JudikaturJustizBsw17257/13

Bsw17257/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Mai 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Sine Tsaggarakis A.E.E. gg. Griechenland, Urteil vom 23.5.2019, Bsw. 17257/13.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Rechtsprechungsdivergenz zwischen verschiedenen Kammern des obersten Verwaltungsgerichts.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.000,– für immateriellen Schaden, € 5.000,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Die bf. Gesellschaft betrieb in Heraklion ein Multiplex-Kino. Als konkurrierenden Unternehmen in einem benachbarten Stadtteil Genehmigungen für die Errichtung und den Betrieb eines weiteren Multiplex erteilt wurden, erhob das bf. Unternehmen am 30.10.2007 eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen die entsprechenden Entscheidungen an den Staatsrat. Es behauptete, dass die Genehmigungen unrechtmäßig erteilt worden wären, da das entsprechende Gebäude in einem lediglich für die Errichtung von Privatwohnungen bestimmten Bereich errichtet und die Betriebsgenehmigung überdies gewährt worden wäre, ohne dass die Behörden zuvor die gesetzlich vorgesehene Umweltprüfung vorgenommen hätten. Der illegale Betrieb des Multiplex würde zu unlauterem Wettbewerb führen.

Mit Urteil Nr. 2.375/2010 stellte die vierte Kammer des Staatsrates fest, dass die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung eines Kinos von der Verwaltung anlässlich der Erteilung der Betriebsgenehmigung aufgrund des Grundsatzes des Vertrauensschutzes nicht erneut geprüft werden könne. Die Kammer bemerkte allerdings, dass es eine Rechtsprechungsdivergenz zwischen ihr und der fünften Kammer des Staatsrates im Hinblick auf die Frage gab, ob im Stadium der Erteilung der Betriebsgenehmigung eine entsprechende Prüfung möglich war. Die fünfte Kammer hatte dies in ihrem Urteil Nr. 1.528/2008 bejaht. Deshalb entschied die vierte Kammer, den Fall an das Plenum des Staatsrates zu verweisen. Dieses folgte am 20.6.2011 (Nr. 1.792/2011) dem Ansatz der fünften Kammer und betonte, dass eine entsprechende Prüfung zur Wahrung des verfassungsmäßigen Grundsatzes des Umweltschutzes sowohl im Zuge der Erteilung der Baugenehmigung als auch im Zusammenhang mit der Erteilung der Betriebslizenz erfolgen könne. Das Plenum verwies den Fall daraufhin an die vierte Kammer zurück.

Am 28.8.2012 wies Letztere (Urteil Nr. 3.064/2012) die Nichtigkeitsbeschwerde des bf. Unternehmens ab und folgte dabei ihrer ursprünglichen Argumentationslinie.

Zwischenzeitlich hatte das bf. Unternehmen die Stadtverwaltung erfolglos ersucht, das Multiplex der Konkurrenz zu sperren. Gegen diese Untätigkeit erhob es am 2.2.2009 eine Nichtigkeitsbeschwerde an den Staatsrat. Dessen fünfte Kammer gab der Beschwerde am 18.8.2014 (Nr. 2.738/2014) statt und verwies den Fall an die Stadtverwaltung zurück, damit diese das Multiplex sperrte. Letztere vollstreckte diese Entscheidung hingegen nicht, da das betreibende Unternehmen mittlerweile einen Antrag auf Legalisierung des Baus gestellt hatte. Eine Beschwerde des bf. Unternehmens wegen der Nichtvollstreckung des Urteils Nr. 2.738/2014 an den dreiköpfigen Ausschuss des Staatsrates, der für die Überwachung der korrekten Exekution von Urteilen des Letzteren zuständig ist, blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Das bf. Unternehmen rügte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) durch die widersprüchlichen Urteile des Plenums (Urteil Nr. 1.792/2011) und der vierten Kammer (Urteil Nr. 3.064/2012) des Staatsrates. Daneben rügte es auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde), da das griechische Recht keinen Rechtsbehelf geboten hätte, um gegen diese Rechtsprechungsdivergenz vorzugehen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(33) Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich; abweichende Sondervoten der Richter Wojtyczek und Eicke).

