JudikaturJustizBsw16563/11

Bsw16563/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Januar 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Arribas Antón gg. Spanien, Urteil vom 20.1.2015, Bsw. 16563/11.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nur bei "besonderer verfassungsrechtlicher Bedeutung".

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Unzulässigkeit der amparo-Beschwerde (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der sonstigen behaupteten Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Mit Entscheidung vom 12.7.2002 verhängte der Direktor des psychiatrischen Krankenhauses Zamudio eine Disziplinarstrafe gegen den dort als Pflegehelfer tätigen Bf., da er es als erwiesen ansah, dass dieser versucht hätte, zu uneinvernehmlichem Geschlechtsverkehr mit Patienten zu kommen. Dem Bf. wurde für ein Jahr untersagt, in psychiatrischen Krankenhäusern zu arbeiten.

Nachdem die Verwaltungsbeschwerde gegen diese Maßnahme vom Generaldirektor des baskischen Gesundheitsdienstes zurückgewiesen worden war, rief der Bf. das Gericht in Bilbao an. Dieses hob die Sanktion gegen den Bf. mit Urteil vom 15.5.2003 auf.

Der Oberste Gerichtshof des Baskenlandes wies die Berufung des baskischen Gesundheitsdienstes gegen dieses Urteil am 31.3.2005 zurück und ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens an, da der Bf. nicht ausreichend über die der Sanktion unterliegenden Handlungen informiert worden wäre, so dass er sich nicht verteidigen hätte können.

Der Direktor des psychiatrischen Krankenhauses Zamudio verhängte daraufhin am 9.11.2005 erneut ein einjähriges Arbeitsverbot in psychiatrischen Krankenhäusern gegen den Bf. Dessen Verwaltungsbeschwerde wurde ebenso zurückgewiesen wie dessen nachfolgenden Berufungen an das Gericht in Bilbao (am 19.2.2007) und den Obersten Gerichtshof des Baskenlandes (am 9.2.2010). Letzterer untersuchte dabei im Detail die Behauptung des Bf. im Hinblick auf die bereits gegebene Rechtskraft des Urteils vom 31.3.2005, befand jedoch, dass es sich dabei nicht um einen Freispruch handelte, sondern nur über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsverfahrens entschieden worden sei, womit keine Gefahr bestünde, dass es zwischen den beiden Verfahren zu einem Widerspruch kommen könnte.

Die Nichtigkeitsbeschwerde gegen diese Entscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof des Baskenlandes am 28.5.2010 zurückgewiesen. Am 9.7.2010 rief der Bf. das Verfassungsgericht mit einer amparo-Beschwerde an, die am 13.9.2010 für unzulässig erklärt wurde, da der Bf. nicht dargetan hätte, dass seine Beschwerde eine »besondere verfassungsrechtliche Bedeutung« hatte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) durch die Unzulässigkeit seiner amparo-Beschwerde, da die Begründung dafür übermäßig formell gewesen sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Unzulässigkeit der amparo-Beschwerde

(25) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(43) [...] Die Entscheidung des Verfassungsgerichts stützte sich auf [...] Art. 50 Abs. 1 lit. b Verfassungsgerichtsgesetz [...].

(44) [...] Der Bf. gibt an, durch einen Unzulässigkeitsgrund, der durch das Gesetz Nr. 6/2007 vom 24.5.2007 eingeführt wurde und der für jeden Beschwerdeführer einer amparo-Beschwerde die Verpflichtung festlegt zu zeigen, dass diese eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung hat, seines Rechts auf Zugang zum Verfassungsgericht beraubt worden zu sein. Er hält diesen Grund für übermäßig formell.

(45) Der GH betont, dass der Bf. seine amparo-Beschwerde am 9.7.2010 eingebracht hat, nach den Entscheidungen Nr. 188/2008 vom 21.7.2008 und Nr. 289/2008 vom 22.9.2008 und dem Urteil Nr. 155/2009 vom 25.6.2009 des Verfassungsgerichts. Diese Entscheidungen und das Urteil haben den Wortlaut der neuen Art. 49 Abs. 1 und 50 Abs. 1 lit. b des Gesetzes Nr. 6/2007 vom 24.5.2007 [...] präzisiert. Bereits in der Begründung zu dem Gesetz wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer »vorbringen und beweisen« musste, »dass der Inhalt seiner Beschwerde aufgrund der besonderen verfassungsrechtlichen Bedeutung, die diese Beschwerde für die Auslegung, Anwendung oder allgemeine Wirksamkeit der Verfassung hat, eine inhaltliche Entscheidung des Verfassungsgerichts [erforderte]«. Ab dieser gesetzlichen Änderung muss ein Beschwerdeführer einer amparo-Beschwerde, damit diese für zulässig erklärt wird, die Zulässigkeitskriterien nach den Art. 41 bis 46 und 49 Verfassungsgerichtsgesetz erfüllen und insbesondere die zwingende Verpflichtung gemäß Art. 49 Abs. 1 in fine achten, wonach er zeigen muss, dass seine Beschwerde eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung hat.

