JudikaturJustiz6Ob1/21x

6Ob1/21x – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon. Prof. Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen L*****, geboren ***** 2011, vertreten durch die Mutter N*****, beide *****, über den Revisionsrekurs der Mutter und deren Lebensgefährten M*****, ebendort, beide vertreten durch Dr. Josef Lagler, Rechtsanwalt in Frauenkirchen, gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Rekursgericht vom 26. November 2020, GZ 2 R 95/20p, 2 R 123/20f 11, mit dem die Beschlüsse des Bezirksgerichts Gmünd vom 14. August 2020 und vom 5. November 2020, GZ 8 Ps 93/20b 2 und 7, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Der Minderjährige ist das leibliche Kind des Y***** und der N*****, die nie miteinander verheiratet waren. Die Obsorge steht allein der Mutter zu, die seit 2014 mit M*****, dem Minderjährigen und dessen beiden Halbgeschwistern in einer Lebens- und Haushaltsgemeinschaft lebt. In den Jahren zuvor hatte die Mutter mit dem leiblichen Vater von L***** zusammen gelebt.

[2] Die Vorinstanzen wiesen – ohne Durchführung eines Beweisverfahrens – den Antrag der Mutter und des Lebensgefährten, letzteren mit der Obsorge für L***** gemeinsam mit der Mutter zu betrauen, ab. Das Rekursgericht sprach darüber hinaus aus, dass der Revisionsrekurs zulässig ist; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob die Betrauung eines Pflegeelternteils gemeinsam mit einem Elternteil nach dem Modell der leiblichen Eltern aufgrund der mit dem Kindschaft- und Namenrechts Änderungsgesetz (KindNamRÄG) 2013 geänderten Rechtslage weiterhin abzulehnen sei.

Rechtliche Beurteilung

[3] Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

[4] 1. Der Oberste Gerichtshof lehnte in der Entscheidung 7 Ob 144/02f die Betrauung einer allein obsorgeberechtigten Mutter eines „unehelichen“ Kindes gemeinsam mit deren Lebensgefährtin ab. Das Gesetz treffe zwar auch Vorsorge für jene Fälle, in denen die Obsorge von den leiblichen Eltern nicht ausgeübt wird oder nicht ausgeübt werden kann. Dazu gehörten auch die §§ 186, 186a ABGB idF des Kindschaftsrechts Änderungsgesetzes (KindRÄG) 2001. Das Gericht könne nämlich einem Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) auf seinen Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise übertragen, wenn das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht (§ 186a Abs 1 ABGB idF KindRÄG 2001). Aus § 186a Abs 2 ABGB idF KindRÄG 2001, wonach die Übertragung der Obsorge an Pflegeeltern ohne die Zustimmung der bisher mit der Obsorge betrauten Eltern oder Großeltern nur verfügt werden darf, wenn sie das Wohl des Kindes nicht gefährdet, ergebe sich bereits, dass ein Pflegeelternteil nicht gemeinsam (mit gleichen Rechten und Pflichten) mit einem Elternteil mit der Obsorge betraut werden kann, sondern nur statt des Elternteils. Dafür spreche auch der in den Erläuternden Bemerkungen genannte Beispielsfall der tödlich verunglückten Eltern (EB RV 296 BlgNR 21. GP 70). Das Gesetz sehe also nicht vor, dass neben einem Elternteil ein Pflegeelternteil gemeinsam nach dem Modell der leiblichen Eltern mit der Obsorge betraut werden kann. Stiefelternteile könnten als Pflegeelternteil nur dann betraut werden, wenn dem leiblichen Elternteil im selben Umfang die Obsorge nicht mehr zusteht. Dies sei schon aus dem Grund sachlich gerechtfertigt, dass der leibliche Elternteil biologisch gesehen natürlicherweise primär mit der Obsorge betraut sein soll. Lediglich zum Wohl des Kindes könnten bei Fehlen dieser Obsorge auch andere Personen als Eltern, nämlich Großeltern oder Pflegeeltern, wenn zu diesen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, mit der Obsorge betraut werden. Ist aber die Mutter des „unehelich“ geborenen Kindes allein obsorgeberechtigt, so bestehe kein Bedarf, einer anderen Person, mit der nur eine rein faktische Nahebeziehung besteht, Obsorgerechte zu übertragen. Das Kindeswohl sei durch die bestehende Rechtsbeziehung bereits gewahrt.