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK

(35) Der GH erinnert daran, dass für die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt eine »Streitigkeit« über ein »Recht« existieren muss, von dem man zumindest vertretbarer Weise behaupten kann, dass es im innerstaatlichen Recht anerkannt ist – und zwar unabhängig davon, ob dieses Recht von der Konvention geschützt wird oder nicht. [...]. Schließlich muss der Ausgang des Verfahrens für dieses Recht direkt entscheidend sein, während eine schwache Verbindung oder nur entfernte Auswirkungen nicht ausreichen, um Art. 6 Abs. 1 EMRK ins Spiel zu bringen.

(39) Scheint die Streitigkeit auf den ersten Blick auch eine Frage der Wahrung der Rechtmäßigkeit zu betreffen, so befindet der GH, dass die Beschwerde des bf. Unternehmens nicht mit einer actio popularis verglichen werden kann. Tatsächlich brachte es außer Argumenten betreffend die allgemeine Rechtmäßigkeit der strittigen Genehmigungen auch solche vor, welche die Achtung der Umweltbedingungen sowie die Auswirkungen des Betriebs des fraglichen Multiplex auf seine vermögenswerten Interessen wegen angeblich unlauteren Wettbewerbs betrafen.

(40) Der GH befindet, dass die »Streitigkeit«, um die es im vorliegenden Fall geht, für die zivilen Rechte (nämlich die vermögenswerten Interessen) des bf. Unternehmens entscheidend war. Der von Letzterem angeführte unlautere Wettbewerb stand mit dem Verlust der Kunden in Verbindung, den es aufgrund des Betriebs eines Multiplex, das illegal in der Nähe seines Kinos erbaut worden war, begonnen hatte zu erleiden. Der GH erinnert daran, dass er in seiner Rechtsprechung zu Art. 1 1. Prot. EMRK bereits festgestellt hat, dass der Kundenstamm, der in vielerlei Hinsicht den Charakter eines zivilen Rechts aufweist, einen Vermögenswert und daher Eigentum darstellt. [...] Das gleiche gilt für das Kino des bf. Unternehmens, das im Laufe seines langjährigen Betriebs seinen eigenen Kundenstamm aufbaute. Folglich hatte die »Streitigkeit« eindeutig beträchtliche Auswirkungen auf seine zivilen Rechte, da sie sich auf den Schutz seiner vermögenswerten Interessen bezog.

(41) Zudem wurde die Aktivlegitimation des bf. Unternehmens [...] im Verfahren nie in Frage gestellt. [...]

(42) Unter den Umständen des Falles, insbesondere unter Berücksichtigung des Gegenstands der Beschwerde, der Natur der angegriffenen Akte und der Aktivlegitimation des bf. Unternehmens hatte die von ihm verursachte Streitigkeit eine ausreichende Verbindung mit einem ihm zukommenden »zivilen Recht«. Deshalb war der Ausgang des Verfahrens vor dem Staatsrat direkt entscheidend für das fragliche Recht. Eine für das bf. Unternehmen günstige Entscheidung hätte nämlich die Schließung des konkurrierenden Multiplex mit sich gebracht. Dies war in Wirklichkeit das Ziel, welches das bf. Unternehmen mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde verfolgte.

(43) Der GH hält fest, dass im vorliegenden Fall alle Kriterien erfüllt sind, die in seiner Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt festgelegt [...] wurden, und kommt zum Schluss, dass Art. 6 EMRK anzuwenden ist.

