JudikaturJustiz7Ob113/17v

7Ob113/17v – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Dezember 2017

Kopf

D er Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** V*****, vertreten durch Waltl Partner, Rechtsanwälte in Zell am See, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch MUSEY rechtsanwalt gmbh in Salzburg, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 5. April 2017, GZ 22 R 110/17f 28, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Zell am See vom 6. Februar 2017, GZ 16 C 98/16i 24, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger hat bei der Beklagten einen Unfallversicherungsvertrag abgeschlossen. Die Gattin des Klägers ist versicherte Person (fortan nur mehr: Versicherte). Dem Versicherungsvertrag liegen die Klipp Klar Bedingungen für die Unfallversicherung 2010 (UA00) zugrunde. Diese lauten auszugsweise wie folgt:

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

3. Krankheiten gelten nicht als Unfälle. …

Begrenzung des Versicherungsschutzes

In welchen Fällen zahlen wir nicht? – Artikel 20 und 21 Ausschlüsse – Artikel 20

Ausgeschlossen von der Versicherung sind Unfälle:

8. die die versicherte Person infolge einer wesentlichen Beeinträchtigung ihrer psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit durch Alkohol, Suchtgifte oder Medikamente erleidet;

Was ist vor Eintritt eines Versicherungsfalles zu beachten?

Was ist nach Eintritt eines Versicherungsfalles zu tun? –

Artikel 24

2. Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles

Als Obliegenheiten, deren Verletzung unsere Leistungsfreiheit gemäß den Voraussetzungen und Bestimmungen des § 6 Abs. 3 VersVG (Obliegenheitsverletzung) bewirkt, werden bestimmt:

2.1. Ein Unfall ist uns unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche, in geschriebener Form anzuzeigen.

...“.

Die Versicherte gebar am 14. 3. 2014 eine Tochter und entwickelte ab Anfang Juni 2014 psychopathologische Auffälligkeiten, wobei Schlafstörungen im Vordergrund standen. Die Versicherte fühlte sich tagsüber zunehmend erschöpft, nicht mehr in der Lage, ihren Aufgaben gerecht zu werden, wollte nicht mehr alleine bleiben, konnte keine Ruhe mehr finden und sich nicht mehr erholen.

Am 22. 6. 2014 wurden Selbstmordgedanken beschrieben. Es erfolgte eine ambulante Untersuchung an einer psychiatrischen Abteilung mit Einstellung auf Trittico und Seroquel. Trotz dieser Medikation bestanden nach wie vor Schlafstörungen, worauf die Medikation erhöht wurde.

In der Nacht vom 23. auf 24. 6. 2014 hatte die Versicherte den Eindruck, dass die erhöhte Medikamentendosis nicht wirke. Sie hatte massive Angst. Am Morgen nach dem Aufstehen schaute sie in das Kinderbett, öffnete die Balkontüre, stellte einen Sessel an die Brüstung und stürzte sich aus etwa 7 m Höhe vom Balkon auf den Asphalt, wodurch sie schwerste Verletzungen (Polytrauma) erlitt. Die Versicherte erlebte sich dabei rückblickend als gefühllos wie eine „Maschine“.

Zum Vorfallszeitpunkt (24. 6. 2014) litt die Versicherte an einer schweren depressiven Störung im Sinn einer postpartalen (postnatalen) Depression. Der Selbstmordversuch war Auswirkung/Folge dieser Krankheit. Selbstmordhandlungen sind ein Abwendungsverhalten. Die betroffene Person gewinnt die subjektive Überzeugung, nicht mehr in diese Welt zu passen und will aus dem Leben scheiden. Bei Auftreten von Selbstmordgedanken spricht man von einer suizidalen Einengung. Es ist davon auszugehen, dass bereits mit dem Zeitpunkt der Öffnung der Balkontüre und des Anlehnens eines Stuhls an die Brüstung der suizidale Handlungsvollzug einsetzte, sich die Versicherte entschied, Selbstmord zu begehen und sich auch unmittelbar danach dazu entschloss. In der Phase des suizidalen Handlungsvollzugs ist das gesamte Verhalten auf die Selbsttötung ausgerichtet. Aufgrund der psychosewertigen depressiven Verstimmung können hiezu keine Alternativen mehr gesehen werden. Aufgrund mangelnder subjektiv erkennbarer Alternativen kann nicht mehr von einer freien Willensbildung gesprochen werden. Die Versicherte war in der Lage, ihr Handeln zu erkennen, eine Alternative bestand aber nicht, sodass die Dispositionsfähigkeit als aufgehoben bezeichnet werden muss. Die Versicherte konnte in der Phase des suizidalen Abwendungsverhaltens die Gefahr eines Selbstmordversuchs nicht mehr erkennen und auch nicht abwenden. Eine wesentliche Beeinträchtigung der psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit durch Medikamente lag zum Vorfallszeitpunkt nicht vor.

