JudikaturJustiz15Os102/22x

15Os102/22x – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. Dezember 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Dezember 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Mag. Seidenschwann als Schriftführerin in der Strafsache gegen * G* wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 12 dritter Fall, 146, 147 Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 22. März 2022, GZ 114 Hv 70/20d 122, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * G* – abweichend von der auf das Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB gerichteten Anklage – des Vergehens des schweren Betrugs als Beteiligter nach §§ 12 dritter Fall, 146, 147 Abs 2 StGB schuldig erkannt.

[2] Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat er zur strafbaren Handlung des * S*,

der von Jänner 2015 bis Dezember 2016 in W* und an anderen Orten in einer Vielzahl von Angriffen mit dem Vorsatz, sich durch das Verhalten der Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern, Verfügungsberechtigte nachgenannter Gebietskrankenkassen durch die wahrheitswidrige Behauptung, die im Tatzeitraum bei der S* GmbH beschäftigten Dienstnehmer seien der Anmeldung entsprechend beschäftigt, obwohl diese tatsächlich mehr Stunden arbeiteten, somit durch Täuschung über Tatsachen, zur Abstandnahme von der Einhebung der Dienstnehmer- und Dienstgeberbeiträge zur Sozialversicherung, der Insolvenzentgelte und der Wohnbauförderungsbeiträge jeweils in gesetzlicher Höhe verleitete, die diese in einem insgesamt 300.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen schädigte, und zwar

I./ die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse im Betrag von zumindest 233.588,27 Euro;

II./ die Wiener Gebietskrankenkasse im Betrag von zumindest 243.220,63 Euro;

im Hinblick auf einen Gesamtschaden in 5.000 Euro, nicht jedoch 300.000 Euro übersteigender Höhe dadurch beigetragen (§ 12 dritter Fall StGB),

dass er in Kenntnis des Tatplans des * S* Einstellungsgespräche mit Mitarbeitern führte, Unterlagen zur Anmeldung und zu sonstigen Meldungen an den Steuerberater zur Weiterleitung an die Gebietskrankenkasse weiterleitete und Barauszahlungen für tatsächlich geleistete, über die angemeldeten Stunden hinausgehende Arbeitsleistungen an die Mitarbeiter vornahm.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, 5, 8, 9 lit a und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des * G*, der Berechtigung zukommt.

[4] Aus Z 8 des § 281 Abs 1 StPO bringt der Beschwerdeführer vor, das Erstgericht habe ohne vorangehende Information des Angeklagten eine von der Anklage als unmittelbarer Täter abweichende rechtliche Beurteilung als Beitragstäter vorgenommen und dadurch § 262 StPO verletzt.

[5] Als Nichtbeachtung des § 262 StPO können Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts releviert werden. Eine Verletzung des § 262 StPO und damit Nichtigkeit gemäß § 281 Abs 1 Z 8 StPO ist dann anzunehmen, wenn das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 211 Abs 1 Z 2 StPO) derart verschieden ist, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken und – mit Blick auf die Fairness des Verfahrens – zuvor keine dem Schutzzweck des § 262 StPO entsprechende Information des Angeklagten erfolgt ist. Hingegen ist es bei Abweichungen von geringerer Relevanz Sache des Beschwerdeführers, eine Verletzung seiner aus Art 6 Abs 3 lit a oder b MRK garantierten Verteidigungsrechte zu behaupten. Eine solche Information ist – in analoger Anwendung des § 262 StPO – auch bei jeder Änderung der Beteiligungsform erforderlich (vgl RIS Justiz RS0113755 [insb T22, T25], RS0121419; Ratz , WK StPO § 281 Rz 545; Lewisch , WK StPO § 262 Rz 88, 101).

[6] Bei bloß geänderter Beteiligungsform bedarf es keines Vorbringens des Rechtsmittelwerbers im dargestellten Sinn, wenn sich die Urteilsfeststellungen über die Tathandlungen und der Anklagevorwurf im Tatsächlichen nicht überdecken, weil dann die Plausibilität einer (möglichen) anderen Verteidigungsstrategie auf der Hand liegt (vgl 11 Os 56/10k [93/10a, 94/10y, 95/10w], 14 Os 110/20p).

[7] Die Staatsanwaltschaft hatte die dem Anklagevorwurf zugrunde liegenden Taten rechtlich als Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB beurteilt (ON 64). Abweichend hievon wurde der Beschwerdeführer des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 12 dritter Fall, 146, 147 Abs 2 StGB schuldig erkannt. Eine Erörterung der Änderung der Beurteilung der Beteiligungsform fand nach dem Protokoll über die Hauptverhandlung nicht statt (vgl dazu die HV Protokolle vom 24. August 2021 [ON 108] und vom 22. März 2022 [ON 121]).