[5] Dieser Auffassung stimmten in der Literatur unter anderem G. Hopf (in KBB 3 § 186a ABGB Rz 1), Weitzenböck (in Schwimann , ABGB TaKomm 1 § 186a Rz 3), Linder (in Gitschthaler/Höllwerth , EuPR LebG Rechtsfolgen/Innen Rz 31), Deixler-Hübner (in Kletečka/Schauer , ABGB ON 1.00 § 186a Rz 3), Stabentheiner (in Rummel ³ ErgBd § 186a Rz 21), Barth/Neumayr (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ § 186a ABGB Rz 11), Haidvogl (Die „Patchworkfamilie“ nach österreichischem Recht, FamZ 2007, 110) und Rosenmayr (Die Implementierung der Patchworkfamilie in der Österreichischen Rechtsordnung, ÖA 2007, 131, 134) zu.

[6] 2. In der Entscheidung 3 Ob 165/11b (EF Z 2012/67 [ Jaksch Ratjczak ]) führte der Oberste Gerichtshof unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung und bei unveränderter Gesetzeslage aus, das Gesetz sehe nicht vor, dass neben einem Elternteil ein Pflegeelternteil mit der Obsorge betraut werden kann; eine Obsorgeübertragung an den Pflegevater setze daher voraus, dass der Mutter die Obsorge entzogen wird, was nur bei akuter Kindeswohlgefährdung in Betracht komme, sodass eine solche Maßnahme nur als ultima ratio gerechtfertigt wäre.

[7] 3. Schließlich stellte der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 7 Ob 124/11b (EF Z 2012/39 [ Graupner ]) klar, dass nach „herrschender Ansicht“ nach der bestehenden Gesetzeslage eine gemeinsame Obsorge eines Elternteils mit einem Pflegeelternteil (bspw des Lebensgefährten oder der Lebensgefährtin der „außerehelichen“ Mutter) nach dem Modell der leiblichen Eltern nicht zulässig sei; daran hätten weder das Familienrechts Änderungsgesetz (FamRÄG) 2009 noch das Gesetz über die eingetragenen Partnerschaften (EPG) etwas geändert.

[8] 4. Graupner (EF Z 2012/39 [Entscheidungsanmerkung]) kritisierte diese Rechtsprechung, bewirke sie doch eine Diskriminierung von (Kindern in) Stiefkindfamilien, weil sie unmittelbar zwischen (a) Paaren aus zwei genetischen Elternteilen bzw aus zwei (ausschließlich) sozialen Elternteilen einerseits und (b) Paaren aus einem genetischen und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil anderseits differenziere. Alle diese drei Konstellationen von Paaren befänden sich hinsichtlich der Frage der gemeinsamen Obsorge für ein minderjähriges Kind, mit dem sie im gemeinsamen Haushalt leben, zweifellos in einer vergleichbaren Situation. Die Paare aus einem biologischen und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil (und die mit ihnen lebenden Kinder) würden aber gegenüber den beiden anderen Paaren (Fall a) dadurch benachteiligt, dass sie nie und nimmer, unter keinen Umständen gemeinsame Obsorge für das mit ihnen lebende Kind (das sogar das leibliche Kind eines der Partner ist) erlangen können, selbst dann nicht, wenn es im Sinn des Kindeswohls sei oder durch dieses gar geboten wäre. Die Ungleichbehandlung nicht nur gegenüber zwei biologischen Eltern, sondern sogar gegenüber Paaren aus zwei völlig fremden sozialen Elternteilen erfülle weder ein legitimes Ziel noch sei sie sachlich und verhältnismäßig ( Art 2 StGG , Art 8 iVm Art 14 EMRK ). Es sei nicht erkennbar, welchen Zweck sie überhaupt erfüllen soll. Es erscheine nicht nur unverständlich, sondern grob unsachlich und diskriminierend, diese Möglichkeit für Kinder auszuschließen, deren Elternpaar aus einem biologischen und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil besteht. Dies heiße nichts anderes, als solchen Kindern, wie dem (Pflege )Kind der (dort) Antragstellerinnen, nur deshalb die Wohltat der gemeinsamen Obsorge seiner sozialen Eltern zu verweigern, weil einer dieser Elternteile auch biologisch sein Elternteil ist. Hiebei sei zu beachten, dass der Gesetzgeber des KindRÄG 2001 von der Grundüberzeugung getragen war, dass die gemeinsame Obsorge der Eltern wegen seiner positiven Wirkungen im Sinn des Kindeswohls zu fördern sei.

