JudikaturJustiz14Os156/11i

14Os156/11i – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Januar 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Linzner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Bernd K***** wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Juni 2011, GZ 15 Hv 126/10k 44, und des Oberlandesgerichts Graz vom 11. August 2011, AZ 9 Bs 259/11y, sowie einen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Knibbe, des Angeklagten und seines Verteidigers Dr. Vacarescu zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 15 Hv 126/10k des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzen das Gesetz

1. die nach Anhörung der Staatsanwaltschaft, nicht aber des Angeklagten erfolgte Beschlussfassung vom 20. Juni 2011 (ON 44) auf Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 37) und Angleichung des schriftlichen an das mündlich verkündete Urteil vom 2. Dezember 2010 (ON 38) § 271 Abs 7 vierter Satz und § 270 Abs 3 erster Satz StPO;

2. der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Juni 2011 (ON 44) § 86 Abs 1 vierter und letzter Satz StPO;

3. der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 11. August 2011, AZ 9 Bs 259/11y (ON 47), § 271 iVm § 270 Abs 3 dritter Satz StPO.

Diese Beschlüsse werden aufgehoben.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 2. Dezember 2010, GZ 15 Hv 126/10k 38, wurde Bernd K***** der Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StGB (I/1) und der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 und 2 StGB (I/2) schuldig erkannt und hiefür unter Anwendung des § 28 StGB nach § 87 Abs 2 erster Halbsatz StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 (achtzehn) Monaten verurteilt, wovon gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Teil von 15 (fünfzehn) Monaten bedingt nachgesehen wurde. Die Bestimmung einer Probezeit ließ sich weder dem Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 37 S 67) noch der schriftlichen Urteilsausfertigung (ON 38) entnehmen.

Aufgrund einer der Generalprokuratur übermittelten Kopie des schriftlichen Berichts des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft Graz über die Hauptverhandlung vom 2. Dezember 2010, nach dem bei der mündlichen Urteilsverkündung die Probezeit sehr wohl mit drei Jahren bestimmt worden war (OZ 10 des Tagebuchs zu AZ 12 St 178/09b der Staatsanwaltschaft Graz; ON 3 im Os Akt), leitete der Oberste Gerichtshof die zur Entscheidung über die gegen das Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten (ON 40 und 41) vorgelegten Akten dem Erstgericht unter Anschluss dieses Schriftstücks mit der Anregung der Prüfung einer allfälligen Abweichung des schriftlichen vom verkündeten Urteil und einer möglichen Unvollständigkeit des Hauptverhandlungsprotokolls zurück (ON 43).

Daraufhin fasste der Vorsitzende des erkennenden Schöffengerichts ohne zuvor Erhebungen durchzuführen, die Parteien zur beabsichtigten Protokollsberichtigung und Urteilsangleichung oder den Angeklagten zu dem von der Staatsanwaltschaft übermittelten Sitzungsbericht zu hören folgenden Beschluss:

„Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 2. Dezember 2010, GZ 15 Hv 126/10k-37, und die Urteilsausfertigung ON 38 werden dahingehend ergänzt bzw berichtigt, dass es auf Seite 34 des Hauptverhandlungsprotokolls und Seite 2 des Urteils jeweils zu lauten hat: „… zu einer Freiheitsstrafe von 18 (achtzehn) Monaten, wovon ihm gemäß § 43a Absatz 3 StGB ein Teil von 15 (fünfzehn) Monaten (nunmehr zu ergänzen:) für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wird.“ Die Gründe erschöpfen sich im Ausspruch, dass die dreijährige Probezeit des bedingt nachgesehenen Teils zwar verkündet, jedoch irrtümlich im Hauptverhandlungsprotokoll und im Urteil nicht angeführt worden sei (ON 44).

Eine Rechtsmittelbelehrung wurde weder im Beschluss noch durch Verfügung der Zustellung einer solchen erteilt (ON 1 S 22).

Der dagegen erhobenen (irrig „an das Oberlandesgericht Graz“ gerichteten) Beschwerde des Angeklagten gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 11. August 2011, AZ 9 Bs 259/11y (ON 47 des Akts), nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde durch die angesprochenen Beschlüsse und den Vorgang unterbliebener Anhörung des Angeklagten vor Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls und Urteilsangleichung das Gesetz verletzt:

(1) Zum Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Juni 2011, GZ 15 Hv 126/10k-44:

a) Nach § 271 Abs 7 StPO hat der Vorsitzende das Protokoll über die Hauptverhandlung nach Vornahme der erforderlichen Erhebungen zu ergänzen oder zu berichtigen, soweit erhebliche Umstände oder Vorgänge dort zu Unrecht nicht erwähnt oder unrichtig wiedergegeben werden. Erhebliche Umstände sind gemäß § 271 Abs 1 Z 1 bis 7 und Abs 3 StPO alle solchen, die für die Beurteilung entscheidungswesentlicher Umstände von Bedeutung sein können, also auch der Ausspruch, zu welcher Strafe der Angeklagte verurteilt wurde (§ 271 Abs 1 Z 7 iVm § 260 Abs 1 Z 3 StPO; Danek , WK-StPO § 271 Rz 44). Zuvor ist den Parteien (damit jedenfalls auch dem Angeklagten) Gelegenheit zur Stellungnahme zur (amtswegig) in Aussicht genommenen oder (von einem Beteiligten) begehrten Berichtigung oder Ergänzung sowie zu den Ergebnissen allenfalls gepflogener Erhebungen zu geben (§ 271 Abs 7 vierter Satz StPO).

