JudikaturJustiz13Os25/14x

13Os25/14x – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. Juni 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Juni 2014 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kotanko als Schriftführerin in der Strafsache gegen Yalcin K***** wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall und 15 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 12 Hv 26/12b des Landesgerichts Leoben, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Yalcin K***** wurde mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts Leoben vom 2. April 2013 des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 und 4 StGB sowie der Verbrechen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall und 15 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Zudem ergingen Zusprüche (§§ 366 Abs 2 erster Satz, 369 Abs 1 StPO) an mehrere Privatbeteiligte (ON 31).

Gegen diese Entscheidung erhoben die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte Berufung, Erstere wegen des Strafausspruchs (ON 34), Letzterer wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe sowie der Aussprüche über die Schuld, die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche (ON 36).

Mit Urteil vom 17. September 2013 gab das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht sämtlichen Rechtsmitteln nicht Folge (ON 40).

Mit Schriftsatz vom 13. März 2014 begehrt der Verurteilte die Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a Abs 1 StPO) mit der Begründung, er sei dadurch, dass „das Gericht sein Urteil auf das Gutachten eines Sachverständigen gestützt hat, der bereits im Ermittlungsverfahren bestellt war und dort als Ermittlungsorgan tätig war“, im Grundrecht „auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 EMRK“ verletzt worden.

Der Antrag ist unzulässig:

Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a StPO) handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für solche Anträge (11 Os 132/06f, SSt 2007/79; RIS Justiz RS0122737, jüngst 12 Os 110/13p; Reindl Krauskopf , WK StPO § 363a Rz 31).

Eine dieser Voraussetzungen ist die Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art 35 Abs 1 MRK). Innerhalb des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung lassen sich zwei Komponenten unterscheiden, nämlich die vertikale, auf die Rechtsbehelfe und Instanzen bezogene Erschöpfung, und die auf die geltend zu machenden Konventionsrechte bezogene horizontale Erschöpfung ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 5 § 13 Rz 25). Der Antragsteller muss daher nicht nur alle innerstaatlich offenstehenden Instanzen angerufen haben, er muss darüber hinaus die geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften vor diesen Instanzen vorgebracht haben ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 5 § 13 Rz 34 mwN).

Fallbezogen wurde die Zulässigkeits-voraussetzung der horizontalen Rechtswegerschöpfung nicht erfüllt, weil der Antragsteller die behauptete Konventionsverletzung in seinen Rechtsmitteln (ON 36) gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 2. April 2013 (ON 31) nicht eingewendet hat.

Die Behauptung, die Rechtswegerschöpfung sei hier mit Blick auf § 126 Abs 4 letzter Satz StPO aufgrund fehlender Effektivität des Rechtswegs nicht geboten, geht schon im Ansatz fehl, weil Sachverständige nach der genannten Norm im Hauptverfahren „nicht bloß“ mit der Begründung, dass sie bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewesen sind, als befangen abgelehnt werden können. Dem hier vorgebrachten Einwand, der Sachverständige sei aufgrund seiner Tätigkeiten in parallel geführten Zivilprozessen als „Ermittlungsorgan“ anzusehen, steht § 126 Abs 4 letzter Satz StPO nicht entgegen.

Mit dem Vorbringen, aufgrund der Erhebung des Rechtsmittels der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld und der dadurch ausgelösten umfassenden Prüfungspflicht des Oberlandesgerichts wäre er unter dem Aspekt der Zulässigkeit des Erneuerungsantrags nicht verpflichtet gewesen, die Konventionsverletzung im Verfahren ausdrücklich geltend zu machen, verkennt der Antragsteller die Funktion der Zulässigkeitsnorm des Art 35 Abs 1 MRK. In Bezug auf die horizontale Rechtswegerschöpfung dient diese nämlich dazu, dem Staat materiell Gelegenheit zu geben, die behauptete Rechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen. Demgemäß entbindet auch der Umstand, dass die innerstaatlichen Gerichte den Fall von sich aus im Hinblick auf die behauptete Konventionsverletzung hätten untersuchen können oder sogar müssen, den Beschwerdeführer (hier: Antragsteller) nicht von der Verpflichtung der horizontalen Rechtswegerschöpfung ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 5 § 13 Rz 34 mwN).

