JudikaturJustiz15Ns74/20f

15Ns74/20f – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Januar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Jänner 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen Q***** K***** wegen des Vergehens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 StGB in dem zu AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln und zu AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz Ost zwischen diesen Gerichten geführten Zuständigkeitsstreit nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Für die Durchführung des Verfahrens ist das Bezirksgericht Graz Ost zuständig.

Text

Gründe:

Das Landesgericht St. Pölten sprach mit Beschluss vom 18. Mai 2020, AZ 16 Hv 50/20t (ON 4 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln) gemäß § 485 Abs 1 Z 1 [erg:] zweiter Fall iVm § 450 StPO aus, dass es zur Durchführung der Hauptverhandlung gegen Q***** K***** wegen einer von der Staatsanwaltschaft als Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB qualifizierten Straftat (ON 3) sachlich nicht zuständig sei, weil d ie angeklagte Tat bei rechtsrichtiger Subsumtion als Vergehen der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 StGB zu beurteilen sei, das in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts falle (zur uneingeschränkten Zulässigkeit eines Ausspruchs über die sachliche Unzuständigkeit vgl Bauer , WK StPO § 485 Rz 3). Nach Rechtskraft dieser Entscheidung übermittelte das Landesgericht d ie Akten auf Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 485 Abs 2 StPO) dem Bezirksgericht Tulln als für den Tatort zuständiges (§ 36 Abs 3 erster Satz StPO) Gericht (ON 4 S 2 und ON 1 S 2 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln).

Dieses übermittelte d ie Akten mit Verfügung vom 6. Juli 2020 an das Bezirksgericht Graz Ost zur Verbindung und gemeinsamen Führung mit dem dort bereits zu AZ 216 U 117/19i gegen Q***** K***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 StGB anhängigen Strafverfahren (ON 1 S 3 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln).

Bei jenem Gericht war zunächst am 25. September 2019 die Hauptverhandlung zur Durchführung einer Diversion gemäß §§ 198 Abs 1 Z 1, 200 StPO iVm § 199 StPO auf unbestimmte Zeit vertagt worden (ON 9 in AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz Ost). Nach deren Scheitern mangels Zahlung der angebotenen Geldbuße (ON 1 S 1a verso und 1b verso in AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz Ost) wurde die Hauptverhandlung zunächst für den 22. Juli 2020 anberaumt. Mit Beschluss vom 15. Juli 2020 bezog das Bezirksgericht Graz-Ost das Verfahren AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln ein (ON 1 S 1c in AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz Ost).

I n der letztlich am 29. Juli 2020 durchgeführten Hauptverhandlung schied das Bezirksgericht Graz Ost das vom Bezirksgericht Tulln abgetretene Verfahren AZ 7 U 47/20w „wegen Spruchreife“ des wegen § 88 Abs 3 StGB geführten Strafverfahrens wieder aus und trat es an das Bezirksgericht Tulln ab (ON 20 in AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz-Ost und ON 5 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln ). Unter Außerachtlassung des am 18. Mai 2020 vom Landesgericht St. Pölten gefassten Beschlusses und der dazu erstatteten Erklärung der Staatsanwaltschaft (ON 4 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln) begründete es diesen Verfahrensschritt damit , das Bezirksgericht Graz-Ost sei zur Führung ein es Verfahrens wegen des Vorwurfs „des Vergehens nach § 130 StGB“ nicht zuständig. Im verbleibenden Verfahren wurde dem Angeklagten wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 StGB (neuerlich) eine diversionelle Erledigung durch Zahlung eines Geldbetrags angeboten (§§ 198 Abs 1 Z 1, 200, 199 StPO) und die Hauptverhandlung zu diesem Zweck ( erneut ) auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 20 S 2 f in AZ 216 U 117/19i des Bezirksgerichts Graz Ost).

Nachdem es die Akten AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln mit Note vom 7. Oktober 2020 rückgemittelt hatte, stellte das Bezirksgericht Graz Ost das zu AZ 216 U 117/19i verbleibende Verfahren nach Bezahlung der Geldbuße gemäß §§ 200 Abs 5, 199 StPO m it Beschluss vom 12. Oktober 2020 ein (ON 21).

Das Bezirksgericht Tulln legt nunmehr d ie Akten gemäß § 38 StPO dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den negativen Kompetenzkonflikt vor (ON 1 S 1d in AZ 7 U 74/20w des Bezirksgerichts Tulln).

