JudikaturJustiz2Ob30/93

2Ob30/93 – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. Mai 1993

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Gerstenecker als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Erwin K*****, vertreten durch Dr.Helmut Meindl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) Walter G*****, 2.) Ö***** 3.) ***** Versicherungs-AG, ***** sämtliche vertreten durch Dr.Walter Bacher, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 90.154,- s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 19.Jänner 1993, GZ 11 R 213/92-38, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 17.April 1992, GZ 21 Cg 748/89-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die vorinstanzlichen Urteile werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt wie folgt zu lauten hat:

1.) Die Klagsforderung besteht mit S 67.615,50 samt 8,5 % Zinsen aus

S 43.603,43 seit 15.3.1988 und 4 % Zinsen aus S 24.012,07 seit 27.11.1989 zu Recht.

2.) Die eingewendete Gegenforderung besteht mit S 12.747,24 zu Recht.

3.) Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 54.868,26 samt 8,5 % Zinsen aus

S 30.856,19 seit 15.3.1988 und 4 % Zinsen aus S 11.264,83 seit 27.11.1989 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

4.) Das Mehrbegehren auf Zahlung von S 35.285,74 samt 8,5 % Zinsen aus S 27.281,71 seit 15.3.1988 und 4 % Zinsen S 20.751,27 seit 27.11.1989 wird abgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei an Verfahrenskosten den Betrag von S 14.279,52 binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 31.1.1988 gegen 15.20 Uhr ereignete sich in Wien 12 im Bereich der Kreuzung E*****straße/L*****gasse ein Verkehrsunfall an dem der vom Kläger gehaltene und gelenkte Pkw VW Jetta und das vom Erstbeklagten gelenkte, von der zweitbeklagten Partei gehaltene und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherte Rettungsfahrzeug beteiligt waren. Der Kläger wurde bei diesem Unfall verletzt. Er begehrt ein Teilschmerzengeld in der Höhe von S 30.000,- sowie den Ersatz von Sachschäden und Spesen, insgesamt S 90.154,- mit der Begründung, der rechtkräftig verurteilte Erstbeklagte habe den Unfall dadurch verschuldet, daß er bei Rotlicht und ohne vor der Kreuzung anzuhalten in den Kreuzungsbereich eingefahren sei.

Die Beklagten wendeten ein, das überwiegende Verschulden an dem Unfall treffe den Kläger. Er sei in die Kreuzung eingefahren, obwohl er das Folgetonhorn des Einsatzfahrzeuges gehört habe und obwohl sich alle anderen Fahrzeuge in seiner Fahrtrichtung trotz Grünlichts nicht in Bewegung setzten, weil sie den Vorrang des Einsatzfahrzeuges respektierten. Jedenfalls habe der Kläger verspätet gebremst. Eine Forderung über S 50.988,98, resultierend aus Schmerzengeld des Erstbeklagten, Ersatz von Sachschäden und Auslagen wurde compensando eingewendet.

Das Erstgericht stellte fest, die Klagsforderung bestehe mit S 45.077,- sA zu Recht, die eingewendete Gegenforderung mit S 25.494,49. Es verurteilte daher die beklagten Parteien zur Zahlung von S 19.582,51 sA und wies das Mehrbegehren auf Zahlung von S 70.571,49 sA ab.

Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinausgehend traf es im wesentlichen folgende Feststellungen:

Die Fahrbahnen der E*****straße und der L*****gasse kreuzen einander annähernd rechtwinkelig. Der Verkehr im Bereich der Kreuzung wird durch Lichtzeichen mit einer automatischen VLSA geregelt. Zum Unfallszeitpunkt herrschte Tageslicht und gute Sicht.

