JudikaturJustizBsw29157/09

Bsw29157/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Liu gg. Russland (Nr. 2), Urteil vom 26.7.2011, Bsw. 29157/09.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK, Art. 46 EMRK - Abschiebung nach entgegenstehendem Urteil des EGMR.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der weiteren gerügten Verletzungen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.800,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der ErstBf. ist Staatsangehöriger Chinas. Er kam 1994 mit einem gültigen Visum nach Russland, wo er die ZweitBf., eine russische Staatsbürgerin, heiratete. 1996 bzw. 1999 wurden die zwei Kinder der beiden geboren. Nach Ablauf seines Visums wurde der ErstBf. im November 1996 abgeschoben.

2001 erhielt er erneut einen Aufenthaltstitel, der später bis 1.8.2003 verlängert wurde. Ein weiterer Antrag auf Verlängerung wurde am 22.7.2004 von der Polizeiverwaltung der Region Khabarovsk mit der Begründung abgewiesen, der ErstBf. gefährde die Sicherheit der Russischen Föderation. Diese Entscheidung wurde am 4.11.2004 vom Zentralen Bezirksgericht Khabarovsk und am 18.1.2005 vom Berufungsgericht Khabarovsk bestätigt. Wie die Gerichte feststellten, hatte die Polizei Informationen des Sicherheitsdienstes erhalten, wonach der ErstBf. die nationale Sicherheit gefährde. Diese Information betreffe ein Staatsgeheimnis und unterliege keiner gerichtlichen Überprüfung. Im November 2005 wurde die Abschiebung des ErstBf. angeordnet.

Am 25.11.2005 erhoben der ErstBf. und die ZweitBf. Beschwerde an den EGMR. Dieser stellte in seinem Urteil vom 6.12.2007 (Liu/RUS) fest, dass die Abschiebung auf einer rechtlichen Bestimmung beruhte, die keinen ausreichenden verfahrensrechtlichen Schutz vor einer willkürlichen Anwendung des weiten Ermessens der Behörden bot, wenn die nationale Sicherheit berührt war. Die Vollstreckung der Ausweisung würde daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründen.

Aufgrund des Urteils des EGMR wurden die Entscheidungen aufgehoben und eine erneuerte Durchführung des Verfahrens vor dem Berufungsgericht Khabarovsk angeordnet. Dieses prüfte die geheimen Dokumente und informierte die Bf. über deren Inhalt. Am 17.3.2009 stellte das Gericht fest, dass die Verweigerung eines Aufenthaltstitels rechtmäßig war, da die Informationen des Sicherheitsdienstes eine Gefährdung der nationalen Sicherheit durch den ErstBf. offenbart hätten.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 20.5.2009. Da das Berufungsgericht das geheime Material in Gegenwart der Bf. geprüft hatte, war der Oberste Gerichtshof davon überzeugt, dass die Behauptung des Sicherheitsdienstes, der ErstBf. gefährde die nationale Sicherheit, auf Tatsachen beruhte. Da die Bf. Zugang zu allen Beweismitteln hatten und auch sonst keine Verfahrensmängel zu beanstanden wären, wäre auch das Recht auf ein faires Verfahren nicht verletzt worden.

Am 22.10.2009 wurde der ErstBf. festgenommen. Am selben Tag ordnete das Stadtgericht Sovetskaya Gavan seine Abschiebung an und verhängte die Schubhaft. Er wurde am 27.11.2009 abgeschoben, nachdem sein Rechtsmittel gegen das Urteil abgewiesen worden war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. bringen vor, die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis für den ErstBf. und seine Abschiebung hätten eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründet.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung wendet ein, der GH habe keine Jurisdiktion ratione materiae, da er bereits über eine Beschwerde entschieden hat, die von denselben Personen erhoben wurde und die dieselben Tatsachen und Beschwerdebehauptungen betraf. Die Überwachung der Durchführung des Urteils des GH vom 6.12.2007 sei derzeit beim Ministerkomitee anhängig.

Der GH muss feststellen, ob es in seiner Jurisdiktion liegt, die Beschwerde betreffend die neuen Entwicklungen seit Eintritt der Rechtskraft seines Urteils zu prüfen, während die Durchführung dieses Urteils vom Ministerkomitee überwacht wird.

Die Rolle des Ministerkomitees bedeutet nicht, dass Maßnahmen, die vom belangten Staat zur Wiedergutmachung der vom GH festgestellten Verletzung ergriffen werden, nicht eine neue Angelegenheit aufwerfen können, die mit diesem Urteil nicht entschieden wurde. Der GH kann daher eine Beschwerde empfangen, dass ein erneuertes Verfahren zur Umsetzung eines seiner Urteile eine neuerliche Verletzung der EMRK begründete.