Mit Unfallmeldung vom 13. 8. 2014 wurde der Beklagten der Vorfall mitgeteilt.

Der Kläger begehrte die Feststellung der Deckungspflicht der Beklagten. Es habe ein plötzlich von außen auf den Körper der Versicherten wirkendes Ereignis, nämlich der Sturz, vorgelegen, wobei die Versicherte zum Vorfallszeitpunkt willensunfähig gewesen sei. Der Unfall sei innerhalb angemessener Frist an die beklagte Partei gemeldet worden. Die Fristregelung nach Art 24.2.1. UA00 sei überdies intransparent und gröblich benachteiligend. Die insoweit behauptete Obliegenheitsverletzung gründe gegebenenfalls weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit.

Die Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens und wandte – soweit noch wesentlich – ein, die Versicherte habe den Sturz freiwillig herbeigeführt, weshalb kein Unfall im Sinn des Art 6.1. UA00 vorgelegen habe. Der Kläger habe eine Gefahrenerhöhung infolge Suizidneigung der Versicherten nicht und den Unfall erst verspätet gemeldet.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es war rechtlich der Ansicht, dass die Versicherte zum Vorfallszeitpunkt an einer schweren depressiven Störung gelitten habe und der Selbstmordversuch eine Auswirkung/Folge dieser Krankheit gewesen sei. Da nach Art 6.3. UA00 Krankheiten nicht als Unfälle gelten würden, müsse dies umso mehr für Krankheitsfolgen gelten. Der Selbstmordversuch sei somit kein Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es führte rechtlich aus, dass die Versicherte die Gesundheitsschädigung freiwillig herbeigeführt habe, weil sie sich bewusst dazu entschieden habe, Selbstmord zu begehen. Es sei daher kein Unfall im Sinn des Art 6.1. UA00 vorgelegen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000, nicht aber 30.000 EUR übersteigt und die ordentliche Revision zulässig sei. Es liege bislang keine Judikatur zur über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Frage vor, ob ein im Zustand fehlender Dispositionsfähigkeit (aber vorhandener Diskretionsfähigkeit) erfolgter Sturz vom Balkon im Zuge eines Suizidversuchs mangels freier Willensbestimmung einen Unfall im Sinn von Art 6.1. UA00 darstelle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klagsstattgebung. Hilfsweise stellt der Kläger auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und in ihrem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 f ABGB) ausgehend vom Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers auszulegen (RIS Justiz RS0050063). Nach objektiven Gesichtspunkten als unklar aufzufassende Klauseln müssen daher so ausgelegt werden, wie sie ein durchschnittlich verständiger Versicherungsnehmer verstehen musste, wobei Unklarheiten im Sinn des § 915 ABGB zu Lasten des Verwenders der Versicherungsbedingungen, also des Versicherers gehen (RIS Justiz RS0017960). Die einzelnen Klauseln sind, wenn sie nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen (RIS Justiz RS0008901). In allen Fällen ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu berücksichtigen (RIS Justiz RS0008901 [T5, T7, T87]). Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommenen Gefahren einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhangs erfordert (RIS Justiz RS0107031).

