JudikaturJustizBsw19867/12

Bsw19867/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Juli 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Moreira Ferreira gg. Portugal (Nr. 2), Urteil vom 11.7.2017, Bsw. 19867/12.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 46 EMRK - Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren über Wiederaufnahmeantrag nach Urteil des EGMR.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (9:8 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 46 EMRK (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Gegen die Bf. wurde aufgrund einer Auseinandersetzung mit anderen Personen eine strafrechtliche Ermittlung eingeleitet. Ein im Zuge des Verfahrens erstelltes Gutachten stellte fest, dass sie über eingeschränkte intellektuelle und kognitive Fähigkeiten verfügte, aber dennoch für ihre Handlungen strafrechtlich verantwortlich wäre.

Am 23.3.2007 wurde sie vom Amtsgericht Matosinhos zu einer Geldstrafe in der Höhe von € 640,– verurteilt. In ihrer dagegen erhobenen Berufung stützte sie sich auf ihre fehlende Schuldfähigkeit und beantragte eine Verhandlung, bei der sie ihren Standpunkt vertreten könne. Das Rechtsmittelgericht hielt eine Verhandlung im Beisein des Staatsanwalts und des Verteidigers der Bf. ab, verzichtete aber darauf, diese selbst anzuhören. Mit Urteil vom 19.12.2007 bestätigte das Rechtsmittelgericht die Verurteilung der Bf., reduzierte die Geldstrafe aber auf € 530,–.

Mit einer ersten Beschwerde an den GH machte die Bf. am 15.8.2008 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das Fehlen ihrer persönlichen Anhörung durch das Rechtsmittelgericht geltend. Der GH stellte am 5.7.2011 eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest (Anm: EGMR 5.7.2011, Moreira Ferreira/P, Bsw. Nr. 19.808/08.). Zu Art. 41 EMRK führte er aus, dass eine Erneuerung oder Wiederaufnahme des Strafverfahrens grundsätzlich ein angemessener Weg zur Wiedergutmachung der Verletzung wäre. Eine Entschädigung für materiellen Schaden wurde mit der Begründung verweigert, der GH könne nicht darüber spekulieren, wie das Verfahren im Fall einer Anhörung der Bf. ausgegangen wäre. Der Bf. wurde jedoch eine Entschädigung von € 2.400,– für immateriellen Schaden zugesprochen. Dieser Betrag wurde im Dezember 2011 von der portugiesischen Regierung bezahlt. Da noch keine anderen Maßnahmen zur Umsetzung des Urteils getroffen wurden, ist das Verfahren zur Überwachung der Durchführung des Urteils vom 5.7.2011 nach wie vor beim Ministerkomitee anhängig.

Am 18.10.2011 beantragte die Bf. beim Obersten Gericht eine Überprüfung des Urteils des Rechtsmittelgerichts, da dieses nicht mit dem Urteil des GH vom 5.7.2011 vereinbar wäre (Anm: Gemäß Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO ist eine Überprüfung einer rechtskräftigen Verurteilung möglich, wenn diese mit einem für Portugal verbindlichen Urteil eines internationalen Gerichts unvereinbar ist oder ein solches Urteil ernste Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der Verurteilung aufwirft.). Das Oberste Gericht verweigerte am 21.3.2012 eine Überprüfung, weil es sich nur um ein prozessuales Versäumnis gehandelt habe. Es liege weder eine Unvereinbarkeit mit dem Urteil des GH vor, noch bestünden ernste Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der Verurteilung. Der GH habe selbst von vornherein jede Möglichkeit ausgeschlossen, dass seine Entscheidung ernste Zweifel hinsichtlich der Verurteilung aufwerfen würde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 46 EMRK (Umsetzung der Urteile des GH).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(40) Die Bf. rügt die Abweisung ihres Antrags auf Überprüfung des gegen sie ergangenen Strafurteils durch das Oberste Gericht. Sie bringt vor, dieses Urteil [...] laufe auf eine Rechtsverweigerung hinaus, weil das Gericht die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnung falsch ausgelegt und angewendet [...] und sie damit ihres Rechts auf Überprüfung ihrer Verurteilung beraubt hätte. [...]