(46) Diesbezüglich erinnert der GH daran, dass es ihm nicht zusteht, die Zweckmäßigkeit des von den nationalen Gerichten gewählten Vorgehens bei der Rechtsprechung zu beurteilen, und dass seine Rolle sich darauf beschränkt zu prüfen, ob die Folgen dieser Wahl mit der Konvention im Einklang stehen. Er erinnert auch daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich an die Stelle der nationalen Gerichte zu setzen, und dass es primär bei den nationalen Behörden – vor allem bei den Gerichten und Tribunalen – liegt, die innerstaatliche Gesetzgebung auszulegen. Das trifft besonders zu, wenn es um die Auslegung von verfahrensrechtlichen Regeln durch die Gerichte geht, wie jene, welche die zu beachtenden Fristen – oder wie im vorliegenden Fall Zulässigkeitsvoraussetzungen – festlegen, sei es für das Einreichen von Dokumenten oder für die Erhebung von Beschwerden. Die Reglementierung der zur Erhebung einer Beschwerde zu beachtenden Formalitäten und Fristen zielt insbesondere darauf ab, die Achtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit sicherzustellen. Dieser erfordert einerseits, dass das Verfassungsgericht den Inhalt und die Reichweite des Kriteriums der besonderen verfassungsrechtlichen Bedeutung festlegt [...], und andererseits, dass es seine Anwendung auf die für zulässig erklärten Fälle verdeutlicht, um eine geordnete Rechtspflege sicherzustellen. Die Betroffenen müssen damit rechnen können, dass die diesbezüglich vom Verfassungsgericht getroffenen Entscheidungen angewendet werden. Für den vorliegenden Fall beobachtet der GH, dass der Bf. sich darauf beschränkt, seine Missbilligung der neuen Modalitäten der amparo-Beschwerde zum Ausdruck zu bringen und dass er dem Verfassungsgericht vorwirft, einem zu starken Formalismus verfallen zu sein.

(47) Der GH erinnert diesbezüglich daran, dass es der Konvention nicht zuwiderlaufen kann, dass ein Obergericht eine Beschwerde zurückweist und sich dabei darauf beschränkt, die gesetzlichen Bestimmungen zu zitieren, die ein solches Vorgehen vorsehen, wenn die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen keine besondere Bedeutung haben oder wenn die Beschwerde keine ausreichenden Erfolgsaussichten hat [...].

(48) Was einen behaupteten Mangel in der Begründung des Verfassungsgerichts in Entscheidungen über die Unzulässigkeit von amparo-Beschwerden anbelangt, erinnert der GH daran, dass er bereits entschieden hat, dass die Zurückweisung einer Beschwerde, die allein durch die Bezugnahme auf die auf den Fall anwendbare Bestimmung des Verfassungsgerichtsgesetzes begründet wurde, den Erfordernissen des Art. 6 EMRK genügte und nicht willkürlich war.

(49) Der GH befindet, dass das von der Gesetzesänderung 2007 verfolgte Ziel legitim ist: [...] diese Änderung zielt darauf ab, die Funktion des Verfassungsgerichts zu verbessern und den Schutz der Grundrechte zu stärken, um eine übermäßige Überlastung der Funktion des Verfassungsgerichts durch Fälle minderer Wichtigkeit zu vermeiden. Freilich ist es erforderlich, dass die Unzulässigkeit einer amparo-Beschwerde nicht das Recht des Bf. auf ein »Gericht« iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem Wesen verletzt.

