JudikaturJustizBsw30457/06

Bsw30457/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Robathin gg. Österreich, Urteil vom 3.7.2012, Bsw. 30457/06.

Spruch

Art. 8 EMRK, § 151 StPO - Durchsuchung der Dateien eines beschuldigten Anwalts.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,- für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Rechtsanwalt und betreibt gemeinsam mit einem Partner eine Anwaltskanzlei in Wien. Im Jahr 2005 eröffnete das LG für Strafsachen Wien gegen den Bf. und andere Personen ein Verfahren wegen des Verdachts des schweren Diebstahls, des schweren Betrugs und der Unterschlagung.

Am 21.2.2006 stellte der Untersuchungsrichter einen Durchsuchungsbefehl für die Geschäftsräume des Bf. aus. Darin genehmigte er die Durchsuchung und Beschlagnahme von »Dokumenten, PCs und anderen Speichermedien, Sparbüchern, Bankunterlagen, Schenkungsurkunden und Testamenten zugunsten von Dr. Heinz Robathin und jegliche Unterlagen betreffend R. oder G.« In der Begründung des Durchsuchungsbefehls wurde angegeben, dass der Bf. im Verdacht stehe, Möbel, Bilder und Silber im Wert von über € 50.000,–, die im Besitz von Herrn R. standen, zu seiner persönlichen Bereicherung an sich genommen zu haben. Weiters bestand der Verdacht, dass der Bf. Herrn G. überredet hatte, eine Vereinbarung über einen besicherten Kredit in der Höhe von € 150.000,– zu unterzeichnen, den G. jedoch nie erhalten habe. Darüber hinaus wurde dem Bf. vorgeworfen, die ihm von Herrn R. übertragene Vollmacht missbraucht zu haben, um Überweisungen zu tätigen, die Herrn R. einen Schaden von über € 50.000,– verursachten.

Die Durchsuchung der Geschäftsräume des Bf. wurde am 21.2.2006 von Beamten des Innenministeriums durchgeführt. Dabei waren der Bf., sein Verteidiger und ein Vertreter der Wiener Rechtsanwaltskammer anwesend. Bei der Durchsuchung des Computersystems wurden alle Dateien kopiert. Der Vertreter der Anwaltskammer erhob dagegen Einspruch, da diese Vorgehensweise unverhältnismäßig und es technisch leicht möglich sei, mit entsprechenden Suchkriterien nur diejenigen Dateien zu suchen und zu kopieren, auf die sich der Durchsuchungsbefehl ausdrücklich bezog. Nachdem der Untersuchungsrichter kontaktiert worden war, bestanden die Beamten darauf, alle Dateien zu kopieren. Auf den Vorschlag des Vertreters der Anwaltskammer hin kopierten die Beamten alle Dateien, die bei der Suche nach den Namen R. und G. angezeigt worden waren, auf eine CD, alle übrigen Dateien auf andere CDs. Alle CDs wurden versiegelt.

Alle diese Gegenstände wurden dem Untersuchungsrichter übergeben. Da sich der Bf. über die Durchsuchung der Dateien beschwerte, wurde die Ratskammer des LG für Strafsachen Wien angerufen, um zu entscheiden, ob alle Dateien untersucht werden durften oder gemäß § 145 Abs. 2 StPO zurückgegeben werden mussten. Am 3.3.2006 erlaubte die Ratskammer die Untersuchung aller Dateien. Sie betonte, dass die fraglichen Unterlagen im Zuge von Ermittlungen gegen den Bf. und andere Personen beschlagnahmt worden waren. Ein Anwalt könne sich nicht auf seine Schweigepflicht und die dazugehörigen Garantien des § 152 Abs. 1 StPO berufen, wenn er selbst einer Straftat verdächtig sei.

Am 14.5.2009 verurteilte das LG für Strafsachen Wien den Bf. wegen Unterschlagung, sprach ihn jedoch von den übrigen Anklagepunkten frei. Der Bf. wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, von denen zwei auf Bewährung ausgesetzt wurden. Der OGH lehnte die Nichtigkeitsbeschwerden des Bf. und der Staatsanwaltschaft ab und auch das OLG Wien bestätigte das Urteil.

Nachträglich wurden dem Bf. Beweise bekannt, zu denen er zum Zeitpunkt des Verfahrens keinen Zugang gehabt hatte. Er beantragte die Wiederaufnahme des Verfahrens, was auch genehmigt wurde, und wurde daraufhin vom LG für Strafsachen Wien freigesprochen.