Zulässigkeit

(46) Bei der Prüfung der Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde muss sich der GH zunächst vergewissern, ob es in seine Jurisdiktion fällt, die Beschwerde zu prüfen, ohne sich in die Prärogativen des belangten Staates oder des Ministerkomitees nach Art. 46 EMRK einzumischen. Bejahendenfalls ist zu prüfen, ob die Garantien des Art. 6 EMRK auf das fragliche Verfahren anwendbar waren.

Schließt Art. 46 EMRK eine Prüfung der Beschwerde unter Art. 6 EMRK durch den GH aus?

Allgemeine Grundsätze

(47) [...] Feststellungen einer Verletzung in Urteilen sind im wesentlichen deklaratorisch [...] und ihre Durchführung wird vom Ministerkomitee überwacht. Die Rolle des Ministerkomitees in diesem Bereich bedeutet allerdings nicht, dass die von einem belangten Staat zur Wiedergutmachung einer vom GH festgestellten Verletzung ergriffenen Maßnahmen keine neue, von diesem Urteil nicht entschiedene Angelegenheit aufwerfen und als solche den Gegenstand einer neuen Beschwerde bilden können, welche vom GH dann behandelt werden kann. [...]

(48) Der GH bekräftigt, dass es insbesondere nicht in seine Jurisdiktion fällt, die Wiederaufnahme eines Verfahrens anzuordnen. Wie die Empfehlung Nr. R (2000)2 des Ministerkomitees angibt, zeigt die Praxis des Ministerkomitees bei der Überwachung der Durchsetzung der Urteile des GH jedoch, dass die neuerliche Prüfung eines Falls oder die Wiederaufnahme des Verfahrens sich unter außergewöhnlichen Umständen als effizientester, wenn nicht gar einziger Weg zur Erreichung einer restitutio in integrum [...] erwiesen hat. [...]

Anwendung im vorliegenden Fall

(52) Die oben genannten allgemeinen Grundsätze zeigen, dass eine Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK durch den GH nicht automatisch eine Wiederaufnahme des innerstaatlichen Strafverfahrens verlangt. Allerdings ist dies grundsätzlich ein angemessener – und oft der angemessenste – Weg zur Beendigung der Verletzung und zur Leistung von Wiedergutmachung für ihre Auswirkungen.

(53) Diese Ansicht wird durch das breite Spektrum an Rechtsbehelfen in Europa unterstützt, die es Personen ermöglichen, nach einer Feststellung einer Konventionsverletzung durch den GH die Wiederaufnahme eines mit rechtskräftigem Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens zu beantragen. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass es unter den Mitgliedstaaten keinen einheitlichen Zugang hinsichtlich des Rechts gibt, die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens zu beantragen. Er stellt auch fest, dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens in den meisten Staaten nicht automatisch erfolgt, sondern Zulässigkeitskriterien unterliegt, deren Einhaltung von den innerstaatlichen Gerichten überprüft wird, die in diesem Bereich einen größeren Ermessensspielraum haben.

(54) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass das vom Obersten Gericht entschiedene Verfahren, auch wenn es unbestreitbar die Umsetzung des 2011 ergangenen Urteils des GH betraf, im Verhältnis zu dem den Gegenstand dieses Urteils bildenden Verfahren neu war und diesem nachfolgte. Was die Beschwerde der Bf. betrifft, stellt der GH fest, dass sie sich auf die Gründe bezieht, aufgrund derer das Oberste Gericht den Antrag auf Überprüfung abgewiesen hat. Daher kann die Frage, ob das Verfahren über den Antrag auf Überprüfung mit den Standards des Art. 6 EMRK [...] vereinbar war, getrennt von den Aspekten beurteilt werden, die sich auf die Durchführung des vom GH 2011 erlassenen Urteils beziehen.

(55) Der GH stellt daher fest, dass sich das Oberste Gericht bei der Behandlung des Antrags auf Überprüfung mit einer neuen Angelegenheit befasst hat, nämlich mit der Gültigkeit der Verurteilung der Bf. im Lichte der Feststellung einer Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren. Indem das Oberste Gericht ihr Argument zurückwies, wonach ihre Verurteilung unvereinbar mit dem Urteil des GH aus 2011 wäre, nahm das Oberste Gericht seine eigene Interpretation des Urteils des GH vor, wobei es zum Ergebnis gelangte, die Schlussfolgerungen des GH wären mit dem Urteil des Rechtsmittelgerichts vereinbar. Folglich entschied es, dass das von der Bf. zur Untermauerung ihres Antrags auf Überprüfung vorgebrachte Argument, das auf Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO beruhte – einem Artikel, den der GH ausdrücklich als mögliche Grundlage für eine Wiederaufnahme des Verfahrens genannt hatte – unbegründet war.