Der großen Zahl von Kindern, die von einem biologischen Elternteil und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil betreut werden, die Förderung ihres Wohls durch die gemeinsame Obsorge ihrer sozialen Eltern (nicht zuletzt aufgrund der Verfestigung der faktischen Obsorge zu einer entsprechenden rechtlichen Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dem Kind) zu verweigern, erscheine nicht begründbar. Es wirke geradezu absurd, dass die (dort) Antragstellerinnen (als Pflegeelternpaar) gemeinsame Obsorge für ein fremdes Kind durchaus erlangen könnten, nie und nimmer aber für das leibliche Kind einer der beiden Antragstellerinnen, das seit langem mit ihnen lebt. Die grundsätzliche und ausnahmslose Verweigerung der gemeinsamen Obsorge für Paare aus einem biologischen und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil erscheine willkürlich.

[9] 5. Das KindNamRÄG 2013 ließ zwar § 186a ABGB idF KindRÄG 2001 inhaltlich unverändert, gab ihm jedoch die Bezeichnung § 185 ABGB. Durch § 180 Abs 1 und 2 ABGB wurde dem Vater eines „unehelichen“ Kindes die grundsätzliche Möglichkeit eröffnet, auch gegen den Willen der Mutter die Übertragung der alleinigen Obsorge an ihn oder seine Beteiligung an der Obsorge zu beantragen.

[10] 5.1. Auch nach Inkrafttreten des KindNamRÄG 2013 ging zweitinstanzliche Rechtsprechung davon aus, dass eine gemeinsame Obsorge eines leiblichen Elternteils und eines Pflegeelternteils mangels einer gesetzlichen Grundlage nicht zulässig sei; solange einem leiblichen Elternteil die Obsorge zusteht, könne er nicht gemeinsam mit einem Dritten (und sei es auch ein Pflege oder Stiefelternteil) mit der Obsorge betraut werden. Dies gelte auch für die Rechtslage nach dem KindNamRÄG 2013 (LGZ Wien 44 R 335/18t EFSlg 156.526).

[11] 5.2. In der Literatur hielten unter anderem Hopf/Höllwerth (in KBB 6 § 185 ABGB Rz 1 unter Berufung auf die Entscheidung 7 Ob 124/11b), Weitzenböck (in Schwimann/Kodek , ABGB 5 § 185 Rz 4 unter Berufung auf die Entscheidung 7 Ob 144/02f und in ABGB TaKomm 5 § 185 Rz 3 unter Berufung auf die Entscheidungen 7 Ob 144/02f und 7 Ob 124/11b), Staffe Hanacek/Weitzenböck (Kinder- und Jugendhilferecht § 185 ABGB Anm 2 unter Berufung auf die Entscheidungen 7 Ob 144/02f und 7 Ob 124/11b) und Deixler Hübner (in Kletečka/Schauer , ABGB ON 1.06 § 185 Rz 3) ebenfalls an dieser Auffassung fest, während sie Beck (Kindschaftsrecht² Rz 442/3 unter Berufung auf Einwallner [Weil nicht sein darf, was nicht sein soll ... – Oder: Höchstgericht versäumt Chance zur Beseitigung von Diskriminierung, juridikum 2012, 108]) nur noch für jene Fälle vertritt, in denen – wie auch im vorliegenden Fall – das Kind aus einer früheren Beziehung eines Partners stammt.

