JudikaturJustiz2Ob173/20k

2Ob173/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P***** F*****, vertreten durch Piccolruaz Müller Anwaltspartnerschaft in Bludenz, gegen die beklagte Partei S***** F*****, vertreten durch Achammer Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, wegen Rechnungslegung und Zahlung (Streitwert 50.000 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 20. Juli 2020, GZ 2 R 64/20k 17, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 20. April 2020, GZ 56 Cg 8/20m-13, als nichtig aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

De m Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird als nichtig aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung:

[1] Mit Stufenklage nach Art XLII EGZPO begehrt der Kläger , die Beklagte schuldig zu erkennen, die Schätzung einer Liegenschaft samt dem darauf errichteten Gebäude zu dulden, in eventu dem Kläger den tatsächlichen Wert der Liegenschaft bekanntzugeben, und ihm den sich aufgrund der Rechnungslegung bzw Schätzung ergebenden Pflichtteil von einem Neuntel des Werts dieser Liegenschaft zu bezahlen. Der Vater der Streitteile habe die Liegenschaft am 12. 3. 2018 der Beklagten geschenkt, ehe er am 7. 4. 2018 verstorben sei. Die Schenkung sei bei der Berechnung des Pflichtteils hinzuzurechnen. Der Kläger habe gemäß § 786 ABGB ein Auskunftsrecht gegenüber der Beklagten.

[2] Die Beklagte bestritt das Vorliegen einer pflichtteilsrelevanten Schenkung, ohne die auch kein Auskunftsrecht des Klägers bestehe. Grund für die Vereinbarung vom 12. 3. 2018 sei das Testament ihrer am 29. 12. 2016 verstorbenen Großmutter gewesen, in dem ihr Vater als Vorerbe und sie als Nacherbin eingesetzt worden sei.

[3] Das Erstgericht führte mit dem Einverständnis beider Parteien am 2. 4. 2020 eine Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung mittels Videokonferenz durch. Am Beginn dieser Verhandlung verkündete der Erstrichter den Beschluss auf Ausschluss der Öffentlichkeit „aufgrund der allgemeinen Ausgangsbeschränkungen“, worauf die Parteien auf Beschlussausfertigung und Rechtsmittel verzichteten.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den von ihm festgestellten Sachverhalt rechtlich dahin, dass eine Schenkung des Vaters an die Beklagte nicht stattgefunden habe, weshalb auch kein Auskunftsanspruch des Klägers bestehe.

[5] Das Berufungsgericht hob aus Anlass der Berufung des Klägers dieses Urteil sowie die Tagsatzung als nichtig auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Durchführung einer öffentlichen Verhandlung auf. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig.

[6] Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass der von Amts wegen aufzugreifende Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO verwirklicht sei. Das Erstgericht habe am Beginn der Tagsatzung die Öffentlichkeit ausgeschlossen, ohne dass einer der von Art 6 Abs 1 EMRK bzw § 172 ZPO gebilligten Ausschlusstatbestände vorgelegen habe. Zwar hätten die Parteien insoweit einen Rechtsmittelverzicht abgegeben. Da die Öffentlichkeit aber einen elementaren verfahrensrechtlichen Grundsatz bilde, sei es nicht sachgerecht, einen allfälligen Verstoß dagegen alleine in die Hände der Parteien zu legen. Dieser Verfahrensgrundsatz sei vor allem im öffentlichen Interesse und nicht nur in jenem der Parteien normiert. § 462 Abs 2 ZPO sei daher grundrechtskonform teleologisch dahin zu reduzieren, dass der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO aus Anlass eines zulässigen Rechtsmittels von Amts wegen und unabhängig davon aufzugreifen sei, ob ein bindender Beschluss nach § 173 ZPO vorliege oder nicht.

[7] Der Rekurs gemäß § 519 Abs 2 ZPO sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den entscheidungswesentlichen Fragen fehle und diese über den Einzelfall hinaus Bedeutung hätten.

[8] Dagegen richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, dass die Entscheidung des Erstgerichts keineswegs nichtig sei.

[9] Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung , den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der Rekurs ist mangels einschlägiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zulässig ; er ist im Sinne des Eventualantrags auch berechtigt .

