JudikaturJustiz2Ob224/19h

2Ob224/19h – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. Mai 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI J***** S*****, vertreten durch die Doschek Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. H***** AG, *****, und 2. N***** G*****, beide vertreten durch Mag. Udo Hansmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen 18.320,79 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 3. September 2019, GZ 14 R 68/19a 20, womit das Teil- und Teilzwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 28. März 2019, GZ 4 Cg 4/18i 16, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision der beklagten Parteien wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 1.032,91 EUR (darin 172,15 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Am 8. 6. 2017 ereignete sich gegen 17:00 Uhr in Wien ***** im Bereich der ungeregelten Kreuzung der verlängerten G*****gasse mit der „Dammkrone Kaisermühlendamm“ ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und ein von der Zweitbeklagten gehaltener und gelenkter, bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherter Pkw beteiligt waren. Auf der vom Kläger befahrenen Fahrbahn der „Dammkrone“ ist mittels Verkehrszeichen ein Fahrverbot in beide Richtungen, aber jeweils mit der Zusatztafel „Privatgrund – Radfahren auf eigene Gefahr gestattet“ kundgemacht. In der Fahrtrichtung des Pkw sind vor der Kreuzung mit der Fahrbahn der „Dammkrone“ ein Verkehrszeichen „Halt“ und ein Gefahrenzeichen „Andere Gefahren“ mit der Zusatztafel „Radfahrer“ angebracht.

Der Kläger wollte die Kreuzung in gerader Richtung übersetzen. Er war auf Trainingsfahrt und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h. Die Zweitbeklagte wollte die Kreuzung ebenfalls in gerader Richtung überqueren. Sie blieb im Bereich des Verkehrszeichens „Halt“ stehen und schaute nach rechts und nach links in die Querstraße. Dann fuhr sie ein Stück nach vor und blieb unmittelbar vor der kreuzenden Fahrbahn noch einmal kurz stehen, ohne dabei nach rechts zu blicken. Hätte sie dies getan, hätte sie den Kläger sehen können. Von dieser Position fuhr die Zweitbeklagte bis zur Kollision beschleunigend in die Kreuzung ein. Eine Reaktionsverspätung des Klägers konnte das Erstgericht nicht feststellen. Hätte der Kläger aber spätestens 12,8 m vor der Kollisionsstelle eine Geschwindigkeit von nur 10 km/h eingehalten, wäre eine Kollision unterblieben.

Das Erstgericht sah ein Mitverschulden des Klägers von einem Viertel darin, dass er die nach § 68 Abs 3a StVO gebotene Geschwindigkeit stark überschritten habe.

Das Berufungsgericht gelangte zu einem Alleinverschulden der Zweitbeklagten. Im vorliegenden Fall sei weder eine „Radfahrerüberfahrt“, noch eine sonstige „Radfahranlage“ iSd § 2 Z 11b StVO vorhanden gewesen. Zwar judiziere der Oberste Gerichtshof aufgrund eines Größenschlusses die sinngemäße Anwendung des § 68 Abs 3a StVO dann, wenn sich ein Radfahrer auf einer Radfahranlage einer Kreuzung oder einem kreuzenden Fahrbahnteil nähere, die (den) er nach dem Verlassen einer Radfahranlage überqueren müsse. Allerdings müsse sich der Radfahrer eben auf einer „Radfahranlage“ iSd § 2 Z 11b StVO genähert haben.

Das Berufungsgericht ließ nachträglich die ordentliche Revision zur Frage zu, ob die Bestimmung des § 68 Abs 3a StVO kraft Größenschlusses auch auf eine Situation wie die vorliegende anzuwenden sei.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision der Beklagten nicht zulässig . Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:

1. In dritter Instanz geht es nur mehr darum, ob dem Kläger wegen der sinngemäßen Anwendbarkeit des § 68 Abs 3a StVO eine überhöhte Geschwindigkeit und deshalb ein Mitverschulden am Unfall anzulasten ist.

2. Wie der erkennende Senat in der Entscheidung 2 Ob 87/17h ausführlich dargelegt hat, erhielt § 68 Abs 3a StVO mit der 23. StVO-Novelle, BGBl I 2011/34, seine seit 31. 5. 2011 geltende, im vorliegenden Fall anzuwendende aktuelle Fassung, wonach sich Radfahrer Radfahrerüberfahrten, wo der Verkehr nicht durch Arm- oder Lichtzeichen geregelt wird, nur mit einer Geschwindigkeit von höchstens 10 km/h nähern und diese nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug oder für dessen Lenker überraschend befahren dürfen. Damit soll nach den Gesetzesmaterialien sichergestellt werden, dass sowohl Autofahrer als auch Radfahrer ausreichend Zeit haben, sich auf den jeweiligen Querverkehr einzustellen (AB 1135 BlgNR XXIV. GP 3).

3. Nach der zitierten Entscheidung findet § 68 Abs 3a StVO sinngemäße Anwendung, wenn sich ein Radfahrer auf einer Radfahranlage einer Kreuzung oder einem kreuzenden Fahrbahnteil nähert, die (den) er nach Verlassen einer Radfahranlage überqueren muss. Damit folgte der Oberste Gerichtshof den Erwägungen der Entscheidung 2 Ob 256/04t, wo eine Radfahrerin ebenfalls einen durch eine einmündende Straße unterbrochenen Geh und Radweg, also eine Radfahranlage iSd § 2 Z 11b StVO, befahren hatte.

4. Beiden Entscheidungen ist somit zu entnehmen, dass sich der Größenschluss auf Situationen beschränkte, in denen sich ein Radfahrer auf einer Radfahranlage einer Kreuzung genähert hatte, auf der keine Radfahrerüberfahrt iSd § 2 Abs 1 Z 12a StVO vorhanden war. Nur insoweit ist die Regelung des § 68 Abs 3a StVO die speziellere Norm gegenüber der allgemeinen Bestimmung des § 20 Abs 1 StVO (RS0131416).

5. Ist dagegen – wie hier – keine Radfahranlage vorhanden, besteht im Hinblick auf die für die Benützung einer Fahrbahn iSd § 2 Abs 1 Z 2 StVO ohnehin vorhandene allgemeine Regel keine Grundlage für eine sinngemäße Anwendung der für eine Radfahranlage getroffenen Spezialbestimmung des § 68 Abs 3a StVO. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stimmt mit dieser Rechtslage überein. Die gegenteilige Rechtsansicht der Beklagten wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Da die Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung, wobei die Bemessungsgrundlage insofern zu korrigieren war, als das Feststellungsbegehren nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens ist.