JudikaturJustizBsw27644/95

Bsw27644/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
06. April 2000

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Athanassoglou u.a. gegen die Schweiz, Urteil vom 6.4.2000, Bsw. 27644/95.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Verfahren über Verlängerung einer Betriebsbewilligung für ein Kernkraftwerk und Recht auf Zugang zu einem Gericht.

Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht anwendbar (12:5 Stimmen). Art. 13 EMRK ist mangels eines begründeten Anspruchs nicht anwendbar (12:5 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. leben in Gemeinden, die sich in der Alarmzone 1 in einem Radius von 4 bis 5 km um das Kernkraftwerk Beznau II (Kanton Aargau) befinden. Am 18.12.1991 stellte die Betreibergesellschaft, die Nordostschweizerische Kraftwerke AG (NOK), die seit 1971 das Kernkraftwerk betreibt, beim Bundesrat ein Gesuch um Verlängerung der Betriebsbewilligung auf unbeschränkte Dauer. Das Gesuch wurde daraufhin mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, Einsprache zu erheben, im Amtsblatt publiziert. Einspracheberechtigt war jeder der iSv. Art. 48 lit. a des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren durch die Bewilligungsverfügung berührt war und ein schutzwürdiges Interesse an deren Nichterteilung hatte. Insgesamt langten über 18.400 Einsprachen bei der zuständigen Behörde ein, ein großer Teil davon aus Deutschland und Österreich. Die Begründungen stützten sich va. auf Art. 5 (1) Atomgesetz, der vorsieht, dass eine Bewilligung zu verweigern oder von der Erfüllung geeigneter Bedingungen und Auflagen abhängig zu machen ist, wenn dies zum Schutz von Menschen, fremden Sachen oder wichtigen Rechtsgütern notwendig ist. Es wurde behauptet, dass das Kernkraftwerk aufgrund schwerer und irreparabler Konstruktionsmängel den heutigen Sicherheitsanforderungen nicht genüge, und sein Zustand ein überdurchschnittliches Sicherheitsrisiko zur Folge habe. In Anbetracht der Tatsachen, dass der Bundesrat in casu als einzige Instanz entscheidet, wurde überdies auf die Möglichkeit einer Verletzung im Recht auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art. 6 (1) EMRK hingewiesen. Am 12.12.1994 wies der Bundesrat alle Einsprachen ab und erteilte der NOK eine befristete Betriebsbewilligung bis 31.12.2004. In der Begründung stellte der Bundesrat in formeller Hinsicht fest, dass nur die Einsprecher mit Wohnort in der Alarmzone 1 verfahrenslegitimiert seien, im Gegensatz zu denjenigen, die weiter entfernt vom Kernkraftwerk wohnten, insb. in Deutschland und Österreich.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz).

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK und Art. 13 EMRK:

Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK ist, dass ein aus der innerstaatlichen Rechtsordnung abzuleitender Anspruch bzw. abzuleitendes Recht in Frage steht. Weiters muss ein echter und ernsthafter Streit vorliegen, dessen Ausgang für diesen Anspruch bzw. dieses Recht direkt entscheidend ist. Unstrittig ist, dass ein aus der innerstaatlichen Rechtsordnung abzuleitendes Recht in Frage steht, über das ein echter und ernsthafter Streit vorliegt. Die Reg. bestreitet jedoch, dass dessen Ausgang für dieses Recht direkt entscheidend ist. Tatsächlich können die Bf. keinen direkten Zusammenhang zwischen den von ihnen bemängelten Betriebsbedingungen des Kernkraftwerks und ihrem Recht auf Schutz der physischen Integrität herstellen. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass der Betrieb des Kernkraftwerks sie persönlich einer Gefahr aussetzt, welche nicht nur ernst, sondern auch konkret und immanent ist. Infolgedessen war der Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesrat nicht direkt entscheidend für ein ziviles Recht, wie zB. das von den Bf. angeführte Recht auf physische Integrität. Art. 6 (1) EMRK ist somit nicht anwendbar. Ebenso ist Art. 13 EMRK mangels eines begründeten Anspruchs nicht anwendbar (jeweils 12:5 Stimmen, Sondervoten der Richter Costa, Tulkens, Fischbach, Casadevall und Maruste).

Anm.: Vgl. den vom GH zitierten Fall Balmer-Schafroth ua./CH, Urteil

v. 26.8.1997 (= NL 1997, 214 = EuGRZ 1999, 183 = ÖJZ 1998, 436).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 15.4.1998 keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (15:15 Stimmen, entscheidende Stimme des Vorsitzenden) und Art. 13 EMRK (16:14 Stimmen) festgestellt.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.4.2000, Bsw. 27644/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 61) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_/Athanassoglou.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.