JudikaturJustiz15Os77/02

15Os77/02 – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2002

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Juli 2002 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Felzmann als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kubina als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Patrick S***** und einen weiteren Angeklagten wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 14 Hv 65/02g des Landesgerichtes St. Pölten, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten Patrick S***** und seiner gesetzlichen Vertreterin Brigitte S***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 16. Mai 2002, AZ 21 Bs 166/02 (= ON 118 des Hv Aktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Patrick S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe :

Der am 29. Juni 1984 geborene Patrick S***** befindet sich seit 8. November 2001 (nur mehr) aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO iVm § 35 Abs 1 und 3 JGG) in Untersuchungshaft, weil er (inhaltlich der seit 15. März 2002 rechtskräftigen Anklageschrift - ON 92 -, über die das Jugendschöffengericht des Landesgerichtes St. Pölten bereits am 23. Mai und 27. Juni 2002 verhandelt und mit Urteil vom 27. Juni 2002 den Angeklagten wegen des Verbrechens nach "§§ 84 Abs 1, 86 StGB" zu 3 ½ Jahren Freiheitsstrafe nicht rechtskräftig verurteilt hat -) dringend verdächtig ist, das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB dadurch begangen zu haben, dass er am 2. Oktober 2001 in St. Pölten im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem Angeklagten Kurt V***** den Christian M***** absichtlich schwer am Körper verletzte, indem sie ihm zahlreiche Fußtritte gegen den Körper und Kopf versetzten und ihm mit voller Wucht auf den Bauch sprangen, wodurch er schwerwiegende innere Verletzungen und Blutungen erlitt, wobei die Tat seinen Tod zur Folge hatte.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 16. Mai 2002 (ON 118) gab das Oberlandesgericht Wien einer Beschwerde des Patrick S***** und seiner gesetzlichen Vertreterin Brigitte S***** gegen den einen Enthaftungsantrag der Genannten vom 19. April 2002 - ON 109 - abweisenden Beschluss des Vorsitzenden des Jugendschöffengerichtes vom 25. April 2002 (ON 111) nicht Folge und verlängerte die Untersuchungshaft mit Wirksamkeit bis 16. Juli 2002 aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO iVm § 35 Abs 1 und 3 JGG).

In der dagegen erhobenen Grundrechtsbeschwerde (ON 120) behaupten die Beschwerdeführer, die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr verletze den Angeklagten Patrick S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit.

Der dringende Tatverdacht, welcher schon in der Beschwerde an den Gerichtshof zweiter Instanz nicht in Zweifel gezogen wurde, wird nicht bekämpft.

Rechtliche Beurteilung

Die Beschwerde ist unbegründet.

Sie zitiert zwar § 35 Abs 3 JGG vollständig und richtig, folgert aber aus der Tatsache, "daß § 35 JGG [ihrer Meinung nach] den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gar nicht kennt", und aus der Behauptung, "Der Absatz 3 dieser Gesetzesstelle ist jedoch - wie aus dem Wortlaut eindeutig ableitbar - die lex specialis gegenüber Absatz 1 und auch gegenüber § 180 StPO" rechtsirrig, dass "die Verhängung [auf den aktuellen Fall abgestellt, ersichtlich gemeint: die Aufrechterhaltung bzw Fortsetzung] einer Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr über drei Monate, sechs Monate oder über ein Jahr hinaus tatsächlich gesetzwidrig ist".

Diese Rechtsansicht findet im Gesetz keine Deckung. Zutreffend verweist der Gerichtshof zweiter Instanz auf das in § 35 Abs 1 JGG enthaltene Klammerzitat des § 180 StPO. Daraus erhellt unmissverständlich, dass die darin normierten allgemeinen Vorschriften über die Verhängung und Fortsetzung einer Untersuchungshaft grundsätzlich auch für Jugendliche und junge Erwachsene gelten. Für diese Personengruppe sind allerdings die in den §§ 35 und 36 JGG enthaltenen Sonderbestimmungen (lediglich) in Bezug auf eine strengere Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, kürzere Haftfristen und besondere Mitwirkungs- und Verständigungspflichten zu beachten (vgl hiezu Jesionek, Das österreichische Jugendgerichtsgesetz3, § 35 Anm 1. bis 4. , 14. bis 16., 34. und 37.).

Unter genauer Beachtung aller darin für die Fortsetzung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus geforderten stringenten Voraussetzungen und Kautelen hat das Oberlandesgericht der Beschwerde zuwider die bekämpfte Entscheidung sorgfältig und auch formell fehlerfrei begründet. Auf das (hier) ausschlaggebende Kriterium, nämlich die Unvermeidbarkeit der Verlängerung der Untersuchungshaft wegen des besonderen Umfanges der Untersuchungen im Hinblick auf das Gewicht des herangezogenen Haftgrundes, geht die Beschwerde jedoch mit keinem Wort ein. Lediglich unter Punkt 2. der Beschwerdeschrift bemängelt sie, im Übrigen sei der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nicht ausreichend begründet, weil die angeführten "mutmaßlichen Tatumstände", deren Richtigkeit erwiesen werden müssten, möglicherweise bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien, könnten aber nicht konkret darstellen, warum die Gefahr bestehen soll, dass der Angeklagte "die Straftat, deren er verdächtig ist, ausführen wolle".

Indes unterliegen die Beschwerdeführer insoweit einem weiteren Rechtsirrtum, weil § 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO nur auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr verlangt, der Angeklagte (Beschuldigte) werde auf freiem Fuße ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens "eine strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete strafbare Handlung mit schweren Folgen". Die Befürchtung, dass der Angeklagte Patrick S***** die Straftat, deren er verdächtig ist, "ausführen wolle", ist in dem hier zu beurteilenden Fall schon (wegen des eingetretenen Todes des Christian M*****) begrifflich ausgeschlossen. Im Übrigen hat der Gerichtshof zweiter Instanz die für die Tatbegehungsgefahr notwendigen bestimmten Tatsachen aktengetreu, zureichend und ohne Verstoß gegen Grundsätze logischen Denkens aus den bisher erhobenen Beweisen abgeleitet (vgl dazu insbesondere S 97 f/III).

Da sohin Patrick S***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt wurde, war die Grundrechtsbeschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.