Die Entwicklungen, die nach dem Urteil vom 6.12.2007 eintraten, stellen neue Informationen dar, die neue Fragen unter Art. 8 EMRK aufwerfen können. In diesem Urteil stellte der GH eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, weil die angefochtenen Entscheidungen Verfahrensmängel aufwiesen. Der GH ging nicht darauf ein, ob der Eingriff in das Familienleben ein legitimes Ziel verfolgte oder verhältnismäßig war. Das neue Verfahren über den Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis mündete in eine neuerliche Abweisung. Daraufhin wurde ein separates Verfahren gegen den ErstBf. eingeleitet und seine Abschiebung angeordnet. Diese wurde auch durchgeführt. Diese Entwicklungen stellen neue Tatsachen dar, die es erlauben, die vorliegende Beschwerde von jener zu unterscheiden, über die der GH in seinem Urteil vom 6.12.2007 entschied.

Zur Anhängigkeit des Urteils vor dem Ministerkomitee ist festzustellen, dass in dessen Befugnisse nach Art. 46 EMRK nicht eingegriffen wird, wenn der GH maßgebliche neue Informationen im Zusammenhang mit einer neuen Beschwerde behandeln muss. Er ist daher nicht daran gehindert, die Beschwerden betreffend die neuen Entwicklungen nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 6.12.2007 zu prüfen, während dieses Urteil noch vor dem Ministerkomitee anhängig ist.

Es ist erwähnenswert, dass die innerstaatlichen Entscheidungen aufgrund des Urteils des GH aufgehoben wurden. Die Kritik des GH wurde im Zuge des neuen Verfahrens berücksichtigt, insbesondere wurde den Bf. Zugang zu den geheimen Dokumenten gewährt. Zugleich warf die erneute innerstaatliche Entscheidung neue Fragen unter der Konvention auf, die angesichts des Fehlens einer Prüfung durch den GH vom Ministerkomitee im Rahmen der laufenden Überwachung nicht gelöst werden können.

Daraus folgt, dass es in die Jurisdiktion des GH fällt zu prüfen, ob die neuen Verfahren, die in die Abschiebung des ErstBf. nach China mündeten, eine neue Verletzung von Art. 8 EMRK begründeten. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen. Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Ohne Zweifel begründete die Abschiebung des ErstBf., die zu einer Trennung von seiner Frau und seinen Kindern führte, einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Familienlebens.

Ein Eingehen auf die Frage, ob die innerstaatlichen Bestimmungen, auf denen der Eingriff beruhte, den Anforderungen der EMRK an die »Qualität des Rechts« genügten, erübrigt sich angesichts der Feststellungen des GH zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.

Der GH ist bereit anzuerkennen, dass die gegen den ErstBf. ergriffenen Maßnahmen den legitimen Zielen des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Verhütung von Straftaten dienten. Es bleibt zu prüfen, ob sie verhältnismäßig zu diesen Zielen waren.

Der Aufenthalt des ErstBf. wurde unrechtmäßig, nachdem sein Verlängerungsantrag unter Verweis auf geheime Informationen des Sicherheitsdienstes abgewiesen wurde. Der genaue Inhalt dieser Informationen wurde dem GH nicht mitgeteilt. Die innerstaatlichen Urteile enthielten weder Informationen, warum der ErstBf. als Gefahr für die nationale Sicherheit angesehen wurde, noch nannten sie irgendwelche Tatsachen, auf denen diese Feststellung beruhte. Die Vorwürfe gegen den ErstBf. wurden von den innerstaatlichen Gerichten geprüft und als ausreichende Rechtfertigung für die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis angesehen. Der GH ist nicht gut dafür ausgestattet, das Urteil eines innerstaatlichen Gerichts in Frage zu stellen, mit dem in einem konkreten Fall eine Gefahr für die nationale Sicherheit festgestellt wird. Es ist Sache der Regierungen als Beschützer der Sicherheit ihrer Bevölkerungen, ihre eigene Einschätzung anhand der ihnen bekannten Tatsachen zu treffen. Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet allerdings nicht, auf jegliche Kontrolle des durch innerstaatliche Rechtsmittel erlangten Ergebnisses zu verzichten. Andernfalls würden die Konventionsrechte ihres Gehalts beraubt. Bei der Beurteilung, ob der belangte Staat innerhalb seines Ermessensspielraums verblieben ist, spielen die der betroffenen Person zur Verfügung stehenden verfahrensrechtlichen Sicherungen eine besondere Rolle. Der Entscheidungsprozess, der zu eingreifenden Maßnahmen führt, muss fair sein und den durch Art. 8 EMRK geschützten Rechten ausreichend Rechnung tragen.

Im vorliegenden Fall wurden den Bf. keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien zuteil. Erstens prüften die innerstaatlichen Gerichte nicht, ob die dem ErstBf. vorgeworfenen Handlungen tatsächlich geeignet waren, die nationale Sicherheit zu gefährden. Sie beschränkten sich auf die Feststellung, dass in Anbetracht des Fehlens einer Definition des Begriffs »nationale Sicherheit« im innerstaatlichen Recht die Sicherheitsdienste uneingeschränktes Ermessen bei der Beurteilung hätten, was eine Gefahr für diese begründe.