(56) Aufgrund dieser Feststellungen ist der GH der Ansicht, dass die behauptete fehlende Fairness des zur Behandlung des Antrags auf Überprüfung durchgeführten Verfahrens und insbesondere die Irrtümer, die nach Ansicht des GH die Begründung des Obersten Gerichts beeinträchtigten, im Verhältnis zum vorangegangenen Urteil des GH neue Informationen darstellen.

(57) Der GH stellt weiters fest, dass ein Überprüfungsverfahren im Hinblick auf die Durchführung des Urteils nach wie vor beim Ministerkomitee anhängig ist, auch wenn dies den GH nicht daran hindert, eine neue Beschwerde zu prüfen, soweit diese neue Aspekte einschließt, die vom ursprünglichen Urteil nicht entschieden wurden.

(58) Art. 46 EMRK schließt daher nach Ansicht des GH seine Prüfung der neuen Beschwerde unter Art. 6 EMRK nicht aus.

Ist die neue Beschwerde der Bf. ratione materiae mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar?

Allgemeine Grundsätze

(60) [...] In Bochan/UA (Nr. 2) befasste sich der GH mit der Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Rechtsbehelfe betreffend die Wiederaufnahme von Zivilprozessen, die mit rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen abgeschlossen wurden. Die vom GH in diesem Urteil dargelegten Grundsätze können folgendermaßen zusammengefasst werden:

(a) Nach ständiger Rechtsprechung garantiert die Konvention kein Recht auf Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens. Außerordentliche Rechtsbehelfe, mit denen die Wiederaufnahme abgeschlossener Verfahren angestrebt werden kann, betreffen in der Regel keine Entscheidung über »zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen« oder über eine »strafrechtliche Anklage«, weshalb Art. 6 EMRK als nicht anwendbar angesehen wird. Diesem Zugang wurde auch in Fällen gefolgt, in denen die Wiederaufnahme [...] aufgrund einer Feststellung einer Konventionsverletzung durch den GH angestrebt wurde.

(b) Sollte allerdings ein außerordentlicher Rechtsbehelf automatisch oder unter bestimmten Umständen zu einer vollumfänglichen Neubewertung des Falls führen, gilt Art. 6 EMRK in der üblichen Weise für das nochmalige Verfahren. [...]

(c) Während Art. 6 Abs. 1 EMRK also normalerweise nicht auf außerordentliche Rechtsbehelfe anwendbar ist, mit denen die Wiederaufnahme abgeschlossener gerichtlicher Verfahren angestrengt werden kann, können Natur, Umfang und besondere Merkmale des Verfahrens im betroffenen Rechtssystem das Verfahren in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK bringen [...].

(61) Was Strafverfahren betrifft, hat der GH festgestellt, dass Art. 6 EMRK nicht auf Anträge auf ihre Wiederaufnahme anwendbar ist, weil eine rechtskräftig verurteile Person, die einen solchen Antrag einbringt, nicht im Sinne dieses Artikels »einer Straftat angeklagt« ist. [...]

(62) Wie der GH festgestellt hat, gelten die Anforderungen der Rechtssicherheit nicht absolut. Überlegungen wie das Hervortreten neuer Tatsachen, die Entdeckung grundlegender Mängel im vorangegangenen Verfahren, die den Ausgang des Falls beeinflussen konnten, oder die Notwendigkeit, Wiedergutmachung zu leisten, insbesondere im Kontext der Durchführung der Urteile des GH, sprechen alle zugunsten einer Wiederaufnahme des Verfahrens. Dementsprechend hat der GH festgestellt, dass die bloße Möglichkeit einer Wiederaufnahme eines Strafverfahrens prima facie mit der Konvention vereinbar ist. [...]

(63) [...] Eine Verurteilung, die Schlüsselbeweise ignoriert, stellt ein Fehlurteil dar. Solche Fehler nicht zu korrigieren kann die Fairness, Integrität und das öffentliche Ansehen gerichtlicher Verfahren ernsthaft beeinträchtigen. [...]

