletzungen geleistet wurde, kann er weiterhin behaupten, Opfer iSv. Art. 34 EMRK zu sein.

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Was die behauptete Verletzung von Art. 14 EMRK betrifft, weist der GH die Beschwerde als unzulässig zurück (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Es ist unbestritten, dass die fünf Urteile zwar vollstreckt wurden, jedoch mit gewissen Verspätungen. Der GH hat lediglich zu entscheiden, ob diese Verzögerungen die Konvention verletzten.

Das Urteil des Stadtgerichts Shakhty vom 17.4.2003 wurde am 9.7.2003 rechtskräftig und vollstreckbar. Ab diesem Zeitpunkt war die verurteilte Behörde verpflichtet, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die erforderlichen Mittel zur Begleichung der staatlichen Schuld verfügbar gemacht wurden. Der Bf. erhielt die Zahlung am 19.8.2005. Es dauerte somit zwei Jahre und ein Monat, bis das Urteil vollstreckt wurde. Eine so lange Verzögerung ist auf den ersten Blick unvereinbar mit der Konvention und der GH sieht keine Umstände, die sie rechtfertigen würden. Der Staat hat es daher verabsäumt, das Urteil vom 17.4.2003 innerhalb angemessener Zeit zu vollstrecken.

Das Urteil vom 4.12.2003 wurde am 15.12.2003 rechtskräftig und am 18.10.2006 vollstreckt. Diese lange Verzögerung reicht für den GH aus, um eine Verletzung des Rechts auf Vollstreckung innerhalb angemessener Zeit festzustellen.

Unbestritten ist, dass das Urteil vom 24.3.2006, das am 22.5.2006 Rechtskraft erlangte, am 2.11.2006 vollstreckt wurde, allerdings nur zum Teil. Die vollständige Umsetzung erfolgte erst am 17.8.2007. Das ein Jahr und drei Monate andauernde Versäumnis der Behörden, das Urteil zu vollstrecken, verletzte ebenfalls das Recht des Bf. auf Zugang zu einem Gericht.

Der GH gelangt zu dem Schluss, dass die verspätete Vollstreckung dieser drei Urteile des Stadtgerichts Shakhty eine Verletzung von Art. 6 EMRK begründet (einstimmig). Da die rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteile ein Recht auf Zahlung zugunsten des Bf. schufen, das als „Eigentum" iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK anzusehen ist, begründet das anhaltende Versäumnis, den Urteilen zu entsprechen, auch eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Was die im Dezember 2007 vollstreckten Urteile vom 22.5. bzw. 21.8.2007 betrifft, erscheinen dem GH die von den Behörden zur Vollstreckung benötigten drei bzw. sechs Monate nicht unverhältnismäßig. In Hinblick auf diese Urteile stellt der GH keine Verletzung von Art. 6 EMRK oder Art. 1 1. Prot. EMRK fest (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. hat das Fehlen einer wirksamen innerstaatlichen Beschwerde nicht geltend gemacht. Dennoch stellt der GH fest, dass in Fällen, die eine fehlende oder verspätete Vollstreckung innerstaatlicher Urteile betreffen, vermehrt die Ineffektivität innerstaatlicher Rechtsbehelfe behauptet wurde. Er hat daher aus eigenem entschieden, diese Frage im vorliegenden Fall unter Art. 13 EMRK zu prüfen.

1. Allgemeine Grundsätze:

Der von Art. 13 EMRK geforderte Rechtsbehelf muss in dem Sinn effektiv sein, dass er entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortsetzung verhindert oder angemessene Wiedergutmachung für eine bereits geschehene Verletzung bietet.

In Verfahrensdauerfällen besteht die effektivste Lösung in einem Rechtsbehelf, der eine Beschleunigung des Verfahrens ermöglicht, um eine überlange Dauer zu verhindern. Ähnlich dazu ist in Fällen betreffend die fehlende Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen jedes innerstaatliche Mittel zur Verhütung einer Verletzung durch die Sicherstellung einer rechtzeitigen Vollstreckung im Prinzip von größtem Wert. Wenn ein Urteil zugunsten einer Person gegen den Staat ergeht, sollte der Begünstigte jedoch grundsätzlich nicht gezwungen sein, solche Mittel zu ergreifen. Die Pflicht, einem solchen Urteil zu entsprechen, liegt in erster Linie bei den Behörden, die alle verfügbaren Mittel ergreifen sollten, um die Vollstreckung zu beschleunigen und damit Konventionsverletzungen zu vermeiden.