Einhaltung von Art. 6 EMRK

(48) [...] Die Kriterien, die den GH bei seiner Beurteilung der Voraussetzungen leiten, unter denen widersprüchliche Entscheidungen unterschiedlicher innerstaatlicher Gerichte, die in letzter Instanz entscheiden, die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bewirken, bestehen darin erstens zu entscheiden, ob in der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte »tiefgreifende und andauernde Divergenzen« bestehen; zweitens, ob das innerstaatliche Recht Mechanismen vorsieht, um diese Widersprüche zu beseitigen; und drittens, ob diese Mechanismen angewendet wurden und welche Auswirkungen ihre Anwendung gegebenenfalls hatte.

(49) Der GH hält zunächst fest, dass die Rolle eines Höchstgerichts darin besteht, Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den in der Sache entscheidenden Gerichten desselben Zweiges der Gerichtsbarkeit zu bereinigen. Die Rolle des Plenums eines Höchstgerichts wie dem Staatsrat besteht vor allem darin, die Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dessen verschiedenen Kammern zu klären und die endgültige Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung festzulegen, um damit die rechtliche Unsicherheit zu beseitigen, die in dem Bereich existieren konnte. In der griechischen Verwaltungsrechtsordnung spiegelt sich dieser Grundsatz in Art. 14 des Dekrets Nr. 18/1989 wider.

(51) Erstens gab es eine »tiefgreifende und andauernde« Divergenz zwischen der Rechtsprechung der vierten und der fünften Kammer des Staatsrates im Hinblick auf die Frage, ob es möglich oder sogar notwendig war, die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung anlässlich der Prüfung der Rechtmäßigkeit und Erteilung der Betriebsgenehmigung erneut zu untersuchen. Diese Divergenz existierte seit mehreren Jahren [...]. Sie berührte zudem Fragen von allgemeinem Interesse, da sie mehrere ähnliche Fälle betraf und sich auf die Achtung sehr wichtiger verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Grundsätze durch die Verwaltung bezog.

(52) Was zweitens das Bestehen eines Mechanismus in der griechischen Verwaltungsrechtsordnung betrifft, um die Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den verschiedenen Verwaltungsgerichten oder den verschiedenen Kammern des Staatsrates zu beseitigen, hält der GH fest, dass diese Funktion dem Plenum des höchsten Verwaltungsgerichts zukommt.

(53) Im vorliegenden Fall war das Plenum in seinem Urteil Nr. 1.792/2011 dazu aufgerufen, sich zu der entscheidenden Rechtsfrage zu äußern, die der Rechtsprechungsdivergenz zwischen der vierten und fünften Kammer zugrunde lag, nämlich ob der Grundsatz des Vertrauensschutzes den Grundsatz des Umweltschutzes verdrängte, so wie dieser über die Vorschriften zur Städteplanung realisiert wird. Die fünfte Kammer hatte Stellung zugunsten des Vorrangs des Umweltschutzes bezogen, die vierte Kammer sich für den Vorrang des Vertrauensschutzes ausgesprochen.

(54) Das Plenum befand, dass die Kontrolle der Möglichkeit, das Multiplex zu errichten, »erfolgen müsse« – und damit anders gesagt also nicht nur erlaubt, sondern notwendig war –, und zwar sowohl im Stadium der Erteilung der Baugenehmigung als auch anlässlich der Erteilung der Betriebsgenehmigung. Damit sollte das Ziel verfolgt werden, das von Art. 24 der Verfassung garantierte Prinzip des Schutzes der Umwelt besser einzuhalten. Zum vorliegenden Fall betonte das Plenum, dass ein Multiplex sich aus Sicht des Städtebaus und im Hinblick auf die Folgen für die Gestaltung des Stadtteils von einem einfachen Kino unterscheidet. Es betonte ebenfalls, dass die Frage nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Stabilität verwaltungsrechtlicher Situationen [...] »sich im vorliegenden Fall nicht einmal stellt, da diese Grundsätze nicht angewendet werden können, wenn eine Situation unter Verletzung von verfassungsmäßigen Vorschriften geschaffen wurde«.