(64) Der GH hat auch andere Stufen von Strafverfahren beurteilt, wo die Bf. nicht länger »Personen, die einer Straftat angeklagt sind« waren, sondern in Folge einer nach innerstaatlichem Recht als endgültig angesehenen gerichtlichen Entscheidung »verurteilte« Personen. Da »strafrechtliche Anklage« ein autonomer Begriff ist und angesichts der Auswirkungen, die das Verfahren zur Prüfung einer Nichtigkeitsbeschwerde auf die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage haben kann, einschließlich der Möglichkeit einer Korrektur von Rechtsirrtümern, hat der GH festgestellt, dass ein solches Verfahren von den Garantien des Art. 6 EMRK umfasst ist, selbst wenn es im nationalen Recht als außerordentlicher Rechtsbehelf behandelt wird und ein Urteil betrifft, gegen das es kein ordentliches Rechtsmittel gibt. [...]

(65) Aus den oben dargelegten Grundsätzen ergibt sich, dass Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt auf Strafverfahren anwendbar ist, die Rechtsbehelfe betreffen, welche im innerstaatlichen Recht als außerordentlich eingestuft werden, wenn das innerstaatliche Gericht dazu aufgerufen ist, über die Anklage zu entscheiden. Der GH prüft daher die Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf außerordentliche Rechtsbehelfe, indem er versucht zu klären, ob das innerstaatliche Gericht im Zuge der Behandlung des fraglichen Rechtsbehelfs angehalten war, über die strafrechtliche Anklage zu entscheiden.

(66) Der GH betont, dass sich seine Einschätzung des Falls Bochan/UA (Nr. 2) auf Angelegenheiten des zivilrechtlichen Aspekts von Art. 6 EMRK konzentrierte. Es bestehen jedoch signifikante Unterschiede zwischen Zivil- und Strafprozessen.

(67) Die Rechte von Personen, die einer strafbaren Handlung beschuldigt oder angeklagt sind, erfordern größeren Schutz als die Rechte von Parteien eines Zivilprozesses. Die auf Strafverfahren anwendbaren Grundsätze und Standards müssen daher mit besonderer Klarheit und Präzision dargelegt werden. Und während in Zivilverfahren die Rechte der einen Partei mit den Rechten der anderen in Konflikt geraten können, stehen ungeachtet der Rechte, die Opfer von Straftaten vor den innerstaatlichen Gerichten durchzusetzen versuchen mögen, Maßnahmen zugunsten von beschuldigten, angeklagten oder verurteilten Personen keine solchen Überlegungen im Weg.

Anwendung im vorliegenden Fall

(68) Bei der Anwendung der obigen Grundsätze auf den vorliegenden Fall möchte der GH betonen, dass er auf das innerstaatliche Recht, wie es von den Gerichten des belangten Staats ausgelegt wurde, abstellt. Er bemerkt, dass das innerstaatliche Recht und insbesondere Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO der Bf. [...] einen Rechtsbehelf zur Verfügung stellte, der die Möglichkeit einer Überprüfung der Vereinbarkeit ihrer Verurteilung [...] mit den Feststellungen des GH in seinem Urteil von 2011 umfasste.

(69) [...] Das Oberste Gericht hat bei der Bestimmung der Gründe für eine Überprüfung kein Ermessen, da diese Gründe in Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO abschließend aufgezählt sind. Sie beziehen sich entweder auf das Hervortreten neuen Materials oder auf Verstöße gegen materielle oder prozessuale Regeln. In letzterem Fall muss das Oberste Gericht über die Vereinbarkeit der ergangenen Entscheidung mit materiellem Recht oder über die Rechtmäßigkeit des durchgeführten Verfahrens entscheiden und bestimmen, ob die festgestellten Mängel die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen.

Im Kontext der in Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO vorgesehenen Prüfung besteht die Aufgabe des Obersten Gerichts darin, die Durchführung und den Ausgang des abgeschlossenen innerstaatlichen Verfahrens im Hinblick auf die Feststellungen des GH oder einer anderen internationalen Instanz zu beurteilen und, wenn angemessen, die neuerliche Prüfung des Falls anzuordnen, um eine neue Entscheidung über die strafrechtliche Anklage gegen die verletzte Partei sicherzustellen. Überdies kann das Oberste Gericht, wenn es eine Überprüfung gewährt, die Vollstreckung des Urteils oder der Sicherungsmaßnahme aussetzen, wenn es dies als notwendig erachtet.