Zweitens nannten die Urteile keine faktischen Gründe, auf denen sie beruhten. Sie bezogen sich lediglich auf die innerstaatlichen Bestimmungen, die zum Teil nie kundgemacht wurden, und auf nicht näher bezeichnete Informationen aus einem geheimen Bericht. Die Gerichte weigerten sich ausdrücklich, die faktische Grundlage für die gegen den ErstBf. erhobenen Vorwürfe zu verifizieren. Sie stützten ihre Entscheidungen ausschließlich auf unbestätigte Informationen des Sicherheitsdienstes und zogen keine weiteren Beweise heran, um die Vorwürfe zu bestätigen oder zu widerlegen. Sie verabsäumten damit, einen entscheidenden Aspekt zu prüfen, nämlich ob die Behörden das Bestehen spezifischer Tatsachen als Grundlage für ihre Einschätzung beweisen konnten. Die Gerichte beschränkten sich damit auf eine rein formale Prüfung der Entscheidung, mit der die Aufenthaltserlaubnis des ErstBf. verweigert wurde.

Zudem wurde den Bf. kein voller Zugang zu den Akten des Sicherheitsdienstes gewährt. Die offengelegten Vorwürfe gegen den ErstBf. waren allgemeiner Natur: er würde dem chinesischen Geheimdienst helfen, Informationen über die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage in der Region Khabarovsk sowie über militärische Einrichtungen zu erlangen. Den Bf. wurden keine spezifischen Vorwürfe über Ort und Datum der behaupteten Handlungen mitgeteilt. Dadurch war es ihnen unmöglich, die Behauptungen des Sicherheitsdienstes durch entlastende Beweise zu entkräften.

Zwar wurden einige der im Urteil vom 6.12.2007 gerügten Verfahrensmängel bei der neuerlichen Entscheidung über den Antrag des ErstBf. korrigiert, doch muss der GH feststellen, dass die innerstaatlichen Behörden einen Ansatz bevorzugten, der als formalistisch bezeichnet werden kann. Das geheime Material wurde den Gerichten zugänglich gemacht, doch erachteten sich diese selbst nicht dazu berufen, die Tatsachengrundlage für die Einschätzung, der ErstBf. gefährde die nationale Sicherheit, zu verifizieren. Die Bf. waren wegen der allgemeinen Natur der Vorwürfe nicht in der Lage, diese effektiv zu hinterfragen. Auch wenn den Bf. somit gewisse verfahrensrechtliche Garantien eingeräumt wurden, waren diese unzureichend, um den Anforderungen des Art. 8 EMRK zu genügen. Der GH kann daher das Urteil der innerstaatlichen Gerichte nicht akzeptieren, wonach der ErstBf. die nationale Sicherheit gefährde.

Zu den familiären Bindungen des ErstBf. in Russland ist festzustellen, dass er seit 1994 mit der ZweitBf. verheiratet ist und die beiden zwei Kinder haben. Die Ehefrau und die Kinder sind russische Staatsangehörige, und haben keine Beziehungen zu China. Es wäre für sie schwierig, in China Fuß zu fassen, wenn sie dem ErstBf. folgen würden. Ihre Übersiedlung würde einen radikalen Umbruch für sie bedeuten, insbesondere für die beiden Kinder, die nicht in einem anpassungsfähigen Alter sind und in Russland die Schule besuchen.

Die innerstaatlichen Gerichte schenkten diesen Faktoren keine Beachtung. Der ErstBf. wurde abgeschoben, ohne eine Möglichkeit gehabt zu haben, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme von einem Gericht über prüfen zu lassen. Dadurch wurde er der von Art. 8 EMRK geforderten angemessenen verfahrensrechtlichen Garantien beraubt.

Da die Verweigerung eines Aufenthaltstitels und die Abschiebung des ErstBf. nicht von angemessenen verfahrensrechtlichen Garantien begleitet und unverhältnismäßig zu den verfolgten Zielen war, liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Kovler).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Da sich die Beschwerde unter Art. 13 EMRK mit jener über die verfahrensrechtlichen Aspekte von Art. 8 EMRK überschneidet, ist eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK nicht notwendig (einstimmig).

Zu den sonstigen Beschwerdepunkten

Soweit weitere Verletzungen der EMRK behauptet werden, ist die Beschwerde offensichtlich unbegründet und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.800,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Kovler).

Vom GH zitierte Judikatur:

Al-Nashif/BG v. 20.6.2002 = NL 2002, 108 = ÖJZ 2003, 344

Üner/NL (GK) v. 18.10.2006 = NL 2006, 251

G. C. u.a./BG (GK) v. 24.4.2008 = NL 2008, 98 = ÖJZ 2008, 973

Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH (Nr. 2) (GK) v. 30.6.2009 = NL 2009, 169

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2011, Bsw. 29157/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 239) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Liu2.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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