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 37 Abs 3 StPO sind Verfahren zu verbinden, sofern zu dem Zeitpunkt, zu dem die Anklage rechtswirksam wird (zur Rechtswirksamkeit eines Strafantrags vgl RIS Justiz RS0132157), ein Hauptverfahren gegen den Angeklagten anhängig ist. Fall konkret wurde das Verfahren AZ 7 U 74/20w des Bezirksgerichts Tulln zu Recht an das Bezirksgericht Graz Ost zur Einbeziehung abgetreten , weil bei dem letztgenannten Gericht zu diesem Zeitpunkt ein (aktuell offenes und nicht etwa ein iSd § 37 Abs 2 letzter Satz StPO bereits vorläufig eingestelltes [vgl §§ 201 Abs 1, 203 Abs 1, 204 Abs 3 iVm § 199 StPO]) Verfahren anhängig war.

Gemäß § 36 Abs 4 StPO bleibt ein Gericht – außer bei hier nicht vorliegenden Ausnahmen – auch dann für das Hauptverfahren örtlich zuständig, wenn es ein Verfahren (hier:) wegen einer Straftat ausscheidet. Eine nach Ausscheidung „wegen Spruchreife“ vorzunehmende Rückabtretung sieht das Gesetz nicht vor, sodass das Bezirksgericht Graz Ost – ungeachtet der zwischenzeitig erfolgten diversionellen Erledigung des Verfahrens gegen Q***** K***** wegen § 88 Abs 3 StGB – zur Führung des Hauptverfahrens wegen der mit Strafantrag ON 3 in AZ 7 U 47/20w des Bezirksgerichts Tulln verfolgten Straftat zuständig ist.

Rechtssätze
1
  • RS0132157OGH Rechtssatz

    31. Januar 2024·3 Entscheidungen

    1. Die Verbindung zweier Hauptverfahren gemäß § 37 Abs 3 StPO setzt – auch im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts oder dem Bezirksgericht – die Rechtswirksamkeit (§ 4 Abs 2 StPO) beider Anklagen voraus. Im Fall des § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz iVm Abs 2 zweiter Satz StPO zuständigkeitsbegründend zuvorgekommen ist jenes Gericht, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam wurde. 2. Im einzelrichterlichen Verfahren tritt die Rechtswirksamkeit der Anklage mit dem positiven Abschluss einer amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags ein. Sie findet dort jedoch – anders als im kollegialgerichtlichen Verfahren – keinen beschlussförmigen Ausdruck, sondern zeigt sich erst im darauf folgenden Akt der Einleitung des Hauptverfahrens. 3. Die Einleitung des Hauptverfahrens (§ 4 Abs 2 StPO) geschieht im einzelrichterlichen Verfahren durch die Anordnung der Hauptverhandlung (§ 450 und § 485 Abs 1 Z 4 StPO). Unter dieser Anordnung wird (keineswegs nur das "Ausschreiben" einer Hauptverhandlung, sondern) jedes Verhalten des Gerichts verstanden, das die Bejahung der Prozessvoraussetzungen (den positiven Ausgang der amtswegigen Vorprüfung) unmissverständlich erkennen lässt. Dies trifft auf jede Entscheidung zu, deren Ergebnis keines nach (im landesgerichtlichen Verfahren:) § 485 Abs 1 Z 1 bis Z 3 StPO oder (im bezirksgerichtlichen Verfahren:) § 450 erster Satz StPO (beschlussförmiger Ausspruch sachlicher Unzuständigkeit), § 451 Abs 2 StPO (beschlussförmige Verfahrenseinstellung) oder § 38 StPO (Wahrnehmung eigener Unzuständigkeit nach § 36 Abs 3, Abs 5; § 37 Abs 1, Abs 2 StPO) ist, also jeder contrarius actus dazu. 4. Bei der amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags (noch) außer Betracht zu bleiben hat die Anhängigkeit eines im Sinn des § 37 Abs 3 StPO konnexen Hauptverfahrens bei (irgend-)einem Gericht. Vielmehr hat sich die Vorprüfung – isoliert – auf jenes (Haupt-)Verfahren zu beziehen, das durch die Einbringung dieses (einen) Strafantrags begonnen hat.