Rechtliche Beurteilung

Der Bf. behauptet, durch die Durchsuchung und Beschlagnahme aller seiner elektronischen Daten in seinem Recht gemäß Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Briefverkehrs) verletzt worden zu sein.

Zur Zulässigkeit

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinen anderen Gründen unzulässig ist. Sie wird daher für zulässig erklärt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Es besteht kein Zweifel daran, dass die besagten Maßnahmen in das Recht des Bf. nach Art. 8 EMRK eingriffen. Der GH erkennt, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme von elektronischen Daten einen Eingriff in das Recht auf Schutz des »Briefverkehrs« iSd. Art. 8 EMRK darstellen.

Zur Frage, ob die getroffene Maßnahme dem Gesetz entsprach, hat der GH in seiner Spruchpraxis festgestellt, dass eine Maßnahme eine Grundlage im nationalen Recht haben muss.

Im Fall Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/A hat der GH festgestellt, dass die österreichische StPO keine spezifischen Vorschriften für die Durchsuchung und Beschlagnahme von elektronischen Daten enthält. Jedoch beinhaltet sie detaillierte Vorgaben für die Beschlagnahme von Objekten und darüber hinaus auch spezielle Regelungen für die Beschlagnahme von Dokumenten. Die Spruchpraxis der nationalen Gerichte zeigt, dass diese Vorschriften auch auf die Durchsuchung und Beschlagnahme von elektronischen Daten angewendet werden. In Anbetracht der Kriterien über die Vereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen Prinzip, der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit der Folgen, erkennt der GH, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme gesetzlich vorgesehen waren. Im Bezug auf das Argument des Bf., der Durchsuchungsbefehl wäre zu unbestimmt gewesen, merkt der GH an, dass dieser Vorwurf lediglich die Frage der Verhältnismäßigkeit aufwirft. Die Durchsuchung und Beschlagnahme verfolgten ein legitimes Ziel, nämlich die Verhinderung von Straftaten.

Daher bleibt für den GH festzustellen, ob die gerügte Maßnahme »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« und somit verhältnismäßig war.

In vergleichbaren Fällen untersuchte der GH, ob das nationale Recht und die Praxis adäquate und wirksame Schutzmechanismen gegen Missbrauch oder Willkür zur Verfügung stellen. Im Besonderen wurde darauf geachtet, ob der Durchsuchungsbefehl von einem Richter ausgestellt wurde, auf einem begründeten Verdacht basierte und seine Reichweite angemessen begrenzt war. Wenn es sich um die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei handelte, wurde geprüft, ob sie in Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters stattfand, um sicherzustellen, dass kein Material, das der beruflichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt, entfernt wird.

Die im vorliegenden Fall gerügte Durchsuchung und Beschlagnahme basierte auf einem Durchsuchungsbefehl, der von einem Richter ausgestellt worden war. Er war Teil eines Ermittlungsverfahrens gegen den Bf. wegen des Verdachts des schweren Diebstahls, des schweren Betrugs und der Unterschlagung. Der Durchsuchungsbefehl beinhaltete Details bezüglich der ihm vorgeworfenen Taten, der Zeit ihrer Begehung und des mutmaßlich entstandenen Schadens.

Der GH widerspricht dem Argument des Bf., dass der von Beginn an mangelnde Verdacht durch seinen Freispruch bewiesen sei. Die Existenz eines begründeten Verdachts muss hinsichtlich des Zeitpunkts der Ausstellung des Durchsuchungsbefehls geprüft werden. Aufgrund der oben beschriebenen Umstände kommt der GH zu dem Schluss, dass der Durchsuchungsbefehl zum Zeitpunkt der Ausstellung auf einem begründeten Verdacht beruhte. Dass der Bf. Jahre später doch freigesprochen wurde, ändert nichts an dieser Auffassung.

Bezüglich der Frage, ob die Reichweite des Durchsuchungsbefehls angemessen begrenzt war, stellt der GH fest, dass der Durchsuchungsbefehl sehr allgemein formuliert war. Während die Durchsuchung und Beschlagnahme von Akten, die R. und G. betrafen, begrenzt war, erlaubte er uneingeschränkt die Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten, PCs und CDs, Sparbüchern, Bankunterlagen, Schenkungsurkunden und Testamenten zugunsten des Bf. Der GH wird daher prüfen, ob die Mängel in der Beschränkung des Durchsuchungsbefehls durch ausreichende prozessuale Sicherungen aufgewogen werden konnten und ob diese Sicherungen geeignet waren, den Bf. vor Missbrauch und Willkür zu schützen.