Ergänzt sei, dass das Oberlandesgericht Graz nach dem ungerügten Protokoll über die Berufungsverhandlung (ON 39) den Sachverständigenbeweis gar nicht aufnahm und demzufolge die weitere Behauptung, dieses Gericht stütze seine Entscheidung auf das gegenständliche Gutachten, ebenso wenig zutrifft (siehe auch folgerichtig ON 40).

Unverständlich ist die zu § 126 Abs 4 letzter Satz StPO geäußerte Anregung, das „Verfahren zu unterbrechen und beim VfGH ein Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten“. Sofern der Antragsteller die Konvention infolge angeblicher Verfassungswidrigkeit des § 126 Abs 4 letzter Satz StPO als verletzt erachtet, wäre er zwecks Erfüllung des Zulässigkeitserfordernisses der vertikalen Rechtsweg-erschöpfung nämlich verpflichtet gewesen, eine entsprechende Anregung an das Oberlandesgericht Graz (Art 89 Abs 2 zweiter Satz B VG) zu richten (11 Os 132/06f, SSt 2007/79; RIS Justiz RS0122737; Reindl Krauskopf , WK StPO § 363a Rz 32).

Hinzugefügt sei, dass der Oberste Gerichtshof Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 126 Abs 4 letzter Satz StPO erst jüngst wiederholt und mit jeweils ausführlicher Begründung ausdrücklich verneint hat (12 Os 90/13x, 11 Os 51/13d; 13 Os 55/13g, 56/13d; vgl schon 13 Os 141/11a, 160/11w und 14 Os 2/12v).

Zum Einwand fehlender Waffengleichheit (Art 6 MRK) sei ergänzt, dass der Sachverständige DI Dr. P***** im Hauptverfahren keineswegs von der Staatsanwaltschaft, sondern prozessordnungskonform (§ 126 Abs 3 erster Satz StPO) vom Gericht (dem er gemäß § 126 Abs 1 erster Satz StPO fehlendes Fachwissen substituierte) beigezogen worden ist. Der Umstand, dass zuvor schon die Staatsanwaltschaft als im Übrigen ihrer verfassungsrechtlich normierten (Art 90a B VG) Stellung als Organ der ordentlichen Gerichtsbarkeit (hiezu eingehend Koenig/Pilnacek , WK StPO §§ 104 108 Vorbem Rz 24) entsprechend wie das Gericht zur Objektivität verpflichtete (Art 90a B VG, § 3 StPO; treffend Jarosch , Sachverstand und Voreingenommenheit, RZ 2013, 53) Leiterin des Ermittlungsverfahrens (§ 20 Abs 1 StPO) Aufträge an den genannten Sachverständigen erteilt hatte, vermag hieran nichts zu ändern.

Einer aus der Prozessstellung der Staatsanwaltschaft als einerseits Leiterin des Ermittlungsverfahrens und andererseits Partei des Hauptverfahrens in der Literatur mitunter als gegeben erachteten Anscheinsproblematik (vgl Hinterhofer , WK StPO § 125 Rz 6) wird wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach dargelegt hat durch die Rechte des Angeklagten, den Sachverständigen unter Beiziehung einer Person mit besonderem Fachwissen zu befragen (§ 249 Abs 3 erster Satz StPO) und unter den Voraussetzungen des § 127 Abs 3 erster Satz StPO die Bestellung eines weiteren Sachverständigen zu begehren, hinreichend begegnet (13 Os 141/11a, 160/11w; 14 Os 2/12v; 12 Os 115/12x; 11 Os 51/13d; 13 Os 55/13g, 56/13d; RIS Justiz RS0120023 [T4]). Die Sicht, dass § 126 Abs 4 letzter Satz StPO mit Art 6 Abs 3 lit d MRK vereinbar ist, wird in der Lehre geteilt ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 370; vgl auch Grabenwarter in Korinek/Holoubeck B VG, Art 6 MRK Rz 98 101; keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken auch von Kirschenhofer in Schmölzer/Mühlbacher , StPO [insbesondere] § 126 Rz 45 sowie in den jüngsten Auflagen der StPO Kommentare Fabrizy , StPO 11 [insbesondere] § 126 Rz 15 und Seiler , StPO 13 [insbesondere] Rz 434; aM Mayer/Haidenhofer , Der Sachverständige als Gehilfe des Staatsanwalts im Strafprozess, AnwBl 2014, 100 sowie nunmehr Ratz , Zur Reform der Hauptverhandlung und des Rechtsmittelverfahrens, ÖJZ 2010, 387 [394 f], die allerdings auf Art 90a B VG nicht eingehen).