Der GH bemerkt daher, dass der rechtliche Rahmen vom Obersten Gericht verlangt, die fragliche Verurteilung mit den Gründen zu vergleichen, auf die der GH seine Feststellung einer Konventionsverletzung stützte. Die Beurteilung aufgrund von Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO wird daher wahrscheinlich maßgeblich für die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage sein und teilt insofern einige gemeinsame Merkmale mit einer Nichtigkeitsbeschwerde.

(70) Was die vom Obersten Gericht im vorliegenden Fall durchgeführte Untersuchung betrifft, stellt der GH fest, dass zwar die Aufgabe dieses Gerichts darin bestand, über den Antrag auf Gewährung einer Überprüfung zu entscheiden, es aber nichtsdestotrotz einige Aspekte der umstrittenen Angelegenheit der Abwesenheit der Bf. von der Verhandlung über ihre Berufung und die Konsequenzen ihrer Abwesenheit für die Gültigkeit ihrer Verurteilung in der Sache neu einschätzte.

(71) Das Oberste Gericht stellte daher fest, dass das Urteil des Rechtsmittelgerichts nicht mit dem Urteil des GH unvereinbar war. Es untermauerte diese Feststellung mit seiner eigenen Auslegung des Urteils des GH, indem es darlegte, der GH habe »von vornherein jede Möglichkeit ausgeschlossen, dass seine Entscheidung ernste Zweifel hinsichtlich der Verurteilung aufwerfen könne«. Obwohl es anerkannte, dass die Abwesenheit der Bf. von der Verhandlung über ihre Berufung ihre Verteidigungsrechte verletzt hatte, entschied das Oberste Gericht, dass der GH diesen Mangel durch den Zuspruch eines Geldbetrags als gerechte Entschädigung voll und ausreichend wiedergutgemacht hätte. Angesichts der Schlussfolgerung, wonach die Gültigkeit der Verurteilung keinen ernsten Zweifeln unterlag, musste es das Urteil des Rechtsmittelgerichts bestätigen.

(72) Angesichts ihres Umfangs ist der GH der Ansicht, dass die Prüfung durch das Oberste Gericht als Erweiterung des mit dem Urteil vom 19.12.2007 abgeschlossenen Verfahrens anzusehen ist. Das Oberste Gericht konzentrierte sich noch einmal auf die Entscheidung iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK über die gegen die Bf. erhobene strafrechtliche Anklage. Folglich waren die Garantien von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfahren vor dem Obersten Gericht anwendbar.

Schlussfolgerung

(73) Die Einrede der Regierung, dem GH fehle ratione materiae die Jurisdiktion, die Beschwerde [...] unter Art. 6 EMRK in der Sache zu prüfen, muss verworfen werden.

(74) Weiters stellt der GH fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Er erklärt die Beschwerde daher für zulässig (mehrstimmig; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Raimondi, Nußberger, De Gaetano, Keller, Mahoney, Kjølbro und O’Leary).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(84) [...] Nach der ständigen Rechtsprechung des GH [...] sollten Urteile von Gerichten und Tribunalen die Gründe, auf denen sie beruhen, in angemessener Weise nennen. Der Umfang dieser Begründungspflicht kann je nach Art der Entscheidung variieren und muss im Licht der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden. Ohne eine detaillierte Antwort auf jedes vom Antragsteller vorgebrachte Argument zu erfordern, bedingt diese Verpflichtung, dass Parteien eines gerichtlichen Verfahrens erwarten können, eine spezifische und ausdrückliche Antwort auf jene Argumente zu bekommen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind. In Fällen, die sich auf einen Eingriff in ein durch die Konvention geschütztes Recht beziehen, versucht der GH überdies festzustellen, ob die für Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte gelieferten Begründungen automatisch oder stereotyp sind. [...]

Anwendung im vorliegenden Fall

(85) Aus der oben genannten Rechtsprechung ergibt sich, dass eine innerstaatliche gerichtliche Entscheidung nicht als in einer die Fairness des Verfahrens beeinträchtigenden Weise willkürlich qualifiziert werden kann, solange sie nicht unbegründet ist oder die Gründe auf einem offensichtlichen Tatsachen- oder Rechtsirrtum des innerstaatlichen Gerichts beruhen, was zu einer Rechtsverweigerung führt.

