JudikaturJustiz33R21/23k

33R21/23k – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
28. August 2023

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Schober und die Richterin Mag. Janschitz in der Rechtssache der klagenden Partei S***** , vertreten durch Dr. Herwig Ernst, Rechtsanwalt in Korneuburg, wider die beklagte Partei ***** , vertreten durch Dr. Gerhard Steiner, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 15.500 sA über über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 2.1.2023, 10 Cg 50/20t-48, in nichtöffentlicher Sitzung den

B eschluss

gefasst:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

B egründung

Text

Die Klägerin begehrt mit ihrer Mahnklage vom 2.12.2020 von der Beklagten die Zahlung von EUR 15.500 samt Zinsen aus dem Titel des Schadenersatzes, weil die Beklagte ihre Verkehrssicherungspflichten verletzt habe. Sie sei am 1.3.2019 als Kundin der *****-Filiale in ***** im Restaurantbereich gestürzt und habe sich dabei verletzt. Der Boden sei „feuchtnass“ gewesen und es seien keine Warntafeln aufgestellt gewesen, die auf eine Rutschgefahr hingewiesen hätten.

Die Beklagte begehrte die Abweisung der Klage und brachte vor, dass sie keine Verkehrssicherungspflichten verletzt habe. Die Klägerin habe während des Gehens den Boden nicht ausreichend beobachtet.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren ab und verpflichtete die Klägerin zum Kostenersatz. Es stellte den auf den Seiten 2 und 3 der Urteilsausfertigung ersichtlichen Sachverhalt fest, auf den verwiesen wird. Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass die Beklagte ihre Verkehrssicherungspflichten nicht verletzt habe, weil der Boden an der Sturzstelle weder schmutzig, feucht noch rutschig gewesen sei, sodass der Sturz letztlich auf eine Unachtsamkeit oder ein Versehen der Klägerin zurückzuführen sei.

Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger Tatsachenfeststellungen aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Antrag, das Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

Die Klägerin rügt das Verfahren als mangelhaft, weil das Erstgericht der Beklagten nicht aufgetragen habe, dem Gericht und der Klägerin die Schadensmeldung vorzulegen, die nach dem Unfall unter Mitwirkung des Ehemanns der Klägerin angefertigt worden und in der der Unfallhergang dokumentiert worden sei. Die Begründung des Erstgerichts für dieses Vorgehen sei unrichtig.

1. Der Anfechtungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ist dann gegeben, wenn der Verstoß gegen ein Verfahrensgesetz abstrakt geeignet war, eine erschöpfende und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern (RS0043049). Eines Nachweises, dass der Mangel in concreto eine unrichtige Entscheidung zur Folge hatte, bedarf es nicht (RS0043049 [T1]). Das Beweisthema muss in der Mängelrüge der Berufung zumindest dann nicht wiederholt werden, wenn nach der Aktenlage kein Zweifel daran bestehen kann, welche streitentscheidenden Feststellungen der ersten Instanz der Berufungswerber durch das übergangene Beweismittel zu widerlegen können glaubt (RS0043039 [T1]).

