JudikaturJustizBsw1760/15

Bsw1760/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. April 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache T. B. gg. die Schweiz, Urteil vom 30.4.2019, Bsw. 1760/15.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Rechtmäßigkeit einer "fürsorgerischen Unterbringung".

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 25.000,– für immateriellen Schaden, € 7.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Der 1990 geborene Bf. wurde am 24.11.2011 vom Jugendgericht Lenzburg wegen Mord, schwerer Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt. Begleitend ordnete das Gericht als Schutzmaßnahme seine Unterbringung in einer spezialisierten geschlossenen Einrichtung sowie die ambulante Behandlung seiner geistigen Störungen an.

Am 20.6.2012 ordnete das Bezirksamt die fürsorgerische Unterbringung des Bf. im Sicherheitstrakt II der Justizvollzugsanstalt Lenzburg an. Dieser sollte dort eine Behandlung seiner psychischen Störungen erhalten. Am 17.8.2012 wurde er in die genannte Anstalt verlegt. Diese Entscheidung wurde vom Bundesgericht am 5.9.2012 (5A_607/2012) in letzter Instanz bestätigt.

In der gegenständlichen Beschwerde an den EGMR geht es um einen Antrag des Bf. auf Entlassung, der am 10.4.2014 vom Familiengericht abgewiesen wurde. Das Gericht bestätigte seine Unterbringung bis zum April 2015. Diese Entscheidung wurde vom Bundesgericht am 8.7.2014 (5A_500/2014) in letzter Instanz bestätigt. Dieses befand, dass die Bedingungen für eine fürsorgerische Unterbringung des Bf. nach dem früheren Art. 397a ZGB (später Art. 426 ZGB) erfüllt wären und erklärte die diesbezügliche Beschwerde für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 EMRK (hier: Rechtmäßigkeit der Haft), da seine fürsorgerische Unterbringung zwischen April 2014 und April 2015 nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht hätte. Außerdem sei er nicht in einer angemessenen Einrichtung im Sinne der Konvention angehalten worden.

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 EMRK (hier: Rechtmäßigkeit der Haft), da seine fürsorgerische Unterbringung zwischen April 2014 und April 2015 nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht hätte. Außerdem sei er nicht in einer angemessenen Einrichtung im Sinne der Konvention angehalten worden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Zulässigkeit

(47) Da die Rügen des Bf. nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

(55) Zunächst beobachtet der GH, dass der Bf. wegen reiner Fremdgefährdung im Sicherheitstrakt der Justizanstalt untergebracht wurde. Überdies scheint der Bf. zumindest nach den dem GH vorliegenden Dokumenten nie ein aggressives Verhalten gegenüber dem Personal der Anstalt an den Tag gelegt noch während seiner Anhaltung irgendwelche Drohungen geäußert zu haben.

(56) Es ist angezeigt zu prüfen, ob das Schweizer Recht eine gesetzliche Basis für diesen Grund zur Unterbringung vorsieht.

(57) Diesbezüglich bemerkt der GH, dass das Jugendstrafrecht (insbesondere Art. 19 des Jugendstrafgesetzes) nicht als gesetzliche Grundlage für die Haft des Bf. dienen konnte. [...] Desgleichen beobachtet er, dass der Bf. keine ernstzunehmenden Drohungen äußerte (Art. 221 StPO) und keine ernste, unmittelbare und nicht anders abwendbare Gefahr darstellte (Art. 36 der Bundesverfassung), die eine Strafhaft oder eine Maßnahme auf Basis der polizeilichen Generalklausel legitimieren konnte. Im Übrigen bemerkt er, dass andere gesetzliche Grundlagen des Strafrechts und des polizeilichen Verwaltungsrechts im vorliegenden Fall nicht in Frage kommen.

(58) Der GH hält fest, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts die Bedingungen für die fürsorgerische Unterbringung [...] vollständig im ZGB geregelt sind. Gemäß Art. 426 ZGB wird die Unterbringung (wie schon im früheren Art. 397a ZGB) unter anderem angeordnet, wenn die betroffene Person an psychischen Störungen leidet, die eine Behandlung oder Betreuung verlangen und die ihr nur in einer geeigneten Einrichtung gewährt werden können. Diese Bedingungen sind kumulativ.

(59) Im vorliegenden Fall hält der GH im Hinblick auf die erste Bedingung fest, dass immer wieder schlüssig medizinisch festgestellt wurde, dass der Bf. geistige Störungen aufwies, nämlich schwere antisoziale Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Sadismus. Folglich erlaubt nichts es dem GH daran zu zweifeln, dass diese Bedingung des Art. 426 ZGB, die seiner Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK entspricht, um ein Individuum als »psychisch krank« zu qualifizieren, im vorliegenden Fall erfüllt ist.