[8] Die Urteilsfeststellungen zu den Tathandlungen des Angeklagten als Beitragstäter, nämlich in Kenntnis des Tatplans des S* Einstellungsgespräche mit Mitarbeitern zu führen, Unterlagen zur Anmeldung und zu sonstigen Meldungen an den Steuerberater zur Weiterleitung an die Gebietskrankenkasse weiterzuleiten und Barauszahlungen für tatsächlich geleistete, über die angemeldeten Stunden hinausgehende Arbeitsleistungen an die Mitarbeiter vorzunehmen (vgl US 6 erster Absatz), weichen vom Anklagevorwurf der unmittelbaren Beteiligung am Betrug durch die wahrheitswidrige Behauptung gegenüber Verfügungsberechtigten der Gebietskrankenkassen über das Ausmaß der Beschäftigung sowie Einteilung und Anmeldung der Arbeitnehmer bei der Sozialversicherung (vgl ON 64 S 1 f, 5 f, 7) in erheblichen Teilen ab; dies ungeachtet der Erwähnung der von den Tatrichtern als Beitragshandlung qualifizierten Auszahlung von „Schwarzlöhnen“ als Verschleierungshandlung in der Sachverhaltsdarstellung der Anklage (vgl ON 64 S 7).

[9] Es bestand daher das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK nicht entsprochen wurde .

[10] Das aufgezeigte Informationsdefizit machte – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – die Aufhebung des Schuldspruchs und demgemäß auch des Strafausspruchs unumgänglich. E in Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen erübrigte sich daher.

[11] Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Rechtssätze
2
  • RS0121419OGH Rechtssatz

    28. März 2023·3 Entscheidungen

    Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Geleitet von dieser Zielsetzung können nunmehr auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts als Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden. Stets dann, wenn - ungeachtet der Identität von Anklage- und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn - der Angeklagte einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt nach dieser grundrechtskonformen Auslegung der Z 8 des § 281 Abs 1 StPO der Nichtigkeitsgrund vor. Ist mit anderen Worten das Tatbild (die äußere Tatseite) der dem Schuldspruch zugrundeliegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 207 Abs 2 Z 2 StPO) derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen Tatbilder nicht überdecken, besteht ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder lit b MRK nicht entsprochen wird. Geht es aber um Abweichungen geringerer Relevanz, ist es Sache des Beschwerdeführers, im Rechtsmittel das Belehrungserfordernis (wenigstens einigermaßen) plausibel zu machen, um unnötige Rechtsgänge zu vermeiden. Diese ziehen nämlich in aller Regel eine Verschlechterung der zur Verfügung stehenden Beweismittel nach sich und können überdies ein Spannungsverhältnis mit dem gleichfalls beachtlichen Grundrechtsgebot auf Verfahrensbeendigung binnen angemessener Frist (Art 6 Abs 1 erster Satz MRK) bewirken.

  • RS0113755OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Beurteilt ein Gericht nicht nur die im Anklagetenor genannte Tat in rechtlicher Hinsicht abweichend von der Anklage, spricht es den Angeklagten vielmehr - wenngleich ohne Abgehen von dem der Anklage (als Gesamtheit) zugrunde liegenden Sachverhalt - statt der im Anklagetenor genannten Tat einer anderen Tat schuldig, muss mit Blick auf die Fairness des Verfahrens zugunsten des Angeklagten dem Schutzzweck des § 262 StPO zuvor entsprochen worden sein. Dabei steht die strikte Einhaltung der von § 262 StPO beschriebenen Form als solche nicht unter der Nichtigkeitssanktion des § 281 Abs 1 Z 8 StPO. So wird etwa eine abweichende Beurteilung durch den Ankläger in der Hauptverhandlung dem grundrechtlich geschützten Ziel, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu verfügen (Art 6 Abs 3 lit b MRK), durchaus gerecht, weil es dem Angeklagten solcherart offensteht, sich dazu zu äußern sowie Fragen und Anträge zu seiner Verteidigung zu stellen, deren Missachtung einen Verfahrensmangel (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO) begründen kann. Die in einer - danach mehrfach wegen Zeitablaufes und Richterwechsels (§ 276a StPO) wiederholten - Hauptverhandlung gestellte Frage des Vorsitzenden (§ 245 Abs 1 erster Satz StPO): "Haben sie in Österreich Zigaretten erworben, bei denen die Eingangsabgaben nicht bezahlt waren?" für sich allein genügt aber nicht.