(50) Angesichts der besonderen Funktion, die das Verfassungsgericht als allerletzte Instanz des Grundrechtsschutzes hat, befindet der GH, dass man es zulassen kann, dass das vor diesem Gericht verfolgte Verfahren von mehr Formalismus begleitet wird. Im Übrigen erachtet er, dass die Tatsache, dass die Zulässigkeit einer amparo-Beschwerde vom Vorliegen objektiver Umstände und deren Begründung durch den Beschwerdeführer abhängig gemacht wird – Kriterien, die gesetzlich vorgesehen sind und von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ausgelegt werden, wie die Bedeutung des Falls für die Auslegung, Anwendung oder allgemeine Wirksamkeit der Verfassung oder für die Entscheidung über den Inhalt und die Reichweite der Grundrechte – nicht für sich unverhältnismäßig ist oder gar dem Recht auf Zugang zum Verfassungsgericht widerspricht. Der GH beobachtet, dass das Verfassungsgericht die fraglichen Kriterien flexibel anwendet: es berücksichtigt den Zeitpunkt der Erhebung der amparo-Beschwerde im Vergleich zur Verkündung seines Urteils Nr. 155/2009, das – nicht erschöpfend – Situationen aufzählte, die geeignet waren, eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zu begründen. Der GH betont, dass die objektiven Kriterien, die das Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung präzisieren und anwenden muss, dennoch schon in der Begründung des Gesetzes Nr. 6/2007 [...] erwähnt waren. Im Übrigen hebt er hervor, dass das Verfahren vor dem Verfassungsgericht im vorliegenden Fall auf die Untersuchung des Falls des Bf. durch zwei gerichtliche Instanzen folgte, vor denen er sich verteidigen konnte und die begründete und nicht willkürliche Entscheidungen gefällt haben, nämlich das Gericht von Bilbao in erster Instanz und der Oberste Gerichtshof des Baskenlandes als Berufungsinstanz.

(51) Der GH erinnert im Übrigen daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich an die Stelle der zuständigen nationalen Behörden zu setzen, um das zweckmäßigste Vorgehen im Hinblick auf die Reglementierung des Zugangs zu Beschwerden festzulegen, sondern unter dem Blickwinkel der EMRK die Entscheidungen zu beurteilen, die sie in der Ausübung ihres Ermessensspielraums gefällt haben. Seine Aufgabe besteht daher nicht darin, das Gesetz und die einschlägige Praxis in abstracto zu kontrollieren, sondern zu untersuchen, ob die Art und Weise, wie sie auf den Bf. angewendet wurden, die Konvention verletzte. Daher hält er daran fest zu betonen, dass der Umstand, dass das Verfassungsgericht eine amparo-Beschwerde für unzulässig erklärt hat, weil sie nicht die geforderte besondere verfassungsrechtliche Bedeutung hatte, oder gegebenenfalls, weil der Beschwerdeführer nicht das Vorliegen einer solchen Bedeutung aufgezeigt hat, den GH nicht daran hindert, über die Zulässigkeit und den Inhalt einer Beschwerde zu urteilen, mit der er diesbezüglich angerufen wurde [...].

(52) Im Lichte des Vorgesagten befindet der GH, dass das Recht des Bf. auf Zugang zu einem Gericht nicht in seinem Wesen verletzt wurde. Zudem verfolgten die verwendeten Beschränkungen ein legitimes Ziel. Die Anwendung der fraglichen Beschränkungen hat die Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel nicht verletzt. Aus diesen Gründen befindet der GH, dass der Bf. keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht erlitten hat und keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgte (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

(53) [...] Der Bf. rügt eine Verletzung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aufgrund der Unzulässigkeit seiner amparo-Beschwerde.

(57) Angesichts seiner Feststellungen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK befindet der GH, dass es nicht angezeigt ist zu untersuchen, ob es zu einer Verletzung von Art. 13 EMRK gekommen ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Inhalt des Falls)

(58) [...] Der Bf. rügt auch, dass der Oberste Gerichtshof des Baskenlands in seinem Urteil vom 31.3.2005 extra petita entschieden habe, soweit er über eine Frage befunden habe, die nicht von den Parteien aufgeworfen wurde, nämlich die Aufhebung des Urteils des Gerichts von Bilbao und die Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund eines Verfahrensmangels im Rahmen des disziplinarrechtlichen Verwaltungsverfahrens.

(59) [...] Nichts in der Akte weist darauf hin, dass die spanischen Gerichte das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK verletzt haben.

(60) Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet [...] und als [unzulässig] zurückzuweisen [...] (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Teuschler/D v. 4.10.2001 (ZE)

Beleš u.a./CZ v. 12.11.2002

Greenpeace E. V. u.a./D v. 12.5.2009 (ZE)

Ferré Gisbert/E v. 13.10.2009

Varela Geis/E v. 20.9.2011 (ZE)

Almenara Alvarez/E v. 25.10.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.1.2015, Bsw. 16563/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 24) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_1/arribas.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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