(55) Anders ausgedrückt entschied das Plenum auf der Grundlage der Normenhierarchie und schloss dabei Abweichungen aus, die vollendete Tatsachen schaffen konnten. Es bevorzugte damit die Logik, welche die Rechtsprechung der fünften Kammer geleitet hatte. Der GH beobachtet auch, dass das Urteil des Plenums sich nicht auf eine abstrakte Aufzählung der anwendbaren Prinzipien beschränkte, sondern die Schlüsselfrage des fraglichen Streits entschied [...].

(56) Was drittens die Frage der Wirksamkeit des Mechanismus angeht, stellt der GH fest, dass die vierte Kammer, als sie erneut urteilte, die Position des Plenums zwar wiederholte, aber tatsächlich auf der Linie ihrer alten Rechtsprechung entschied und dafür »außergewöhnliche Umstände« ins Treffen führte, die im vorliegenden Fall die Annahme einer vollendeten Tatsache im Interesse des Grundsatzes des Vertrauensschutzes rechtfertigen würden. Nun aber hatte das Plenum die Besonderheiten des Falles bereits berücksichtigt und die Anwendung des Prinzips des Vertrauensschutzes sofort ausgeschlossen, da es befunden hatte, dieses müsse dem verfassungsmäßigen Grundsatz des Umweltschutzes weichen. Was die fünfte Kammer betrifft, so führte diese in ihrem Urteil Nr. 2.738/2014 ebenfalls ihre Logik im Zusammenhang mit dem Umweltschutz fort [...]. In der Tat hat sie in Anwendung [der entsprechenden] Gesetze die Versiegelung des Multiplex angeordnet.

(57) Es trifft zwar zu, dass sich der Gegenstand der Beschwerde des bf. Unternehmens vor der vierten und der fünften Kammer technisch unterscheidet. Das ändert nichts daran, dass die beiden Beschwerden tatsächlich dasselbe Ziel verfolgten, nämlich die Einstellung des Betriebs eines Unternehmens, der in einem großen Gebäude erfolgte, das auf einem allein für Privatwohnungen bestimmten Gelände errichtet worden war. Daraus resultierte eine Situation, nach der das Urteil der vierten Kammer den normalen Betrieb des Multiplex erlaubte, während jenes der fünften Kammer die Beendigung dieses Betriebs durch die Versiegelung des Multiplex anordnete. Außerdem verschlimmerte sich die Situation noch durch die Weigerung der Stadtverwaltung, dem Urteil der fünften Kammer zu entsprechen. Diese Weigerung wurde vom dreiköpfigen Ausschuss des Staatsrates [...] auf gewisse Weise akzeptiert [...].

(58) Es wird damit offensichtlich, dass die Divergenz zwischen der vierten und der fünften Kammer über Jahre hinweg andauerte und trotz der Intervention des Plenums des Staatsrates immer noch besteht. Daraus resultierte somit eine Situation rechtlicher Unsicherheit, welche die Unwirksamkeit des Mechanismus zur Harmonisierung der Rechtsprechung zeigt. Letztere hätte im vorliegenden Fall durch die Verweisung der Sache an das Plenum des Staatsrates bewirkt werden müssen.

(59) [...] Der GH stellt fest, dass im vorliegenden Fall die Bedingungen nicht erfüllt sind, die er im Bereich der Rechtssicherheit festgelegt hat.

(60) Es erfolgte deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Wojtyczek und Eicke).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.000,– für immateriellen Schaden, € 5.ooo,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Nejdet Sahin und Perihan Sahin/TR v. 20.10.2011 (GK) = NLMR 2011, 311

Ferreira Santos Pardal/P v. 30.7.2015

Hayati Çelebi u.a./TR v. 9.2.2016

Bursa Barosu Baskanligi u.a./TR v. 19.6.2018

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.5.2019, Bsw. 17257/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 207) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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