[12] 6. Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, von dieser nahezu einhelligen Meinung abzugehen. Der Revisionsrekurs der Mutter und ihres Lebensgefährten beschränkt sich letztlich auf die Argumente, „das Kind soll[ e ] in einer Familie mit Eltern (also Vater und Mutter und nicht nur mit einem Elternteil aufwachsen“ und es „bestünde [ durchaus Bedarf ], wenn die Mutter eines Kindes allein obsorgeberechtigt ist, eine andere Person, mit der nur eine rein faktische Nahebeziehung besteht, das Obsorgerecht zu übertragen [...] weil das Kind bei Wegfall nur eines vorhandenen obsorgeberechtigten Elternteils, etwa durch Ableben, eine gewisse Zeit ohne einen Elternteil aufwachsen würde“. Ersteres hat allerdings nichts mit der Obsorgefrage zu tun, für zweiteres trifft § 178 ABGB durchaus Vorsorge. Würde man aber – wie vom Revisionsrekurs angestrebt – dem Stiefelternteil (Lebensgefährten) die „gemeinsame Obsorge“ zuerkennen, käme es im Todesfall der Mutter hinsichtlich des leiblichen Vaters im Hinblick auf den in § 178 Abs 1 Satz 1 ABGB angeordneten automatischen Übergang der Alleinobsorge auf den Stiefelternteil von vorneherein gar nicht mehr zu der in § 178 Abs 1 Satz 2 ABGB vorgesehenen Kindeswohlprüfung.

[13] Dass – seit dem KindRÄG 2001 – (auch) dem Lebensgefährten der leiblichen Mutter bei Erfüllung der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 184 ABGB materiell rechtlich die Stellung als Pflegeelternteil zukommen kann (8 Ob 62/12v iFamZ 2012/179 [ Fucik ]; 10 ObS 68/14v EF Z 2015/43 [ Maier ]; 10 ObS 102/14v ARD 6434/17/2015 [ Sabara ]), worauf das Rekursgericht möglicherweise seinen Zulässigkeitsausspruch gründen wollte, ändert nichts daran, dass die zitierten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs bereits auf Basis der Rechtslage seit dem KindRÄG 2001 ergangen sind.

[14] Darüber hinaus ist dem Argument Graupners , zwischen (a) Paaren aus zwei genetischen Elternteilen bzw aus zwei (ausschließlich) sozialen Elternteilen einerseits und (b) Paaren aus einem genetischen und einem (ausschließlich) sozialen Elternteil anderseits werde differenziert, obwohl sich alle diese drei Konstellationen von Paaren hinsichtlich der Frage der gemeinsamen Obsorge für ein minderjähriges Kind, mit dem sie im gemeinsamen Haushalt leben, zweifellos in einer vergleichbaren Situation befänden, entgegen zu halten, dass die §§ 177 ff ABGB auf der einen Seite von den Eltern und deren Obsorgeverteilung handeln und § 185 ABGB auf der anderen Seite von jener der Pflegeeltern (arg: dieses Pflegeelternpaar), wobei sich aus § 185 Abs 2 (iVm § 181) ABGB als Voraussetzung für eine Obsorgeübertragung von den leiblichen Eltern auf Pflegeeltern die Notwendigkeit einer Obsorgeentziehung ergibt (7 Ob 124/11b). Aus dieser Konstellation folgt mit der herrschenden Auffassung, dass für eine „gemeinsame Obsorge“ eines Elternteils mit einem Pflegeelternteil nach dem Modell der leiblichen Eltern eine gesetzliche Basis fehlt.

[15] Zuletzt ist noch darauf hinzuweisen, dass sowohl dem Gesetzgeber des FamRÄG 2009 bzw des EPG als auch dem Gesetzgeber des KindNamRÄG 2013 die Problematik und insbesondere die zitierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bekannt gewesen sein mussten und er trotz einer „gewissen rechtlichen Anerkennung der so genannten Patchworkfamilien“ (vgl bereits die ErläutRV 296 BlgNR 21. GP 69 f zum KindRÄG 2001; Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , ABGB³ § 186 Rz 15; 10 ObS 68/14v; 10 ObS 102/14v) eine „gemeinsame Obsorge“ von Elternteil und Stiefelternteil nicht ermöglichte.

[16] Mit der dargestellten Rechtslage hat der Gesetzgeber den ihm hier zukommenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten.

[17] 7. Dem Revisionsrekurs war deshalb ein Erfolg zu versagen.