Wie der GH bereits im Fall Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/A angemerkt hat, stellt die österreichische StPO mehrere Sicherungen für die Durchsuchung und Beschlagnahme von Dokumenten und elektronischen Daten zur Verfügung. Zum einen muss der Besitzer der Dokumente bei der Durchsuchung anwesend sein. Weiters muss am Ende der Durchsuchung ein Bericht verfasst werden, der die beschlagnahmten Gegenstände auflistet. Wenn der Besitzer der Beschlagnahme von Dokumenten oder Speichermedien widerspricht, so sind diese zu versiegeln und einem Richter zur Entscheidung vorzulegen, ob diese für die Ermittlungen verwendet werden dürfen. Darüber hinaus muss, wenn es sich bei den durchsuchten Räumlichkeiten um eine Anwaltskanzlei handelt, ein Vertreter der Rechtanwaltskammer anwesend sein.

Im vorliegenden Fall wurde die Durchsuchung in Anwesenheit des Bf., seines Verteidigers und eines Vertreters der Rechtsanwaltskammer Wien durchgeführt. Während alle elektronischen Dateien des Bf. auf Speichermedien kopiert wurden, folgten die Beamten dem Vorschlag des Vertreters der Rechtsanwaltskammer und kopierten alle Dateien, die die Namen R. und G. enthielten, auf eine separate CD. Alle Speichermedien wurden versiegelt. Ein Bericht wurde ordnungsgemäß am Ende der Durchsuchung verfasst und die beschlagnahmten Gegenstände darin aufgezählt.

Der GH merkt weiters an, dass dem Bf. ein wirksames Mittel gegen die Untersuchung der beschlagnahmten Daten zur Verfügung stand, nämlich eine Beschwerde bei der Ratskammer des LG. Da der Bf. der Durchsuchung der Dateien widersprach, oblag es der Ratskammer zu entscheiden, welche Unterlagen tatsächlich untersucht werden durften.

Unter den geschilderten Umständen ist die Art und Weise, wie die Ratskammer ihre Tätigkeit ausübte, von besonderer Bedeutung. Der GH stellt fest, dass die Ratskammer nur sehr kurze und allgemeine Gründe für die Erlaubnis zur Verwendung der gesamten elektronischen Daten des Bf. angab. Insbesondere ging sie nicht auf die Frage ein, ob es ausreichend sei, nur jene Dateien zu durchsuchen, die sich auf R. und G. bezogen. Darüber hinaus gab die Ratskammer auch keine Gründe an, warum die Durchsuchung aller Unterlagen des Bf. für die Ermittlungen nötig war. In Anbetracht der Art und Weise, wie die Ratskammer ihre Kontrollfunktion im vorliegenden Fall ausgeübt hat, muss der GH feststellen, dass die Durchsuchung aller elektronischen Dateien des Bf. unter den gegebenen Umständen nicht verhältnismäßig war.

Die Tatsachen im vorliegenden Fall zeigen eindeutig, dass sich die mutmaßlichen kriminellen Aktivitäten nur auf die Beziehung zwischen dem Bf. und R. und G. bezogen. Daher erkennt der GH, dass im Hinblick auf die spezielle Rechtslage, die auf eine Anwaltskanzlei zutrifft, besondere Gründe vorliegen müssen, um die Durchsuchung aller Unterlagen zu rechtfertigen. Jedoch wurden in diesem Fall weder im Durchsuchungsbefehl selbst, noch in einem anderen Dokument, derartige besondere Gründe benannt. Die Beschlagnahme und Untersuchung aller Dateien ging daher über das für die Erreichung des legitimen Ziels notwendige Maß hinaus. Daraus ergibt sich eine Verletzung von Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen, gemeinsames Sondervotum der Richter Kovler und Lorenzen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 3.000,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen, gemeinsames Sondervotum der Richter Kovler und Lorenzen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Niemietz/D v. 16.12.1992 = NL 1993/1, 17 = EuGRZ 1993, 65 = ÖJZ 1993, 389

Société Colas Est u.a./F v. 16.4.2002 = NL 2002, 88

Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/A v. 16.10.2007 = NL 2007, 258 = ÖJZ 2008, 246

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.7.2012, Bsw. 30457/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 229) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/Robathin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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