(86) Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die Begründung der Entscheidung des Obersten Gerichts den Standards der Konvention entsprach.

(87) [...] Weder Art. 6 noch irgendein anderer Artikel der Konvention sieht eine generelle Verpflichtung vor, alle Entscheidungen zu begründen, mit denen außerordentliche Rechtsbehelfe für unzulässig erklärt werden. Das innerstaatliche Recht kann solche Entscheidungen davon befreien, Gründe zu nennen. Wo allerdings ein innerstaatliches Gericht bei der Behandlung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs über eine strafrechtliche Anklage entscheidet und Gründe für diese Entscheidung anführt, muss diese Begründung den Anforderungen von Art. 6 EMRK [...] entsprechen.

(88) [...] Das Oberste Gericht stellte in seinem Urteil vom 21.3.2012 fest, dass eine Überprüfung des Urteils des Rechtsmittelgerichts im Lichte von Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO aus dem von der Bf. geltend gemachten Grund nicht gewährt werden könnte. Es war der Ansicht, dass der vom GH festgestellte Verfahrensmangel zwar einen Einfluss auf die Verurteilung der Bf. gehabt haben könnte, aber nicht ausreichend schwerwiegend gewesen wäre, um die Verurteilung als mit dem Urteil des GH unvereinbar anzusehen.

(89) Wie der GH feststellt, setzte sich die Begründung der umstrittenen Entscheidung mit den wesentlichen Argumenten der Bf. auseinander. Nach der Auslegung von Art. 449 Abs. 1 lit. g StPO durch das Oberste Gericht führen Unregelmäßigkeiten im Verfahren wie jene, die im vorliegenden Fall festgestellt wurden, nicht zu einem automatischen Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens.

(90) Der GH erachtet diese Auslegung des anwendbaren portugiesischen Rechts, die dazu führt, die Situationen, die Anlass für eine Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Strafverfahren geben können, zu begrenzen oder sie zumindest von den innerstaatlichen Gerichten zu beurteilenden Kriterien zu unterwerfen, nicht als willkürlich.

(91) [...] Unterstützt wird diese Auslegung durch die ständige Rechtsprechung des GH, wonach die Konvention kein Recht auf Wiederaufnahme von Verfahren oder auf irgendeine andere Art von Rechtsbehelfen garantiert, mit denen rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen aufgehoben oder überprüft werden können, sowie durch das Fehlen eines einheitlichen Zugangs der Mitgliedstaaten hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Gestaltung bestehender Mechanismen zur Wiederaufnahme. Außerdem erinnert der GH daran, dass eine Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK generell keine fortdauernde Situation begründet und dem belangten Staat keine fortdauernde prozessuale Verpflichtung auferlegt.

(92) Was die Auslegung des vom GH 2011 erlassenen Urteils durch das Oberste Gericht betrifft, betont die GK, dass die Kammer in diesem Urteil feststellte, dass eine Erneuerung oder Wiederaufnahme des Verfahrens, falls beantragt, »grundsätzlich einen angemessenen Weg zur Wiedergutmachung der Verletzung« darstellte. Eine Erneuerung oder Wiederaufnahme wurde somit als eine angemessene Lösung beschrieben, nicht aber als eine notwendige oder ausschließliche. Außerdem schränkt die Verwendung des Ausdrucks »grundsätzlich« den Umfang dieser Empfehlung ein, indem angedeutet wird, dass eine Erneuerung oder Wiederaufnahme in manchen Situationen keine angemessene Lösung sein kann.

(93) Dieser Teil des Urteils und insbesondere die Worte »grundsätzlich« und »allerdings« zeigen, dass der GH davon Abstand nahm, bindende Hinweise zur Umsetzung seines Urteils zu geben und sich stattdessen dafür entschied, dem Staat in diesem Bereich einen großen Handlungsspielraum zu gewähren. [...]

(94) Folglich erschien die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht als einziger Weg zur Umsetzung des Urteils des GH vom 5.7.2011. Allenfalls stellte es die wünschenswerteste Option dar, deren Zweckmäßigkeit von den innerstaatlichen Gerichten unter Berücksichtigung des portugiesischen Rechts und der besonderen Umstände des Falls zu beurteilen war.