Auch der EGMR hat erst unlängst ausgesprochen, dass die vorliegende Verfahrenskonstellation (Bestellung eines Sachverständigen durch das Gericht, Möglichkeit der Befragung dieses Sachverständigen durch den Angeklagten und seinen Verteidiger unter Beiziehung eines Privatgutachters) im Einklang mit den Garantien des Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d MRK steht (EGMR 4. 4. 2013, 30465/06, C.B./ Österreich; siehe auch die Besprechung dieser Entscheidung im Erlass des BMJ vom 16. Jänner 2014 über die Rechtsprechung des EGMR im Jahr 2013 zu Menschenrechtsbeschwerden aus Anlass österreichischer strafgerichtlicher Verfahren, BMJ S510.701/0001 IV 4/2014, 3 f).

Der Erneuerungsantrag war somit in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur gemäß § 363b Abs 2 StPO in nichtöffentlicher Sitzung als unzulässig zurückzuweisen.

Rechtssätze
1
  • RS0129286OGH Rechtssatz

    02. März 2017·3 Entscheidungen

    Wenn ein Sachverständiger bei einem sehr allgemeinen Anfangsverdacht von der Staatsanwaltschaft mit nicht weiter determinierten Erhebungen zu einer Straftat, insbesondere ohne Nennung eines konkreten Beweisthemas beauftragt wird und das vorhandene, nicht ohne weiteres aussagekräftige Beweismaterial aufarbeitet und auf ein strafrechtliches Verdachtssubstrat hin untersucht, dann mutiert er von einem unabhängig agierenden Experten, der bei bestehender konkreter Verdachtslage zu einem Problemfeld mit Fachwissen Stellung nehmen soll, zu einem verlängerten Arm der Ermittlungsbehörden und damit funktional zu einem Organ der Ermittlungsbehörde. Je unbestimmter daher der Anfangsverdacht, je unkonkreter der Auftrag der Staatsanwaltschaft an den beigezogenen Experten, also je weniger der Beweiserhebungsauftrag den Kriterien des § 55 StPO entspricht, desto eher muss die darauf aufbauende Befundaufnahme inhaltlich als Ermittlungstätigkeit des beauftragten Gutachters gewertet werden. Insoweit wäre der solcherart eingesetzte Sachverständige mit einem „Anzeigegutachter“ vergleichbar. Wer in derselben Strafsache als Kriminalbeamter tätig war, darf nicht später als Staatsanwalt agieren und umgekehrt. Wer daher inhaltlich als Ermittlungsorgan gewirkt hat, darf darauf folgend nicht als Sachverständiger einschreiten; vielmehr bewirkt eine solche funktional als Ermittlungsorgan erfolgte Vorbefassung als Befangenheitsgrund. Auf dieser Basis besteht für das erkennende Gericht eine Pflicht, das im Ermittlungsverfahren durch einen von der Staatsanwaltschaft bestellten, nicht an die Grundsätze des § 55 StPO gebundenen, einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt erst ermittelnden Experten hervorgerufene prozessuale Ungleichgewicht durch die Bestellung eines neuen Sachverständigen für das Hauptverfahren auszutarieren und damit ein faires Verfahren zu sichern. Solcherart bestehen keine verfassungsmäßigen Bedenken gegen § 126 Abs 4 letzter Satz StPO.