[11] 1. Nach Art 90 B-VG haben ua Verhandlungen in Zivilsachen vor dem erkennenden ordentlichen Gericht mündlich und öffentlich stattzufinden. Beschränkungen der Öffentlichkeit sind nach dem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt des Satzes 2 der Bestimmung nur bei Bestehen einer entsprechenden einfachgesetzlichen Grundlage zulässig.

[12] 2. Eine solche Grundlage findet sich in § 172 ZPO. Nach Abs 1 dieser Bestimmung ist die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn durch sie die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung gefährdet erscheint, oder wenn die begründete Besorgnis besteht, dass die Öffentlichkeit der Verhandlung zum Zwecke der Störung der Verhandlung oder der Erschwerung der Sachverhaltsfeststellung missbraucht werden würde. Nach Abs 2 kann das Gericht auf Antrag auch nur einer der Parteien die Öffentlichkeit ausschließen, wenn zum Zwecke der Entscheidung des Rechtsstreits Tatsachen des Familienlebens oder Geschäftsgeheimnisse erörtert und bewiesen werden müssen.

[13] Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht den Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung allerdings „aufgrund der allgemeinen Ausgangsbeschränkungen“ – also aus keinem der oben genannten Gründe – beschlossen, wogegen ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig war (§ 173 Abs 2 Satz 2 ZPO). Die Parteien verzichteten auf Beschlussausfertigung und die Erhebung eines Rechtsmittels. Folgerichtig gingen sie auch in ihren zweitinstanzlichen Rechtsmittelschriften auf den Ausschluss der Öffentlichkeit nicht mehr ein. Der Beschluss blieb somit unbekämpft und erwuchs in Rechtskraft.

[14] 3. Gemäß § 462 Abs 2 ZPO unterliegen der Beurteilung des Berufungsgerichts auch diejenigen Beschlüsse, die in dem dem Urteil vorausgegangenen Verfahren erlassen wurden, sofern nicht deren Anfechtung nach dem Gesetz ausgeschlossen ist oder dieselben infolge Unterlassung der rechtzeitigen Rüge (§ 196 ZPO), des Rekurses oder durch die über den eingebrachten Rekurs ergangene Entscheidung unabänderlich geworden sind.

[15] Fraglich ist, ob diese Bestimmung auch einer amtswegigen Wahrnehmung des Nichtigkeitsgrundes des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO entgegenstehen kann.

[16] 4. Im Schrifttum vertritt Sengstschmid (in Fasching/Konecny 3 II/3 § 173 ZPO Rz 19 ff) die Ansicht, dass § 462 Abs 2 ZPO auch auf einen bindenden Beschluss über die Ausschließung der Öffentlichkeit anwendbar ist. Die Überprüfung durch das Berufungsgericht sei daher ua dann nicht zulässig, wenn die Parteien auf Rechtsmittel verzichtet hätten. Der noch in der Vorauflage von Schragel (in Fasching/Konecny 2 II/3 § 173 ZPO Rz 4) gegebenen Begründung, dass der Nichtigkeitsgrund nicht nur die Parteieninteressen, sondern auch die der Öffentlichkeit wahren soll, hält er entgegen, dass dies nicht zur Einschränkung der Anwendbarkeit des § 462 Abs 2 ZPO im Falle des Vorliegens der Voraussetzung des § 173 ZPO führe, weil die Öffentlichkeit keinen Anspruch auf die Durchführung eines Verfahrens habe, sondern dies – ebenso wie sein Ablauf in Bezug auf Vergleiche oder außergerichtliche Einigungen – in der Ingerenz der Parteien liege.

[17] Scholz-Berger (Prozessmaximen und Verfahrensgrundrechte in Zeiten von COVID-19 – am Beispiel des Öffentlichkeitsgrundsatzes, ZZPInt 24 [2019 {2020}] 43 [52]) stimmt dieser Meinung in seiner rezenten Untersuchung zu und führt aus, dass der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO nicht mehr wahrgenommen werden könne, wenn der Ausschluss der Öffentlichkeit durch gerichtlichen Beschluss erfolgt und dagegen kein Rechtsmittel erhoben worden sei; insofern stehe bindend fest, dass der Ausschluss rechtmäßig erfolgt sei.