Der Kläger lenkte sein Fahrzeug auf der E*****straße stadtauswärts und beabsichtigte, die Kreuzung mit der L*****gasse in gerader Richtung zu übersetzen. In Annäherung an die Kreuzung zeigte die VLSA für den Kläger Rotlicht. Vor der Haltelinie zur Kreuzung hatte bereits ein Fahrzeug am rechten Fahrbahnstreifen angehalten. Als die VLSA in Fahrtrichtung des Klägers auf gelb umsprang, war deutlich ein Folgetonhorn hörbar. Es wäre auch für den Kläger hörbar gewesen. In dieser Phase beschleunigte der Kläger sein Fahrzeug, das er noch nicht angehalten hatte und fuhr links an dem vor der Haltelinie angehaltenen Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h bei Grünlicht in die Kreuzung ein, ohne dem Folgetonhorn Beachtung zu schenken. Alle anderen Fahrzeuge, für die die VLSA nunmehr grün zeigte, blieben jedoch stehen. Erst 1,15 Sekunden vor Kollision und 9,1 m vor der späteren Kollisionsstelle merkte der Kläger das von rechts kommende Einsatzfahrzeug. Das vom Erstbeklagten gelenkte Einsatzfahrzeug näherte sich der Kreuzung auf der L*****gasse stadtauswärts. Das Erstbeklagte hatte das Folgetonhorn auf Dauer geschaltet, das Blaulicht in Betrieb und das Abblendlicht eingeschaltet. Er war zu einem Patienten in Lebensgefahr unterwegs. Er wollte die Kreuzung mit der E*****straße in gerader Richtung (stadtauswärts) übersetzen. In Annäherung an die Kreuzung hielt er eine Geschwindigkeit von ca. 16 km/h ein. Ohne anzuhalten fuhr er bei Rotlicht aus dem für Fahrzeuge zum Linksabbiegen gekennzeichneten Fahrstreifen der L*****gasse in den Kreuzungsbereich mit der E*****straße ein. Zur Kollision kam es in Fahrtrichtung des Klägers ca. 12 m nach der Haltelinie, in Fahrtrichtung des Erstbeklagten ca.8 m nach der Haltelinie. Beide Fahrzeuglenker haben mindestens 1 Sekunde zu spät reagiert. Sowohl der Kläger als auch der Erstbeklagte wurden bei dem Unfall verletzt.

In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht den Sachverhalt dahin, daß der Kläger schon beim Ertönen des Folgetonhornes verpflichtet gewesen wäre, dem herannahenden Einsatzfahrzeug freie Bahn zu verschaffen; der Erstbeklagte hätte hingegen bei ausreichender Aufmerksamkeit die Möglichkeit gehabt, das Fahrzeug des Klägers zu erkennen und rechtzeitig stehen zu bleiben. Das Verschulden beider Unfallsbeteiligter wiege im Ergebnis etwa gleich schwer, sodaß eine Teilung im Verhältnis 1 : 1 gerechtfertigt sei.

Der gegen den klagsabweisenden Teil dieser Entscheidung erhobenen Berufung des Klägers wurde nicht Folge gegeben.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Berufungsgericht die Meinung, der Erstbeklagte habe gegen § 26 Abs 5 StVO, wonach alle Straßenbenützer einem herannahenden Einsatzfahrzeug Platz zu machen hätten, verstoßen. Schon bei Ertönen des Folgetonhornes und nicht erst beim Anblick des Fahrzeuges sei dem Einsatzfahrzeug freie Fahrt zu verschaffen. Werde, wie im vorliegenden Fall, bei Annäherung an eine Kreuzung der Folgeton eines Einsatzfahrzeuges wahrgenommen, dann habe sich jeder Straßenbenützer der Kreuzung mit jener Aufmerksamkeit zu nähern, die ihm beim ersten Ansichtigwerden des Einsatzfahrzeuges ein rechtzeitiges Anhalten ermögliche. Gegen die vom Erstgericht vorgenommene Gewichtung des gegenseitigen Verschuldens bestünden keine Bedenken.

