JudikaturJustizBsw28859/11

Bsw28859/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Dezember 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Dubska und Krejzova gg. Tschechien, Urteil vom 11.12.2014, Bsw. 28859/11 und 28473/12.

Spruch

Art. 8 EMRK - Verbot der Tätigkeit von Hebammen bei Hausgeburten.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die ErstBf. wurde 2007 in einem Krankenhaus ohne Komplikationen von ihrem ersten Kind entbunden. Als sie 2010 erneut schwanger wurde, entschied sie sich aufgrund der damaligen schlechten Erfahrungen für eine Hausgeburt. Es gelang ihr jedoch nicht, eine Hebamme zu finden, die bereit gewesen wäre, daran mitzuwirken.

Die ErstBf. brachte daraufhin im Mai 2011 ihren Sohn alleine zu Hause zur Welt. Im Juli 2011 wandte sie sich mit einer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, mit der sie eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens durch die Verweigerung der Möglichkeit einer Hausgeburt mit professioneller medizinischer Unterstützung geltend machte. Der Verfassungsgerichtshof wies die Beschwerde am 28.2.2012 als unzulässig zurück, weil die ErstBf. nicht alle verfügbaren Rechtsbehelfe erschöpft hatte.

Die ZweitBf. ist Mutter von zwei Kindern, die 2008 bzw. 2010 zu Hause mit der Unterstützung von Hebammen geboren wurden, deren Mitwirkung staatlich nicht zugelassen war. Sie hatte sich zu dieser Vorgangsweise entschlossen, weil sie kein Krankenhaus finden konnte, dass zu einer ihren Wünschen entsprechenden Entbindung bereit gewesen wäre.

Zur Zeit der Erhebung ihrer vorliegenden Beschwerde war die ZweitBf. erneut schwanger. Sie wollte auch dieses Kind mit Unterstützung einer Hebamme zu Hause zur Welt bringen, konnte aber wegen der drohenden hohen Geldstrafe niemanden finden, der dazu bereit gewesen wäre. Letztendlich begab sie sich für die Geburt in eine 140 km von ihrem Wohnort Prag entfernte Geburtsklinik, die dafür bekannt war, die Wünsche von Müttern zu respektieren.

Nach den Richtlinien des Gesundheitsministeriums fällt eine Entbindung in den Bereich der Gesundheitsversorgung und darf damit nur in medizinischen Einrichtungen vorgenommen werden. Nach dem bis 31.3.2012 geltenden »Gesetz über die Gesundheitsversorgung« (Nr. 160/1992) durfte eine Gesundheitsdienstleistung nur von einer Person vorgenommen werden, die eine Lizenz dafür besaß. Deren Erteilung setzte die Verfügbarkeit entsprechender technischer Einrichtungen vor Ort voraus. Bei Vornahme einer Gesundheitsdienstleistung ohne entsprechende Lizenz drohte eine Geldstrafe. Auch gemäß dem seit 1.4.2012 geltenden »Gesetz über die Gesundheitsdienste« (Nr. 372/2011) darf eine Entbindung nur von dazu berechtigten Personen in Einrichtungen mit entsprechender technischer Ausstattung durchgeführt werden. Die Vornahme von Gesundheitsdienstleistungen durch eine dazu nicht berechtigte Person kann mit einer Geldstrafe bis zu € 40.000,– geahndet werden. Ein Dekret des Gesundheitsministeriums schreibt vor, welche Ausstattung für die Durchführung einer Entbindung erforderlich ist und beschränkt deren Zulässigkeit auf Orte, von denen aus in 15 Minuten ein Krankenhaus erreicht werden kann, in dem die Vornahme eines Kaiserschnitts möglich ist.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Verbindung der Beschwerden

(68) Der GH stellt fest, dass der Gegenstand der beiden Beschwerden ähnlich ist. Daher ist es angemessen, sie nach Art. 42 VerfO zu verbinden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(69) Die Bf. rügen, dass es das tschechische Recht medizinischem Personal verbietet, bei einer Hausgeburt zu helfen. Dies verletze Art. 8 EMRK [...].

Zulässigkeit

(73) Der GH erinnert daran, dass der Begriff »Privatleben« breit ist und sich einer abschließenden Definition entzieht. Er umfasst unter anderem das Recht auf persönliche Autonomie und Entwicklung und auf physische und psychische Integrität. Er erstreckt sich weiters auf Angelegenheiten wie die Entscheidung, ein Kind zu bekommen [...]. Außerdem hat der GH in Odièvre/F festgestellt, dass »die Geburt und insbesondere die Umstände, unter denen ein Kind geboren wird, Teil des durch Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens [...] sind.«

(74) Im vorliegenden Fall ist die Art. 8 EMRK betreffende Frage nicht – wie von der Regierung behauptet –, ob diese Bestimmung das Recht auf eine von einer Hebamme unterstützte Entbindung zu Hause umfasst, sondern eher, ob das Recht, die Umstände der Geburt zu bestimmen, in ihren Anwendungsbereich fällt.