[18] Der erkennende Senat hält diese Ausführungen für überzeugend und tritt ihnen bei.

[19] 5. Soweit dagegen nach einem Teil der Lehre auch dann, wenn die Anfechtung des Beschlusses auf Ausschließung der Öffentlichkeit unterlassen wurde, die ungerechtfertigte Ausschließung der Öffentlichkeit von Amts wegen wahrzunehmen sein soll (vgl Pimmer in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 477 ZPO Rz 65; Fasching , Lehrbuch 2 Rz 688; Parzmayr in Höllwerth/Ziehensack , ZPO § 173 Rz 4) wird diese Ansicht nicht weiter begründet bzw auf § 462 Abs 2 ZPO nicht Bezug genommen. Diesen Stimmen in der Lehre ist daher keine Begründung zu entnehmen, weshalb § 462 Abs 2 ZPO im vorliegenden Fall nicht anwendbar sein sollte.

[20] 6. Dies ergibt sich insbesondere auch nicht aus Art 6 Abs 1 EMRK, der zwar das Grundrecht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung und die öffentliche Verkündung der Entscheidung in Zivil- und Strafsachen garantiert. Die Rechtsprechung des EGMR lässt aber dennoch im Zivilverfahren (entgegen der österreichischen Lehre: vgl Grabenwarte r in Korinek/Holoube k, Art 6 EMRK [8. Lfg 2007] Rz 125 und Rz 131; Kühne in Pabel/Schmahl , Internationaler Kommentar zur EMRK [11. Lfg 2009] Art 6 Rz 347) den Verzicht auf die Öffentlichkeit der Verhandlung zu, sofern nicht wichtige öffentliche Interessen für eine Öffentlichkeit des Verfahrens streiten ( Scholz-Berger , ZZPInt 24, 43 [51]; vgl etwa EGMR 23. 6. 1981, Appl. 6878/75, 7238/75, Le Compte, Van Leuven and de Meyere v. Belgium , Rn 59; EGMR 21. 2. 1990, Appl. 11855/85, Hakansson and Sturesson v. Sweden , Rn 66; EGMR 28. 5. 1997, Appl. 16717/90, Pauger v. Austria , Rn 56 ff).

[21] 7. Nach der maßgeblichen Judikatur des EGMR ist daher der Verzicht auf die Öffentlichkeit in jenen Fällen zulässig, in denen er eindeutig erfolgt und nicht gegen wichtige öffentliche Interessen verstößt. Soweit den Parteien eines Verfahrens demnach eine Disposition möglich ist – hier war nicht durch einen in der ZPO nicht vorgesehenen Verzicht auf die Öffentlichkeit des Verfahrens, wohl aber durch Nichtbekämpfen eines Beschlusses über den Ausschluss der Öffentlichkeit – ist es den Rechtsmittelgerichten auch insofern verwehrt, diesen Umstand von Amts wegen aufzugreifen.

[22] 8. Dass der vorliegende Fall ein wichtiges öffentliches Interesse zum Gegenstand hätte, ist nicht ersichtlich, geht es doch um die Auslegung einer letztwilligen Verfügung und die Beurteilung eines darauf basierenden spezifischen Vorgehens im Einzelfall in Bezug auf einen bestimmten Pflichtteilsberechtigten. Auch insofern ist daher eine Durchbrechung des § 462 Abs 2 ZPO nicht geboten. Ob dies im Falle des tatsächlichen Vorliegens wichtiger öffentlicher Interessen anders zu beurteilen wäre, muss hier nicht geklärt werden.

[23] 9. Dem Berufungsgericht war es daher verwehrt, die von ihm angenommene Nichtigkeit aufzugreifen. Der dadurch bewirkte Eingriff in die Rechtskraft des Beschlusses über den Ausschluss der Öffentlichkeit begründet seinerseits eine von Amts wegen aufzugreifende Nichtigkeit (RS0132136; RS0107779; RS0041333).

[24] 10. Das Berufungsgericht ließ, ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht, die Beweis- und Mängelrügen der Berufung unerledigt. Der Aufhebungsbeschluss ist daher aufzuheben und die Sache ist in die zweite Instanz zurückzuverweisen.

[25] 11. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.