Für die Angleichung der schriftlichen Ausfertigung an das mündlich verkündete Urteil an das das Gericht gebunden ist und das in derselben Instanz nicht geändert werden darf ( Fabrizy StPO 11 § 268 Rz 3) ist die Bestimmung des § 270 Abs 3 StPO analog heranzuziehen (RIS-Justiz RS0098973, RS0098979). Nach § 270 Abs 3 erster Satz StPO hat der Vorsitzende das Urteil allenfalls nach Anhörung der Beteiligten zu berichtigen. Eine Verpflichtung, Parteien vor einer Urteilsangleichung zu hören, ist daraus zwar nicht ableitbar, wohl aber trägt die Vorschrift dem Prinzip des beiderseitigen Gehörs (§ 6 StPO) Rechnung. Solcherart ist es dem Gericht zwar durchaus gestattet, Urteile auch ohne Anhörung zu berichtigen oder anzugleichen, es ist ihm jedoch gesetzlich verwehrt, lediglich eine von mehreren Parteien zu hören (RIS-Justiz RS0123183).

Indem der Vorsitzende des Schöffengerichts des Landesgerichts für Strafsachen Graz vor der unter einem erfolgten Beschlussfassung auf „Ergänzung und Berichtigung“ (gemeint: Berichtigung des Protokolls nach § 271 Abs 7 zweiter Satz StPO und Angleichung des schriftlichen an das mündlich verkündete Urteil) nur den aus dem aktenkundigen schriftlichen Verhandlungsbericht ersichtlichen Standpunkt der Staatsanwaltschaft berücksichtigte, dem Angeklagten jedoch keine Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Berichtigung und Angleichung oder zu dem eben angesprochenen Schriftstück einräumte, hat er gegen § 271 Abs 7 vierter Satz und § 270 Abs 3 erster Satz StPO verstoßen.

b) Nach § 86 Abs 1 StPO hat ein Beschluss Spruch, Begründung und Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. Dabei müssen im Spruch die Anordnung, Bewilligung oder Feststellung des Gerichts sowie die darauf bezogenen gesetzlichen Bestimmungen angeführt werden.

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Juni 2011, GZ 15 Hv 126/10k 44, der weder die den Spruch tragenden gesetzlichen Bestimmungen anführt noch eine Rechtsmittelbelehrung enthält und aus dessen kursorischer Begründung zudem in keiner Weise hervorgeht, auf welchen Beweismitteln (etwa der Überzeugung des Vorsitzenden des Schöffensenats oder dem schriftlichen Verhandlungsbericht des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft) die Annahme irrtümlicher Nichterwähnung des „ordentlich verkündeten“ Ausspruchs über die Bestimmung einer dreijährigen Probezeit im Hauptverhandlungsprotokoll und der schriftlichen Urteilsausfertigung gründet (zu den Begründungserfordernissen von Beschlüssen vgl Tipold , WK StPO § 86 Rz 8 mwN; Nimmervoll , Beschluss und Beschwerde 40 f), nicht gerecht.

(2) Zum Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 11. August 2011, AZ 9 Bs 259/11y:

Über die Beschwerde gegen einen Beschluss auf Protokollsberichtigung sowie auf Urteilsangleichung hat zwar grundsätzlich das Oberlandesgericht zu entscheiden. Ist aber außer über die Beschwerde auch über eine von wem immer hier vom Angeklagten ergriffene Nichtigkeits-beschwerde zu erkennen, so entscheidet der Oberste Gerichtshof auch über die Beschwerde (§ 271 Abs 7 fünfter Satz iVm § 270 Abs 3 dritter Satz StPO). Das Oberlandesgericht Graz hat demnach eine ihm nicht zukommende Entscheidungskompetenz in Anspruch genommen.

Da nicht auszuschließen ist, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO) und den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Juni 2011, GZ 15 Hv 126/10k 44 sowie zur Klarstellung die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Graz vom 11. August 2011, AZ 9 Bs 259/11y (ON 47) aufzuheben.

Das Erstgericht kann damit erforderlichenfalls (nach Durchführung bei der gegebenen Sachlage notwendiger zweckdienlicher Erhebungen, vgl dazu Danek , WK-StPO § 271 Rz 50) erneut nach §§ 270 Abs 3 erster Satz, 271 Abs 7 StPO vorgehen.