(75) Sich auf die oben angeführte Rechtsprechung stützend, ist der GH der Ansicht, dass eine Entbindung ein besonders intimer Aspekt des Privatlebens der Mutter ist. Sie umfasst Fragen der physischen und psychischen Integrität, der medizinischen Behandlung, der reproduktiven Gesundheit und des Schutzes gesundheitsbezogener Daten. Entscheidungen über die Umstände einer Entbindung, einschließlich der Wahl des Orts der Geburt, fallen daher in den Anwendungsbereich des Privatlebens der Mutter iSv. Art. 8 EMRK. [...]

(76) Der GH stellt weiters fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist und auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund festgestellt wurde. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Positive oder negative Verpflichtung nach Art. 8 EMRK

(78) Während der effektiven Achtung des Privatlebens positive Verpflichtungen innewohnen, erachtet es der GH als angemessen, die vorliegenden Beschwerden unter dem Aspekt negativer Verpflichtungen zu prüfen. Das Kernargument der Bf. besteht nämlich darin, dass es Hebammen unter Strafe verboten war, sie bei Hausgeburten zu unterstützen [...]. Die Unmöglichkeit für die Bf., sich bei einer Entbindung zu Hause von Hebammen helfen zu lassen, begründete nach Ansicht des GH einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens.

War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

(82) Während eine Hausgeburt als solche im tschechischen Rechtssystem nicht verboten ist, sah das damals geltende »Gesetz über die Gesundheitsversorgung« vor, dass eine Person nur dann medizinische Leistungen erbringen durfte, wenn sie die entsprechende Lizenz hatte, was wiederum voraussetzte, dass die in einem Dekret des Gesundheitsministeriums vorgeschriebene technische Ausstattung an dem Ort vorhanden war, an dem die Dienstleistung erbracht werden sollte. Eine Person, die eine medizinische Dienstleistung in einer nicht dem Gesetz entsprechenden Weise vornahm, konnte bestraft werden. Der GH stellt weiters fest, dass das entsprechende Dekret die wesentliche Ausstattung vorschrieb, die Hebammen an jedem Ort zur Verfügung stehen musste, an dem sie an Entbindungen mitwirken wollten. Angesichts der im Dekret aufgeführten Liste einer solchen Ausstattung ist klar, dass private Wohnungen diesen Anforderungen nicht entsprechen konnten.

(83) Auch wenn gewisse Zweifel über die Klarheit der damals geltenden gesetzlichen Bestimmungen bestehen konnten, ist der GH der Ansicht, dass die Bf. [...] vorhersehen konnten, dass die Mitwirkung medizinischen Personals an einer Hausgeburt gesetzlich nicht erlaubt war. Der umstrittene Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 8 EMRK.

Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

(86) Nach Ansicht des GH bestehen keine Gründe dafür zu bezweifeln, dass die Politik, die in dem Dekret des Gesundheitsministeriums zum Ausdruck kommt, dazu diente, die Gesundheit und die Sicherheit des Neugeborenen – und zumindest indirekt auch der Mutter – während und nach der Entbindung zu gewährleisten. Es kann daher gesagt werden, dass sie dem legitimen Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Rechte anderer iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK diente.

War der Eingriff verhältnismäßig?

(92) Der Ermessensspielraum, den der Staat bei der Entscheidung eines Falles unter Art. 8 EMRK genießt, [...]wird eher enger sein, wenn das betroffene Recht für den effektiven Genuss von intimen oder zentralen Rechten wesentlich ist. Wo allerdings kein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht, sei es hinsichtlich der relativen Wichtigkeit des betroffenen Interesses oder hinsichtlich der Mittel, mit denen dieses am besten zu schützen ist, wird der Spielraum weiter sein.

(93) Der vorliegende Fall betrifft eine komplexe Angelegenheit der Gesundheitspolitik, die eine Beurteilung wissenschaftlicher Daten und Expertisen über die relativen Risiken von Spitals- und Hausgeburten durch die nationalen Stellen verlangt. Neben ihrer physischen Verletzlichkeit sind Neugeborene völlig abhängig von den Entscheidungen anderer, was ein starkes Engagement seitens des Staates rechtfertigt. Überdies berührt die Frage von Hausgeburten Bereiche, wo keine klare Übereinstimmung zwischen den Mitgliedstaaten besteht, und die insofern allgemeine sozial- und wirtschaftspolitische Überlegungen des Staates einschließlich der Verteilung finanzieller Mittel betreffen, als die Einrichtung eines angemessenen Rettungsdienstes die Verlagerung budgetärer Mittel vom allgemeinen System der Geburtskrankenhäuser zu einem Sicherheitsnetzwerk für Hausgeburten einschließen könnte. Angesichts dieser Überlegungen ist der GH der Meinung, dass dem belangten Staat ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen ist.

(94) Bei der Abwägung der betroffenen Interessen konzentrierte sich die Regierung auf das legitime Ziel des Schutzes der Interessen des Kindes, die – abhängig von ihrer Natur und ihrer Bedeutung – jenen des Elternteils vorgehen können, der insbesondere aus Art. 8 EMRK kein Recht auf Maßnahmen ableiten kann, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden. Während im Allgemeinen kein Interessenskonflikt zwischen der Mutter und ihrem Kind besteht, kann bei bestimmten Entscheidungen der Mutter über den Ort, die Umstände oder die Methode der Entbindung davon ausgegangen werden, dass diese ein erhöhtes Risiko für die Gesundheit und Sicherheit des Neugeborenen mit sich bringen, deren Sterberate trotz aller medizinischer Fortschritte nicht vernachlässigbar ist, wie Statistiken über Todesfälle von Kindern während und unmittelbar nach der Geburt zeigen.