Es steht den Staaten frei, auch einen nur kompensatorischen Rechtsbehelf einzuführen. In diesem Fall steht den Staaten ein weiterer Ermessensspielraum zu. Der GH hat für die Prüfung der Effektivität eines kompensatorischen Rechtsbehelfs in Bezug auf die überlange Dauer gerichtlicher Verfahren folgende Schlüsselkriterien entwickelt, die auch in Fällen betreffend die fehlende Vollstreckung anwendbar sind: über einen Antrag auf Entschädigung muss in angemessener Frist entschieden werden; die Entschädigung muss rasch ausgezahlt werden; das Verfahren muss den Grundsätzen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen; die Verfahrenskosten dürfen dem Antragsteller keine unverhältnismäßige Bürde auferlegen; die Höhe der Entschädigung darf nicht unverhältnismäßig in Relation zu den vom GH in ähnlichen Fällen zugesprochenen Entschädigungen sein. Zum letzten Kriterium stellt der GH fest, dass eine besonders starke Vermutung dafür spricht, dass exzessive Verzögerungen bei der Vollstreckung von gegen den Staat ergangenen Urteilen immateriellen Schaden verursachen.

2. Anwendung im vorliegenden Fall:

a) Präventive Rechtsbehelfe:

Wie der GH bereits in einigen Fällen festgestellt hat, bestand im russischen Rechtssystem kein präventiver Rechtsbehelf, der die Vollstreckung eines gegen den Staat ergangenen Urteils beschleunigen hätte können.

Auch der vorliegende Fall zeigt deutlich die Unfähigkeit der Vollstreckungsbeamten, die Vollstreckung der zugunsten des Bf. ergangenen Urteile in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Auch die übrigen von der Regierung angeführten Rechtsbehelfe erachtet der GH nicht als geeignet, eine Verletzung durch die fehlende Vollstreckung eines gegen den Staat ergangenen Urteils wirksam zu verhindern.

b) Kompensatorische Rechtsbehelfe:

Die Regierung hat hinsichtlich der Entschädigung für materiellen Schaden auf zwei Rechtsbehelfe verwiesen, die in Art. 395 des Zivilgesetzbuchs bzw. in Art. 208 des Zivilverfahrensgesetzes vorgesehen sind. Was ersteren betrifft, stellt der GH fest, dass seine Anwendung von einem schuldhaften Verhalten des Schuldners abhängig ist. Ein solcher Rechtsbehelf ist nach Ansicht des GH in Fällen fehlender Vollstreckung von Urteilen durch den Staat nicht praktikabel.

Der in Art. 208 des Zivilverfahrensgesetzes vorgesehene Rechtsbehelf ermöglicht eine angemessene Entschädigung für Verluste, die zwischen der Rechtskraft eines Urteils und der Auszahlung des zugesprochenen Betrags durch die Inflation eingetreten sind. Im vorliegenden Fall wurde dem Bf. bei mehreren Gelegenheiten eine solche Entschädigung zugesprochen. Ihre Auszahlung wurde jedoch verzögert, wodurch die Effektivität des Rechtsmittels untergraben wurde. Der GH erinnert daran, dass solche Zahlungen im Allgemeinen binnen sechs Monaten erfolgen sollten. Er ist nicht davon überzeugt, dass diesem Erfordernis in Hinblick auf die Zahlung von Entschädigungen nach Art. 208 des Zivilverfahrensgesetzes systematisch entsprochen wird. Überdies kann dieser Rechtsbehelf für sich alleine keine ausreichende Wiedergutmachung bieten, da er nur Schäden kompensieren kann, die aus der Geldentwertung resultieren.