2. Im Allgemeinen ist ein Unfall ein vom Versicherten nicht beherrschbares und im Hinblick auf die dadurch entstandene Gesundheitsschädigung unfreiwilliges Geschehen (7 Ob 57/17h mwN). In diesem Sinn liegt auch nach Art 6.1. UA00 ein Unfall dann vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Die „Unfreiwilligkeit“ bezieht sich dabei stets auf die Verletzung, nicht auf das Unfallereignis. Steht nicht fest, dass sich der Versicherte zumindest bedingt vorsätzlich verletzen wollte, die Verletzung also freiwillig (zwecks Selbstbeschädigung) erfolgte, ist im Allgemeinen vom Vorliegen eines Versicherungsfalls auszugehen (RIS Justiz RS0124394).

3. Richtig ist zwar, dass nach Art 6.3. UA00 Krankheiten nicht als Unfälle gelten. Gegenstand des Deckungsbegehrens sind hier aber die Folgen des Sturzes der Versicherten. Dass dieser Sturz ein plötzlich von außen auf den Körper der Versicherten wirkendes Ereignis war, das zu einer Gesundheitsschädigung führte, ist unzweifelhaft. Der Umstand, dass der Selbstmordversuch (Sturz vom Balkon) Auswirkung/Folge einer Krankheit, nämlich einer depressiven Störung im Sinn einer postpartalen (postnatalen) Depression war, schließt aber das Vorliegen eines Unfalls – entgegen der Ansicht des Erstgerichts – nicht generell aus. Vielmehr ist ein sekundärer Risikoausschluss nach Art 20.8. UA00 nur für Unfälle vorgesehen, die die versicherte Person infolge einer wesentlichen Beeinträchtigung ihrer psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit – durch Alkohol, Suchtgifte oder Medikamente – erleidet. Eine Beeinträchtigung der psychischen Leistungsfähigkeit der Versicherten aus einem der genannten Gründe lag hier aber nicht vor. Entscheidend ist demnach, ob der Sturz vom Balkon „unfreiwillig“ im Sinn von Art 6.1. UA00 erfolgte:

4. Für den Bereich der Lebensversicherung bleibt nach § 169 VersVG bei Selbstmord des Versicherten die Verpflichtung des Versicherers bestehen, wenn die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist. Nach dieser Rechtslage liegt eine freie Willensbestimmung nicht vor, wenn der Wille nicht vom Intellekt, sondern von außerhalb des Intellekts liegenden emotionellen Regungen bestimmt wird, die so stark sind, dass der Handelnde außerstande ist, vernünftigen Erwägungen zu folgen. Haben diese Regungen ihre Grundlage in einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit, dann sind die Voraussetzungen des Gesetzes gegeben, unter denen im Fall eines Selbstmords des Versicherten die Verpflichtung des Versicherers aus einer Lebensversicherung bestehen bleibt (7 Ob 26/63 = EvBl 1963/246 = VersR 1964, 761 [ Wahle ]).

5. Diese Auffassung von der „freien Willensbestimmung“ liefert durchaus taugliche Anhaltspunkte für ein Verständnis der „(Un )freiwilligkeit“, das dem eines durchschnittlich einsichtigen Versicherungsnehmers entspricht. Hier lag bei der Versicherten eine suizidale Einengung vor. Sie konnte zwar ihr Handeln, aufgrund ihrer psychosewertigen depressiven Verstimmung aber keine Alternativen mehr zur Selbsttötung erkennen, sodass ihr keine freie Willensbildung mehr möglich und die Dispositionsfähigkeit aufgehoben war. Der Selbstmordversuch war Folge der psychischen Krankheit und in der Phase des krankheitsbedingten suizidalen Abwendungsverhaltens nicht abwendbar. Die damit verbundene Gesundheitsschädigung ist unter diesen Umständen „unfreiwillig“ im Sinn des Art 6.1. UA00 (zur Unfreiwilligkeit von Selbstmorden im Zustand einer Geistes- oder Bewusstseinsstörung vgl auch Leverenz in Bruck/Möller VVG 9 § 178 Rz 140). Es liegt demnach ein grundsätzlich deckungspflichtiger Unfall vor. Insoweit erweist sich die Revision des Klägers als inhaltlich berechtigt.

6. Allerdings haben sich die Vorinstanzen infolge abweichender Rechtsansicht nicht mit den von der Beklagten behaupteten Obliegenheitsverletzungen befasst. Dies wird im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein.

7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.