Die ordentliche Revision wurde nicht für zulässig erkärt, weil über Rechtsfragen im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu entscheiden sei.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Urteil abzuändern und dem Klagebegehren vollinhaltlich stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten haben in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger macht in seinem Rechtsmittel geltend, gemäß § 26 Abs 3 StVO verliere ein Einsatzfahrzeug bei Rotlicht den Vorrang; es werde ihm lediglich gestattet, auch bei rotem Licht in eine Kreuzung einzufahren, wenn es vorher angehalten und der Lenker sich überzeugt habe, daß durch das Einfahren nicht Menschen gefährdet oder Sachen beschädigt werden. Der vom Berufungsgericht zitierte § 26 Abs 5 StVO sei für das Einfahren eines Einsatzfahrzeuges in eine Kreuzung nicht anwendbar, sodaß den bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahrenen Kläger kein Mitverschulden treffe. Vielmehr habe der Lenker des Einsatzfahrzeuges durch sein Nichtanhalten grob fahrlässig den Unfall verschuldet. Ein allfälliges Mitverschulden des Klägers sei so geringfügig, daß es zu vernachlässigen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichtes von der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien ZVR 1990/98 abweicht und es zu dem hier zu beurteilenden Sachverhalt keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gibt.

Das Rechtsmittel des Klägers ist auch zum Teil berechtigt.

Gemäß § 19 Abs 2 StVO haben Fahrzeuge im Sinne des § 2 Abs 1 Z 25 StVO an sich immer den Vorrang. Das bedeutet, daß ihnen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern der Vorrang zukommt, gleichgültig, von wo sie kommen oder wohin sie fahren, auch dann, wenn sie eine Vorrangstraße kreuzen oder die Vorschriftszeichen "Vorrang geben" oder "Halt" überfahren (ZVR 1990/18). Bei einer durch Lichtzeichen geregelten Kreuzung ist aber § 19 StVO nicht anwendbar, weil Sondernormen bestehen, die den allgemeinen Vorrangsregeln des § 19 StVO vorgehen; hier gelten die §§ 38 und 26 Abs 3 StVO. Gemäß § 38 Abs 5 StVO gilt rotes Licht als Zeichen für "Halt"; bei diesem Zeichen haben die Lenker von Fahrzeugen vor der Haltelinie anzuhalten. Gemäß § 26 Abs 3 StVO idF der 10.StVO-Novelle dürfen die Lenker von Einsatzfahrzeugen auch bei rotem Licht in eine Kreuzung einfahren, wenn sie vorher angehalten und sich überzeugt haben, daß hiebei nicht Menschen gefährdet oder Sachen beschädigt werden. Daraus folgt, daß rotes Licht auch für Einsatzfahrzeuge nach wie vor beachtlich ist und angehalten werden muß. Die Bestimmung des § 26 Abs 5 StVO kann im Zusammenhang mit der Neufassung der Bestimmung des Abs 3 nicht so verstanden werden, daß andere Straßenbenützer nun verpflichtet wären, trotz Grünlichtes vor der Kreuzung anzuhalten. Vielmehr muß der Lenker eines Einsatzfahrzeuges, der wegen Rotlichtes anhalten muß, darauf achten, daß er erst dann einfahren darf, wenn er sich überzeugt, daß hiebei nicht Menschen gefährdet oder Sachen beschädigt werden. Ein Vorrang gegenüber dem Querverkehr, für den grünes Licht gilt, kommt ihm nicht zu.

Im Vorliegenden fällt nun dem Erstbeklagten ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 26 Abs 3 zur Last, weil er nicht beachtete, daß er die Kreuzung nicht ohne Gefährdung von Menschen oder Beschädigung von Sachen durchfahren konnte.

Dem Kläger ist demgegenüber eine Verletzung der Bestimmung des § 26 Abs 5 StVO nicht anzulasten, weil er für seine Fahrtrichtung grünes Licht hatte und davon ausgehen konnte, daß selbst Einsatzfahrzeuge das Rotlicht beachten und den Querverkehr abwarten würden. Es ist ihm allerdings anzulasten, daß er einen um eine Sekunde verspäteten Bremsentschluß faßte. Dies rechtfertigt nach Ansicht des erkennenden Senates eine Verschuldensteilung von 1 : 3 zugunsten des Klägers.

Es war daher der Revision des Klägers teilweise Folge zu geben, die der Höhe nach nicht mehr strittigen Forderungen der Streitteile waren in diesem Verhältis auszumitteln.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 43 Abs 1, 50 ZPO.