Zu dem in Kapitel 59 des Zivilgesetzbuchs vorgesehenen Rechtsbehelf für die Erlangung einer Entschädigung für immateriellen Schaden stellt der GH fest, dass dieser keine ausreichenden Erfolgsaussichten bot, weil er von der Feststellung eines Verschuldens der Behörde abhängig war. Diese Bedingung ist schwer zu vereinbaren mit der Vermutung, dass eine exzessive Verzögerung bei der Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils einen immateriellen Schaden nach sich zieht.

c) Schlussfolgerung:

Der GH gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass kein wirksamer präventiver oder kompensatorischer Rechtsbehelf existierte, der eine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung für Verletzungen der Konvention durch anhaltende Nicht-Vollstreckung gegen den Staat ergangener gerichtlicher Entscheidungen ermöglicht hätte. Daher liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 46 EMRK:

Die fehlende oder verspätete Vollstreckung innerstaatlicher Urteile stellt ein wiederkehrendes Problem in Russland dar, das zu zahlreichen Konventionsverletzungen geführt hat. Der GH hat seit der ersten derartigen Feststellung 2002 im Fall Burdov in mehr als 200 Urteilen solche Verletzungen festgestellt. Es ist daher angebracht und an der Zeit, diesen zweiten, vom selben Bf. vor den GH gebrachten Fall unter Art. 46 EMRK zu behandeln.

1. Allgemeine Grundsätze:

Um die wirksame Umsetzung seiner Urteile zu erleichtern, kann der GH ein Piloturteilsverfahren durchführen, um in einem Urteil das Bestehen struktureller Probleme deutlich zu benennen, die der Verletzung zugrunde liegen, und um spezifische Maßnahmen oder Handlungen vorzuschlagen, welche von der belangten Regierung zu ihrer Behebung ergriffen werden sollten.

Ein weiteres wichtiges Ziel des Piloturteilsverfahrens besteht darin, den belangten Staat dazu zu bewegen, eine große Zahl individueller Fälle, die auf demselben strukturellen Problem beruhen, auf innerstaatlicher Ebene einer Lösung zuzuführen.

2. Anwendung im vorliegenden Fall:

a) Anwendung des Piloturteilsverfahrens:

Der vorliegende Fall unterscheidet sich insofern von früheren Pilotfällen (Broniowski/PL, Hutten-Czapska/PL), als Personen in der gleichen Position wie der Bf. nicht unbedingt zu einer „identifizierbaren Gruppe von Bürgern" gehören. Überdies waren die genannten Urteile die ersten, in denen neue strukturelle Probleme aufgezeigt wurden, die zahlreichen ähnlichen Folgefällen zugrunde lagen, während der vorliegende Fall behandelt wird, nachdem bereits rund 200 Urteile ergangen sind, die das Problem der fehlenden Vollstreckung in Russland bereits ausreichend deutlich gemacht haben. Ungeachtet dieser Unterschiede hält es der GH angesichts der wiederkehrenden und anhaltenden Natur der dem vorliegenden Fall zugrunde liegenden Probleme, der großen Zahl betroffener Personen und der dringenden Notwendigkeit, ihnen rasche und angemessene Wiedergutmachung auf innerstaatlicher Ebene zu gewähren, für angemessen, das Piloturteilsverfahren anzuwenden.

b) Bestehen einer konventionswidrigen Praxis:

Die im vorliegenden Urteil festgestellten Verletzungen waren Konsequenz von Mängeln in der Gesetzgebung bzw. Versäumnissen in der Verwaltung der Behörden bei der Exekution vollstreckbarer Urteile, mit denen staatliche Behörden zu Zahlungen verurteilt wurden. Auf dieses Problem wurde bereits wiederholt vom Ministerkomitee hingewiesen. Der GH kann auch die Tatsache nicht ignorieren, dass rund 700 ähnliche Fälle vor ihm anhängig sind und einige davon, wie der vorliegende, zu einer zweiten Feststellung von Konventionsverletzungen in Hinblick auf denselben Bf. führen.

Diese Verletzungen spiegeln daher eindeutig eine weiterhin bestehende strukturelle Fehlfunktion wider. Der GH qualifiziert die vorliegende Situation daher als konventionswidrige Praxis.

c) Generelle Maßnahmen:

Die der Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK zugrunde liegenden Probleme erfordern die Verabschiedung umfassender und komplexer Maßnahmen, möglicherweise legislativer und administrativer Art. Es steht dem belangten Staat frei, welche Mittel er wählt, um seine Verpflichtungen nach Art. 46 EMRK zu erfüllen, solange diese mit den Schlussfolgerungen dieses Urteils vereinbar sind.