(60) Der GH beobachtet, dass die zweite Bedingung, nämlich der Bedarf persönlicher Betreuung oder Behandlung, das therapeutische Ziel betrifft, welches das Hauptziel und den Leitfaden für die Intervention der Behörden darstellt: Die betroffene Person zu schützen und ihr die Hilfe zu gewähren, derer sie bedarf, insbesondere, wenn sie sich selbst gefährdet. Es muss eine kausale Verbindung zwischen dem Grund für die Unterbringung und deren Notwendigkeit bestehen. Desgleichen erlaubt es das Kriterium des Bedürfnisses persönlicher Betreuung, die Unterbringung nach Art. 426 ZGB von anderen Formen der Unterbringung zu unterscheiden, die von einer Straf- oder Verwaltungsbehörde verhängt werden und polizeiliche Maßnahmen darstellen. Diese verfolgen ein anderes Ziel: Öffentliche Interessen und insbesondere vor Fremdgefährdung zu schützen.

(61) Der GH hält fest, dass es in den kantonalen Regimen der administrativen Versorgung manchmal eine Überschneidung zwischen diesen beiden Schutzzielen gab, die der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des ehemaligen Art. 397a ZGB eindeutig auflösen wollte. Er hält auch fest, dass Art. 426 ZGB [...] dasselbe Ziel verfolgt.

(62) Dennoch befindet der GH, dass die Bedenken im Hinblick auf die persönliche Betreuung und die Überlegungen betreffend die Sicherheit in Art. 426 Abs. 2 ZGB auf gewisse Weise miteinander verwoben sind, da dieser vorsieht, dass die Behörde die Belastung berücksichtigt, welche die betreffende Person für ihre Angehörigen und Dritte darstellt, ebenso wie deren Schutz.

(63) Der GH bemerkt, dass der Bundesrat die Reichweite dieser Bestimmung präzisiert hat, und zwar in dem Sinne, dass der Schutz von Dritten ein zusätzliches Element bei der Beurteilung der Situation darstellen kann, aber »für sich alleine nicht entscheidend ist«. Diesbezüglich muss die zuständige Behörde in jedem konkreten Fall zu einer Interessenabwägung schreiten: Einerseits der persönlichen Freiheit der betroffenen Person, deren Zustand es verlangt, dass ihr Hilfe gewährt wird (Selbstgefährdung), und andererseits der Persönlichkeitsrechte der Angehörigen und Dritter (Fremdgefährdung). Trotzdem kann das alleinige Bedürfnis, die Gesellschaft vor der betreffenden Person zu schützen, nicht eine fürsorgliche Unterbringung rechtfertigen. Desgleichen bemerkt der GH, dass das Bundesgericht in seinem Grundsatzurteil [vom 5.9.2012] ausdrücklich betont hat, dass eine Freiheitsentziehung zur fürsorglichen Unterbringung aus dem alleinigen Grund der Gefährdung von anderen Personen vom Gesetz nicht vorgesehen war und keinen Unterbringungsgrund darstellte. Daraus folgt, dass Art. 426 Abs. 2 ZGB die Haft des Bf. [...] auch nicht rechtfertigen kann.

(64) Diese Elemente genügen dem GH um festzustellen, dass der Bf. in der Justizvollzugsanstalt ohne gesetzliche Grundlage und rein präventiv angehalten wurde. Angesichts des Umstands, dass die in den lit. a bis f des Art. 5 Abs. 1 EMRK vorgesehenen Haftgründe eng ausgelegt werden müssen, ändert die von den Schweizer Behörden gefundene »Lösung«, die zu weit formuliert ist (»wer die Sicherheit von anderen gefährdet, bedarf einer persönlichen Betreuung«) und keine nähere Begründung aufweist, daran nichts, auch nicht wenn wie im vorliegenden Fall außergewöhnliche Gründe gegeben sind.

(65) Der GH bemerkt, dass der Schweizer Gesetzgeber bestrebt ist, diese Lücke zu schließen und dass gesetzgeberische Arbeiten im Gang sind.

(66) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass die fürsorgliche Unterbringung des Betroffenen während des Zeitraums von April 2014 bis April 2015 im Sicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt nicht auf die gesetzlich vorgeschrieben Weise erfolgte. Folglich kommt er zu dem Urteil, dass es nicht mehr notwendig ist, die Frage zu behandeln, ob die genannte Einrichtung angemessen war.

(67) Deshalb gelangt der GH zum Schluss, dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgte (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 25.000,– für immateriellen Schaden; € 7.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 650

Del Rio Prada/E v. 21.10.2013 (GK) = NLMR 2013, 358

S., V. und A./DK v. 22.10.2018 (GK) = NLMR 2018, 409

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.4.2019, Bsw. 1760/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 125) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
5