(95) Das Oberste Gericht analysierte in seiner Begründung des Urteils vom 21.3.2012 das Urteil des GH vom 5.7.2011. [...] Angesichts des Ermessensspielraums, der den innerstaatlichen Behörden bei der Auslegung der Urteile des GH zukommt und der Grundsätze hinsichtlich der Umsetzung seiner Urteile erachtet es der GH nicht als notwendig, sich zur Gültigkeit dieser Interpretation zu äußern.

(96) Tatsächlich ist es für den GH ausreichend, sich zu vergewissern, dass das Urteil vom 21.3.2012 nicht willkürlich war, die Richter des Obersten Gerichts also das Urteil des GH nicht verzerrt oder missinterpretiert haben.

(97) Der GH kann nicht erkennen, dass die Auslegung seines Urteils aus 2011 durch das Oberste Gericht insgesamt betrachtet das Ergebnis eines offensichtlichen Tatsachen- oder Rechtsirrtums war, der zu einer Rechtsverweigerung geführt hätte.

(98) Angesichts des Grundsatzes der Subsidiarität und der Formulierung seines Urteils aus 2011 ist der GH der Ansicht, dass die Weigerung des Obersten Gerichts, das Verfahren wie von der Bf. beantragt wiederaufzunehmen, nicht willkürlich war. Das Urteil des Obersten Gerichts vom 21.3.2012 bietet eine ausreichende Angabe der Gründe, auf denen es beruht. Diese Gründe fallen in den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Behörden und verzerrten nicht die Feststellungen des Urteils des GH.

(99) Der GH betont, dass die obigen Überlegungen nicht dazu gedacht sind, die Wichtigkeit der Sicherstellung von innerstaatlichen Verfahren zu schmälern, mit denen ein Fall im Lichte einer Feststellung, wonach Art. 6 EMRK verletzt worden ist, neu geprüft werden kann. Solche Verfahren können vielmehr als wichtiger Aspekt der Umsetzung seiner Urteile angesehen werden und ihre Verfügbarkeit zeigt das Bekenntnis eines Mitgliedstaats zur EMRK und zur Rechtsprechung des GH.

(100) Angesichts dieser Überlegungen kommt der GH zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden hat (9:8 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque, gefolgt von den Richterinnen und Richtern Karakas, Sajó, Lazarova Trajkovska, Tsotsoria, Vehabovic und Kuris; abweichendes Sondervotum von Richter Kuris, gefolgt von Richter Sajó, Richterin Tsotsoria und Richter Vehabovic; abweichendes Sondervotum von Richter Bošnjak; gemeinsames im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Raimondi, Nußberger, De Gaetano, Keller, Mahoney, Kjølbro und O’Leary (Anm: Nach Ansicht dieser Richterinnen und Richter fällt die Behandlung dieser Beschwerde weder in die Jurisdiktion des GH, noch ist Art. 6 EMRK auf das fragliche Verfahren anwendbar. Ihr Votum gegen eine Verletzung von Art. 6 EMRK resultiert somit schon aus der Verneinung der Zulässigkeit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 46 EMRK

(102) Der GH erinnert daran, dass die Frage der Befolgung seiner Urteile durch die Mitgliedstaaten nicht in seine Jurisdiktion fällt, sofern sie nicht im Kontext des in Art. 46 Abs. 4 und Abs. 5 EMRK vorgesehenen Verfahrens aufgeworfen wird.

(103) Soweit die Bf. ein Versäumnis rügt, hinsichtlich der vom GH in seinem Urteil aus 2011 festgestellten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Abhilfe zu schaffen, hat der GH keine Jurisdiktion ratione materiae zur Behandlung der Beschwerde (mehrheitlich).

Vom GH zitierte Judikatur:

Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH v. 30.6.2009 (GK) = NL 2009, 169

Emre/CH (Nr. 2) v. 11.10.2011 = NLMR 2011, 297

Egmez/CY v. 18.9.2012 (ZE)

Bochan/UA (Nr. 2) v. 5.2.2015 (GK) = NLMR 2015, 27

Yaremenko/UA (Nr. 2) v. 30.4.2015

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.7.2017, Bsw. 19867/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 332) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/Moreira.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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