Dieser Prozess wirft eine Reihe komplexer rechtlicher und praktischer Fragen auf, die über die gerichtliche Funktion des GH hinausgehen. Er wird daher davon absehen, spezifische generelle Maßnahmen vorzuschlagen. Das Ministerkomitee ist in dieser Hinsicht besser geeignet, die notwendigen Reformen in Russland zu überwachen. Der GH überlässt es daher diesem sicherzustellen, dass Russland die notwendigen Maßnahmen trifft.

Die Situation ist jedoch anders in Hinblick auf die Verletzung von Art. 13 EMRK. Die Feststellungen des GH erfordern eindeutig die Einführung eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs, der eine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung ermöglicht. Es erscheint unwahrscheinlich, dass dies ohne Änderung der innerstaatlichen Rechtslage möglich sein wird. Der GH verweist in dieser Hinsicht auf ein Urteil des russischen Verfassungsgerichtshofs, mit dem dieser 2001 eine entsprechende Gesetzesänderung anregte, und eine Gesetzesinitiative des Obersten Gerichtshofs.

Der GH gelangt zu dem Schluss, dass der belangte Staat einen Rechtsbehelf einführen muss, der eine wirksame Wiedergutmachung für die durch das Versäumnis der Behörden, gerichtliche Entscheidungen zu vollstrecken, begründeten Konventionsverletzungen sicherstellt. Ein solcher Rechtsbehelf muss den im vorliegenden Urteil dargelegten Grundsätzen der Konvention entsprechen und binnen sechs Monaten nach dessen Rechtskraft verfügbar sein.

d) In ähnlichen Fällen zu leistende Wiedergutmachung:

Der GH wird die Verfahren über alle neuen Beschwerden aussetzen, die nach dem vorliegenden Urteil erhoben werden und nur die fehlende oder verspätete Vollstreckung innerstaatlicher Urteile betreffen, mit denen eine Zahlung durch staatliche Behörden angeordnet wurde. Die Unterbrechung wird für ein Jahr ab Rechtskraft dieses Urteils gelten.

Hinsichtlich der bereits anhängigen Beschwerden wird der GH anders vorgehen. Es wäre unfair, diese Bf. zu zwingen, ihre Ansprüche wiederum vor den innerstaatlichen Behörden geltend zu machen. Der belangte Staat muss daher binnen einem Jahr ab Rechtskraft dieses Urteils allen Opfern, deren Beschwerden vor Erlass des vorliegenden Urteils eingebracht und der Regierung zur Stellungnahme übermittelt wurden, angemessene und ausreichende Wiedergutmachung leisten. Dies sollte durch die Einführung eines Rechtsbehelfs durch die Behörden propriu motu oder durch ad hoc-Lösungen wie gütliche Einigungen oder einseitige Angebote erfolgen.

Die Einführung innerstaatlicher Maßnahmen zur Wiedergutmachung abwartend, beschließt der GH, die Verfahren in all diesen Fällen für ein Jahr ab Rechtskraft dieses Urteils auszusetzen (einstimmig). Dies ändert nichts an der Befugnis des GH, solche Beschwerden jederzeit für unzulässig zu erklären oder in Folge einer gütlichen Einigung oder einer auf anderem Wege erfolgten Lösung der Streitigkeit aus dem Register der anhängigen Fälle zu streichen.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 6.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kudla/PL v. 26.10.2000 (GK), NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908.

Burdov/RUS v. 7.5.2002, NL 2002, 94.

Broniowski/PL v. 22.6.2004 (GK), NL 2004, 135; EuGRZ 2004, 472; ÖJZ 2006, 130.

Scordino/I (Nr. 1) v. 29.3.2006 (GK), NL 2006, 83; ÖJZ 2007, 382.

Hutten-Czapska/PL v. 19.6.2006 (GK), NL 2006, 144.

Wasserman/RUS (Nr. 2) v. 10.4.2008, NL 2008, 91.

Moroko/RUS v. 12.6.2008.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.1.2009, Bsw. 33509/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 17) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Burdov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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