2.1. Nach § 304 Abs 2 ZPO gilt eine Urkunde als gemeinschaftlich insbesondere für jene Personen, in deren Interesse sie errichtet ist oder deren gegenseitige Rechtsverhältnisse darin beurkundet sind. Was als gemeinschaftliche Urkunde zu verstehen ist, demonstriert § 304 Abs 2 ZPO an zwei Beispielgruppen. Nach der ersten Alternative muss die Urkunde jedenfalls auch im Interesse desjenigen geschaffen worden sein, der ihre Vorlage verlangt. Ausschlaggebend dafür ist, ob die Urkunde ihm als Beweismittel dienen oder seine rechtlichen Beziehungen auf andere Weise sichern, klären oder auf sie fördernd einwirken soll. Ob sie diese Funktion erfüllt, hängt vom Zweck der Urkundenerrichtung ab (RS0035021; 2 Ob 151/97p; 1 Ob 2151/96x; 5 Ob 225/08m; 7 Ob 75/17f). Liegt nicht dieser Regelfall vor, in dem der Anspruchsteller und der Urkundenbesitzer durch das beurkundete Rechtsverhältnis verbunden sind, kommt es nach der zweiten Alternative des § 304 Abs 2 ZPO für die Beurteilung der Gemeinschaftlichkeit einer Urkunde nicht auf deren Zweck, sondern allein auf deren Inhalt an. In solchen Fällen genügt es, wenn der beurkundete Vorgang mit dem Rechtsverhältnis, an dem der die Vorlage Begehrende beteiligt ist, – objektiv betrachtet – in einer unmittelbaren rechtlichen Beziehung steht (9 ObA 153/88). Beim Fehlen einer Verbindung des Anspruchstellers und des Urkundenbesitzers durch ein ihnen gemeinsames Rechtsverhältnis ist somit die Frage nach der Gemeinschaftlichkeit einer Urkunde nach deren Inhalt zu lösen (4 Ob 519/94), und dazu reicht es aus, dass die Urkunde eine objektive und unmittelbare Beziehung zum Rechtsverhältnis aufweist, an dem die Partei beteiligt ist, die die Vorlage begehrt (1 Ob 2151/96x; 5 Ob 225/08m; 7 Ob 75/17f; Kodek in Fasching / Konecny ³ § 304 ZPO Rz 13 ff mwN).

2.2. § 304 Abs 2 ZPO erklärt solche Urkunden für gemeinschaftlich, die im Interesse des Beweisführers errichtet wurden. Dabei ist der Zweck der Errichtung maßgebend. Die Urkunde muss angefertigt worden sein, um den Streitteilen als Beweismittel zu dienen oder ihre rechtliche Beziehung zu fördern. Dazu ist die Errichtung – durch eine beliebige Person – im Interesse jener Person ausreichend, die die Vorlage begehrt ( Kodek aaO § 304 ZPO Rz 12; Rechberger / Klicka in Rechberger/Klicka 5 § 304 ZPO Rz 3).

Die Aufzählung des § 304 Abs 2 ZPO ist nicht taxativ, der Begriff der „gemeinschaftlichen Urkunde“ ist weit zu verstehen ( Kodek aaO Rz 15). Der Tatbestand der „Errichtung im Interesse des Beweisführers“ ist erfüllt, wenn die Urkunde zumindest auch im Interesse des Beweisführers errichtet wurde, also dazu, ihm als Beweismittel zu dienen oder doch seine rechtlichen Beziehungen zu fördern ( Kodek aaO Rz 17).

2.3. Die Haftpflichtversicherung gibt dem Versicherten einen Befreiungs- und einen Rechtschutzanspruch. Die Frage des Eintrittes oder Nichteintrittes eines Versicherungsfalles und des Entstehens eines Befreiungs- oder Rechtsschutzanspruches ist aber (unter anderem) davon abhängig, ob der Klägerin Ansprüche gegenüber der Beklagten zustehen. Die Schadenmeldung diente daher nach den maßgeblichen objektiven Kriterien zum Zeitpunkt ihrer Schaffung auch den Interessen der Klägerin. Darüber hinaus ist die Urkunde auch im Interesse der Parteien des Versicherungsvertrages errichtet worden. Dass die Urkunde von einem Dritten errichtet wurde, spielt keine Rolle (2 Ob 267/04k mwN). Angesichts der Mitwirkung des Ehegatten der Klägerin liegt nahe, dass sie davon auch ausgehen durfte und die Beklagte spiegelbildlich nicht mit dem Verbleib der Schadenmeldung in ihrer „prozessfreien Individualsphäre“ rechnen konnte (vgl Wilfinger in Spitzer / Wilfinger , Beweisrecht § 304 ZPO Rz 15).

3. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren den entsprechenden Auftrag an die Beklagte zu erteilen haben (vgl OLG Wien 16 R 132/18a).

4. Der Vorbehalt der Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.