(95) Der GH anerkennt, dass sich die umstrittene Situation schwerwiegend auf die Wahlfreiheit der Bf. auswirkte, die, wenn sie zu Hause entbinden wollten, auf die Unterstützung durch eine Hebamme verzichten und die damit einhergehenden Risiken für sich selbst und die Neugeborenen auf sich nehmen oder in einem Krankenhaus entbinden mussten. Es stand den Bf. frei, in einem Krankenhaus ihrer Wahl zu entbinden, wo ihre Wünsche hinsichtlich der die Geburt betreffenden Angelegenheiten theoretisch respektiert würden. Das dem GH vorliegende Material deutet jedoch darauf hin, dass die Bedingungen in den örtlichen Krankenhäusern betreffend die Achtung der Wünsche der Mütter fragwürdig waren. [...] Die freie Wahl des Krankenhauses, in dem sie entbinden wollen, minderte daher nicht das Interesse der Bf. an einer unterstützten Hausgeburt.

(96) Der GH stellt weiters fest, dass einerseits die Mehrzahl der vorgelegten Studien nicht auf ein erhöhtes Risiko bei Hausgeburten [...] hinweist, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens wären Hausgeburten nur im Fall von »Niedrigrisiko-Schwangerschaften« akzeptabel. Zweitens muss bei einer Hausgeburt eine qualifizierte Hebamme anwesend sein, die mögliche Komplikationen während der Entbindung erkennen und die gebärende Frau wenn nötig an ein Krankenhaus verweisen kann. Drittens muss der Transfer von Mutter und Kind in das Krankenhaus in einer sehr kurzen Zeitspanne sichergestellt sein. Eine Situation wie jene in Tschechien, wo es medizinischem Personal nicht gestattet ist, Mütter, die zu Hause entbinden wollen, zu unterstützen und wo keine spezielle Notfallhilfe verfügbar ist, kann daher das Risiko für das Leben und die Gesundheit der Mutter und des Neugeborenen eher erhöhen als vermindern.

(97) Auf der anderen Seite nimmt der GH das Argument der Regierung zur Kenntnis, wonach das Risiko für Neugeborene bei Hausgeburten höher ist als bei Geburten in personell und materiell voll ausgestatteten Geburtskrankenhäusern. Ihm ist bewusst, dass selbst wenn eine Schwangerschaft ohne besondere Komplikationen zu verlaufen scheint, unerwartete Schwierigkeiten während der Entbindung auftreten können, wie ein akuter Sauerstoffmangel des Fötus, anhaltende Blutungen oder Ereignisse, die eine spezielle ärztliche Intervention wie einen Kaiserschnitt oder die neonatale Unterstützung des Neugeborenen erfordern. Außerdem kann die Institution im Zuge einer Krankenhausgeburt die notwendige Pflege oder Intervention sofort zur Verfügung stellen, was bei einer Hausgeburt nicht zutrifft, selbst wenn eine Hebamme anwesend ist. Die Zeit, die im Fall solcher Komplikationen bis zum Erreichen eines Krankenhauses vergeht, könnte tatsächlich ein erhöhtes Risiko für das Leben oder die Gesundheit des Neugeborenen oder der Mutter mit sich bringen.

(98) Angesichts dieser Umstände gelangt der GH zu dem Schluss, dass die betroffenen Mütter, einschließlich der Bf., keine unverhältnismäßige oder übermäßige Last tragen mussten.

(100) Der GH hält es schließlich für angemessen hinzuzufügen, dass die staatlichen Stellen die einschlägigen Bestimmungen fortlaufend einer Überprüfung unterziehen sollten, die medizinische, wissenschaftliche und rechtliche Entwicklungen widerspiegelt. [...]

(101) Angesichts aller Umstände des Falles und mit Rücksicht auf die Tatsache, dass kein europäischer Konsens in dieser Angelegenheit besteht, befindet der GH, dass die Autoritäten mit der damaligen Politik betreffend Hausgeburten den ihnen zustehenden weiten Ermessensspielraum nicht überschritten haben [...]. Dementsprechend hat keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Lemmens, im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Villiger und Richterin Yudkivska).

Vom GH zitierte Judikatur:

Odièvre/F v. 13.2.2003 (GK) = NL 2003, 27 = EuGRZ 2003, 584 = ÖJZ 2005, 34

Tysiac/PL v. 20.3.2007 = NL 2007, 82

Evans/GB v. 10.4.2007 (GK) = NL 2007, 90

Ternovszky/H v. 14.12.2010 = NL 2010, 366

A., B. und C./IRL v. 16.12.2010 (GK) = NL 2010, 368

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.12.2014, Bsw. 28859/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 513) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_6/Dubska.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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